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CARL COERPER
Die Bedeutung des fiktionalen Denkens
für die medizinische Wissenschaft


"Eine Erfindung der Erklärungsforschung ist beispielsweise der Normalmensch. Anatomie und Physiologie erfordern dieses abstrakte Gebilde gedanklicher Arbeit. Wie der Normalmensch, so ist ferner jeder Durchschnittsbegriffe einzelner Teile des menschlichen Organismus eine Erfindung, die durch Abstraktion gefunden ist, so das typisch  normale  Herz, Gehirn, die typisch  normale  Lunge, Leber, Niere."

"Man spricht von klassischen Krankheitsbildern und versteht darunter Symptomgruppen, die vollzählig oder gleichwertig in der Wirklichkeit nicht vorkommen. Der Krankheitsbegriff selbst ist ein Gebilde, das als eine Erfindung angsehen werden muß. Denn eine Krankheit ansich existiert nicht. Wäre sie etwas Gegenständliches, dann deckte sie sich beispielsweise mit dem Bazillus, der sie erregt, den wir nach seinen Eigenschaften zuständlich erforschen können. Nun sind die Krankheiten aber nichts Gegenständliches, sondern durch Verallgemeinerungen gewonnene Bilder von Vorgängen. Daß jeder Sonderfall einer Krankheit durch seine besonderen Bedingungen vom klassischen Krankheitsbild abweicht, ist eine alltägliche ärztliche Erfahrung. Man darf wohl sagen: wer in jedem Krankheitsfall den Beweis für die Wirklichkeit der klassischen Krankheitsbilder sieht, dessen Beobachtung entgeht Wesentliches, der begeht den Fehler, daß er wohl das Ideelle zu erkennen vermag, nicht aber das Reale."


    Inhaltsübersicht

    1. Im Verlaufe empirischer Forschung wird die medizinische Wissenschaft endlich doch auf erkenntnistheoretische Probleme geführt, so vor allem auf die beiden Probleme:

      a) Warum entsprechen die in der Medizin aufgestellten (erdachten) Regeln nicht der Tatsächlichkeit?

      b) Weshalb ist eine Tatsachensammlung ohne eine erklärende Regelmäßigkeit zwecklos?

    2. Die mögliche Lösung dieser Probleme wird gegeben anhand einer zunächst lediglich formal bestimmten Einteilung der ärztlichen Forschung nach ihren verschiedenartigen Inhalten in Zustandsforschung, Vorgangsforschung und Erklärungsforschung (lediglich zum leichteren Verständnis und zur Einführung so benannt). Die medizinische Wissenschaft hat versucht, nur mit den ersten beiden Formen auszukommen. Das ist deshalb unmöglich, weil die dritte Form von den beiden ersten niemals getrennt werden kann.

    3. Die Erklärungsforschung umfaßt die von VAIHINGER gefundene fiktionale Form unseres Denkens.

    4. Es wird der Nachweis geführt, daß Erklärungen (in diesem Sinne aufgefaßt) bereits in der Medizin gebräuchlich sind, ohne daß man sich dessen in vollem Maße bewußt gewesen ist. Erklärungen (Fiktionen) sind u. a. der Normalmensch, die Normalzelle, die "klassischen" Krankheitsbilder.

    5. Die Betrachtungsweise eines Krankheitsfalles von den drei Gesichtspunkten: der speziellen Krankheit, der besonderen Konstitutionsform und der vorliegenden psychischen Komponente aus ist lediglich eine gedankliche Trennung mit dem Zweck der Erklärung einer komplexen Erscheinung.

    6. An weiteren Beispielen fiktionalen Denkens, an den gegensätzlichen Anschauungen der Zellularpathologie und der Humoralpathologie, des Mechanismus und des Vitalismus, der Allopathie [Heilverfahren, bei dem Mittel eingsetzt werden, die eine der Krankheitsursache entgegengesetzte Wirkung haben - wp] und Homöopathie wird gezeigt, wie die Unkenntnis des fiktionalen Einschlags unseres Denkens zu Scheinproblemen führen muß. In Verbindung mit diesen Ausführungen wird dargelegt, daß die Fiktionen die "heuristischen Hypothesen" enthalten, ferner, wie die Fiktionen wissenschaftlich wertvoll bleiben.

    7. In Ansehung der fiktionalen Bedingtheit unseres Denkens bleibt jede Erkenntnis eine relative. Die Kenntnis des Fiktionalen befreit die Medizin wirklich erst von ihren metaphysischen Fesseln.
Nachdem für längere Zeit alle erkenntnistheoretisch-methologischen Fragen aus dem wissenschaftlichen Betrieb der Medizin ausgeschaltet waren, schein sich seit den letzten Jahren vor dem Krieg eine weniger energische Ablehnung aller Probleme, die mit philosophischen Arbeiten in Zusammenhang stehen, vorbereitet zu haben. Einen einzigen Umstand hierfür ursächlich aufzuweisen, ist wohl nicht möglich. Doch scheint ein Begriff der klinischen Medizin von wesentlichem Einfluß gewesen zu sein: der Begriff der Konstitution.

Man hat versucht, besonders in der Zeit der bakteriologischen Ära, einige Gebiete der Klinik exakt gesetzmäßig zu begründen. Dieser Versuch ist mißlungen. Man fand keine Gesetze, sondern nur Regeln, bei denen nunmehr gerade die Ausnahmen interessieren mußten. Die Ausnahmen suchte man zu erklären durch den Begriff der Konstitution. Die Konstitution war die individuelle Komponente des krankhaften Geschehens, die erfahrungsgemäß oftmals gesetzmäßig erwartete klinische Erscheinungen vermissen ließ. Daraus entsprangen praktische und theoretische Schwierigkeiten. Diesen suchte man verschieden zu begegnen.

Die einen leugneten die individuelle Komponente. Sie werden wohl die bakteriologischen, serologischen Dogmatiker genannt. Die anderen suchten in einem Relativismus ihr Heil. Ohne Frage haben die letzteren das Feld behauptet, obwohl sie ihre Waffen längst nicht immer geschickt und vollständig ausgenutzt haben.

Lehnt man die Einseitigkeit, die jeder Dogmatismus mit sich bringt, zunächst ab und nimmt, in bescheidener Wertung der bisherigen Ergebnisse, den Relativismus an, der jede Erscheinung als eine besondere Gestaltung variabler Verhältnisse auffaßt, so ist dennoch wenig gewonnen. Die Verhältnisbeziehungen, die das organische Leben voraussetzt, sind praktisch unendliche. Es besteht deshalb die Gefahr, daß über der Fülle der erkennbaren Relationen die klare Einsicht und Ordnung, kurz gesagt die konstruierbare Regelmäßigkeit, nach der sich jene zu richten scheinen, vergessen wird. Es ist also eine Notwendigkeit, daß wir einen gewissen Dogmatismus wiederum in unsere Gedankenoperationen aufnehmen.

Aus diesen Irrwegen muß ein Ausweg gesucht werden. Dieser Ausweg liegt nun nicht in einer weiteren Erkenntnis des Tatsächlichen (d. i. der Zustände und Vorgänge des Organischen). Im Gegenteil, jede neue Kenntnis von Tatsächlichem erschließt weitere Probleme, die vorher noch nicht bekannt waren. So notwendig zunächst und vor allem die Erforschung des Tatsächlichen ist, zu irgendeinem endgültigen Schlußresultat kann sie nicht kommen, welches die oben erwähnten Irrwege auf einen Ausweg hinzuleiten vermöchte.

Es ist von großer Wichtigkeit, einzusehen, daß hier erkenntnistheoretische Fragen vorliegen, deren Kenntnis zu einem gedeihlichen Fortgang wissenschaftlicher Arbeit durchaus notwendig ist.

Das Problem ist dieses: Weshalb deckt sich die erdachte Regelmäßigkeit nicht mit der Tatsächlichkeit? Weshalb ist andererseits eine reine Tatsachensammlung in Form von Relationen ohne erklärende Regelmäßigkeit zwecklos?

Exemplifizierend könnten wir auch fragen: Warum erkrankt nicht jeder, der einer tuberkulösen Infektion ausgesetzt ist, an Tuberkulose? Warum ist andererseits eine Beschreibung pathologisch-anatomischer oder klinischer Symptome ohne Deutung durch eine gewisse Regelmäßigkeit, ohne Abstraktion von Einzelheiten zu einer Diagnose, wie beispielsweise der der Tuberkulose nicht zu gebrauchen?

Die erste Frage könnte etwa folgendermaßen beantwortet werden: Die gedanklich gebildete Voraussetzung unserer Frage, das Gesetz, die Regel: der Tuberkelbazillus bringt die tuberkulöse Erkrankung hervor, bestätigt sich in dieser Form nicht. Die zweite Frage könnte etwa folgendermaßen beantwortet werden: Die Beschreibung von Tuberkulosefällen setzt bereits eine gedankliche Vergleichung, Zuordnung, Trennung der Erscheinungen nach Gesichtspunkten voraus. Diese Gesichtspunkte sind die Vorstufen für Gesetze und Regeln. Die Regeln ihrerseits werden aber, wie oben dargelegt, in der Wirklichkeit nicht bestätigt. Die Wirklichkeit wird nur durch Regeln erklärt, nicht erkannt.

Diese antithetische Gegenüberstellung kennzeichnet die Probleme als erkenntnistheoretische. Eine unübersehbare Fülle von medizinisch-wissenschaftlichen Differenzen ließe sich auf ähnliche Antithesen zurückführen. Eine absolut befriedigende Auflösung dieser Antithesen, die für die Theorie wie für die Praxis der Medizin wünschenswert wäre, ist nicht möglich; wohl aber ist die Erkenntnis, daß diese Antithesen sich notwendigerweise immer wieder einstellen, möglich und wertvoll. Die Erkenntnis, die nötig wäre, ist diese, daß das Denken seinen Inhalt, sein Material verändern muß, will es anders fortschreiten. Mit anderen Worten: es ergibt sich immer wieder eine Differenz zwischen Tatsache und Erkenntnis. Die Erkenntnis ist immer allgemein, die Tatsache immer individuell. Dies ist in der Philosophie seit langem bekannt.

Es ist nun aber ein wesentlicher Fortschritt, daß, nicht lange vor dem Krieg, diese Fragen durch die "Als-Ob-Philosophie" VAIHINGERs eine ganz neuartige Beleuchtung gefunden haben. VAIHINGER sagt: Wir bilden in unserem Denken willkürliche Annahmen, Fiktionen, derart, daß wir sagen können, wir denken immer so, als ob das Denken dem Wirklichen entspricht. Vergessen wir dies nicht, so behalten unsere Erkenntnisse ihren, allerdings beschränkten, Wert. Übersehen wir aber diese Einschränkung, dieses "als ob", so verfallen wir dem Irrtum. Sagen wir: Es scheint so, als ob der Tuberkelbazillus jeden, der ihm ausgesetzt ist, affiziert; sagen wir ebenso: Es scheint so, als ob eine beschriebene Gruppe von Erkrankungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit den Tuberkelbazillus zur Voraussetzung habe, so vermeiden wir den Irrtum und bleiben im Bereich exakter Forschung.

Freilich verlieren wir hiermit die Möglichkeit absoluter Erkenntnisse. Absolute Erkenntnis erstrebt die Medizin aber, seitdem sie beobachtend und experimentell forscht. An anderer Stelle wird versucht werden, die erreichbaren exakten Grundlagen ärztlicher Erkenntnis aufzuweisen. Sie bestehen in einer Zustandsforschung und einer Vorgangsforschung. Zur Zustandsforschung wird die beschreibende Darlegung von beobachteten Verhältnisbeziehungen gerechnet; zur Vorgangsforschung die in der Form des Bedingungsschlusses gegebenen experimentellen Ergebnisse der Forschung. So spröde diese verwickelten Verhältnisse von Wissenschaftspsychologie und Erkenntnistheorie für eine klärende Darlegung auch sein mögen, eins springt indessen dennoch in die Augen, daß in diesen beiden Formen der Forschung notwendigerweise eine dritte Form miteingeschlossen ist: die Erklärungsforschung. Die Erklärungsforschung nun ist bisher übersehen worden. Man hat sich, ohne es zu wissen, um Erklärungen gestritten, in dem Glauben, sich um exakt bestimmbare Verhältnisse zu streiten. Es ist deshalb überaus wichtig, dem etwas nachzugehen, was als Erklärungen in der Medizin zu gelten hat.

Eine Erfindung der Erklärungsforschung ist beispielsweise der Normalmensch. Anatomie und Physiologie erfordern dieses abstrakte Gebilde gedanklicher Arbeit. Wie der Normalmensch, so ist ferner jeder Durchschnittsbegriffe einzelner Teile des menschlichen Organismus eine Erfindung, die durch Abstraktion gefunden ist, so das typisch  normale  Herz, Gehirn, die typisch  normale  Lunge, Leber, Niere. Man hat sich unmerklich schon so weit in den Relativismus hineingefunden, daß man die Organe meist in Relation zueinander stehend auffaßt. Doch wird man beim Nachdenken der Entstehung dieser unserer Erkenntnisformen auf Figuren zurückkommen, die der anatomische Atlos der ersten Semester oder ein gutes Phantom dem Gedächtnis eingeprägt hat. Diese Gebilde sind, soweit sie der Natur entnommen sind, im Sinne einer mittleren Konstanten korrigiert, die teils mehr, teils weniger von der Wirklichkeit abgerückt ist. Das nämliche findet bei der die Organe zusammensetzenden Einheit, der Zelle statt. Hier tritt meines Erachtens der schöpferische Gedanke noch deutlicher zutage. Ganz allgemein von der Zelle morphologisch Aussagen zu machen, ist nur möglich, wenn man eine Idealzelle konstruiert, wie sie jedem Mediziner geläufig ist. Wie schwer es ist, diesen künstlichen Begriff mit allen Eigenschaften, die Zellen überhaupt haben, auszustatten, ist allgemein bekannt. Und doch hat man - und meines Erachtens nicht nur didaktisch - diese Abstraktion sehr nötig. - Jede spezifische Zelle der einzelnen Organe muß nun ihrerseits wiederum idealisiert dargestellt werden. Ohne Frage steht so eine spezifizierte Organzelle der Wirklichkeit näher als die allgemeine Idealzelle. Exakte Wirklichkeit enthält aber auch sie nicht. Die Fülle der Variationen von Zellen im mikroskopischen Bild eines Organs muß jedesmal überraschen. Es ist notwendig, immer wieder die Idealzelle des Organs zum Vergleich heranzuziehen, um erklären zu können. Am Bild der durch Abstraktion gewonnenen Organzelle orientiert sich die Diagnose mittels Beschreibung und Deutung.

Unser Erkennen auf diesen Gebieten besteht also im wesentlichen in unwirklichen Idealbildern.

Geht man auf das Gebiet der Physiologie über, so sind hier anstelle der zu erforschenden Zustände, Vorgänge darzustellen. Auch diese werden, sobald sie wissenschaftlich erfaßt werden sollen, mehr oder weniger idealisiert umgeformt. Die Herzaktion, wie sie als typisch normal bezeichnet wird, findet sich in Wirklichkeit niemals.

Übersieht man das Gebiet der Klinik, so stößt man nicht seltener auf Abstraktionen. Man spricht von klassischen Krankheitsbildern und versteht darunter Symptomgruppen, die vollzählig oder gleichwertig in der Wirklichkeit nicht vorkommen. Der Krankheitsbegriff selbst ist ein Gebilde, das als eine Erfindung angsehen werden muß. Denn eine Krankheit ansich existiert nicht. Wäre sie etwas Gegenständliches, dann deckte sie sich beispielsweise mit dem Bazillus, der sie erregt, den wir nach seinen Eigenschaften zuständlich erforschen können. Nun sind die Krankheiten aber nichts Gegenständliches, sondern durch Verallgemeinerungen gewonnene Bilder von Vorgängen. Daß jeder Sonderfall einer Krankheit durch seine besonderen Bedingungen vom klassischen Krankheitsbild abweicht, ist eine alltägliche ärztliche Erfahrung. Man darf wohl sagen: wer in jedem Krankheitsfall den Beweis für die Wirklichkeit der klassischen Krankheitsbilder sieht, dessen Beobachtung entgeht Wesentliches, der begeht den Fehler, daß er wohl das Ideelle zu erkennen vermag, nicht aber das Reale. Wie weittragende therapeutische Folgen das haben muß, wie der Schematismus als notwendige Folge hieraus erwächst, liegt auf der Hand. Die konsequente Folgerung dieses Denkfehlers ist der Glaube an die Möglichkeit einer Panazee [Allheilmittel - wp]. Die Einsicht, daß es eine Panazee nicht gibt, ist meines Erachtens ursprünglich der Anlaß zur Aufstellung des Begriffs der Konstitution gewesen, der wiederum, wie eingangs berührt, zu einer Revision der gedanklichen Forschung Anlaß gegeben hat.

Man müht sich nun ab, den Begriff der Konstitution einer exakten Forschung zugänglich zu machen. Bleibt man sich dessen bewußt, daß es ein Sammelname ist, der, künstlich gebildet, eine unabsehbare Anzahl von Spezialfällen in sich faßt, so wird man sich davor hüten, ihn, wie vordem den Krankheitsbegriffe, als etwas Zuständliches aufzufassen.

Der begriffliche Charakter von Krankheit und Konstitution wird vielleicht noch deutlicher, wenn man daran erinnert, daß beide in Wirklichkeit bei einem Vorgang verbunden sind, lediglich zum Zweck der Erforschung begrifflich getrennt werden. Man kann und muß einen pathologischen Vorgang sowohl mit dem zugehörigen klassischen Krankheitsbild wie mit dem zugehörigen Spezialfall der Konstitution verbinden, um wirkliche Erkenntnis fördern zu können. So wird es auch wohl praktisch meist gehalten. Der scharf umrissene Krankheitsbegriff kennzeichnet die Beziehungen der Schädlichkeiten (exogener wie endogener Natur) zu den als normal vorausgesetzten Organen und ihren Funktionen, der Konstitutionsbegriff die Beziehungen von der Norm abweichender Typen, die an sich noch nicht unter den Begriff "Krankheit" fallen, zu weiteren Verschiebungen dieser Verhältnisbeziehungen durch die Krankheit.

Die Willkürlichkeit der Trennung dieser beiden Begriffe, die in der Erscheinung immer nur zusammen vorkommen, wird hierdurch klar ersichtlich. Eine komplexe Größe, wie sie jeder krankhafte Prozeß darstellt, erfordert aber eine solche Trennung, will man anders Wissenschaft treiben. Die angeführte Trennung hat sich als zweckmäßig erwiesen. Ob man weitere Gesichtspunkte suchen, weitere Trennungen vornehmen muß, entzieht sich der referierenden Darlegung.

Unerwähnt darf nicht bleiben, daß man, offenbar unter dem Eindruck der Kriegsverhältnisse, bei einzelnen Erkrankungen, besonders auf psychischem Gebiet, dem Willen wiederum besondere Aufmerksamkeit schenkt. Es soll hier nicht in die Frage eingegriffen werden, inwieweit die Psychologie diesen Begriff fordert oder ausschließt. Es wird aber allgemein zugegeben, daß der Wille aufs engste mit anderen psychischen wie physischen Erscheinungen verbunden ist. Meines Erachtens ist deshalb die Beantwortung der Frage, ob man den Willen in der Genese und Symptomatologie von Krankheiten begrifflich verwerten will, nicht davon abhängig, ob man den Willen gemäß seiner begrifflichen Konstruktion restlos in der Wirklichkeit nachweisen kann, sondern davon, ob man durch den Begriff "Willen" Erscheinungen nach einer Seite hin zweckmäßig erklären kann. Dem möchte ich persönlich zustimmen. Weitere Ausführungen hierüber müssen auf später verschoben werden. Bei der Betrachtung pathologischer Prozesse gäbe es also bereits drei Gesichtspunkte, von denen aus man den Erscheinungen gerecht zu werden sucht: zunächst die Krankheit, dann die Konstitution, endlich das psychische Moment in der Form des Willens. Diese Trennung ist eine willkürliche, gewaltsame, sie ist zweckmäßig, brauchbar; ihre Berechtigung muß sich freilich immer erst erweisen. Es hat Zeiten gegeben, wo man nicht in dieser Art trennte; es wird wohl auch Zeiten geben, wo man anders trennen wird.

Es handelt sich hier also um vergängliche Erkenntnisformen. Es wäre unrichtig, in ihnen das Wesentliche der Forschung zu erblicken. Das Wesentliche liegt meines Erachtens in der Zustands- und Vorgangsforschung, nicht in dieser Erklärungsforschung.

Übersieht man die bisherigen Ausführungen, so kann man zusammenfassend etwa folgendes sagen: In der Medizin werden auf den verschiedensten Gebieten Begriffe gebraucht, die bald mehr, bald weniger, jedenfalls aber niemals völlig der Wirklichkeit entsprechen. Sie unterscheiden sich von den Entdeckungen, die gemacht, von den Tatsachen, die gefunden sind, dadurch, daß sie im Gegensatz zu diesen veränderlich sind, der Zweckmäßigkeit unterliegen, mit ihrer Brauchbarkeit stehen und fallen, sich Umänderungen gefallen lassen müssen durch die Tatsachen, die selbst ansich gleich bleiben.

Solche Begriffe nennt VAIHINGER Fiktionen. VAIHINGER erkennt durchaus an, daß Fiktionen verschiedener Grade einer willkürlichen, gewaltsamen Veränderung des Tatsächlichen verursachen können. Wesentlich bleibt nur, daß das Denken unter allen Umständen seinen ursprünglichen Inhalt irgendwie verändern muß.

Das ist auch im medizinischen Denken der Fall. Wenn nunmehr zu weiteren Beweisen hierfür dazu übergegangen wird, andere Fiktionen, die in der Medizin gebräuchlich sind, aufzuzeigen, so ist eine Vollständigkeit unmöglich. Es sollen nur noch einige wenige Fiktionen kurz berührt werden: Fiktionen sind die Lehrgebäude der Zellularpathologie und der Humoralpathologie [Viersäftelehre - wp]. Es ist überaus zweckmäßig, die Zelle als Grundlage aller materiellen Prozesse der Organismen anzusprechen. Die Ordnung der pathologischen wie normalen Zustände nach Maßgabe der Zellverfassung ist wissenschaftlich sehr ergiebig gewesen. Diese Anschaung ist aber die einseitig betonte, isolierte Vorstellung, als ob die Zelle der wesentlichste, einzigste Faktor für das Zustandekommen krankhafter Prozesse sein müsse. Ganz abgesehen davon, daß die Zelle selbst ein überaus kompliziertes Gebilde ist, das einer kausalen Erklärung viel zu viele Möglichkeiten offen läßt, den pathologischen Vorgang im speziellen zu erklären, haben die Entdeckungen der Serologie [Lehre von den Antikörper-Reaktionen - wp] den Anteil des Humor an der Entstehung pathologischer Prozesse derartig aufgedeckt, daß es überaus einseitig wäre, die Serologie gegenüber der Pathologie zurückzustellen. Umgekehrt wäre es ebenso richtig, die Serologie der Zellularpathologie vorzuziehen. Der lange Zeit über diese Frage geführte Streit zeigt, wie die Verkennung des fiktionalen Einschlags unseres Denkens zu Scheinproblemen führen muß. Sind Humoral- und Solidarpathologie [Krankheit als Störung der Körperstruktur - wp] zwei die komplexen Größen der organischen Prozesse verschiedenartig, in sich aber folgerichtig, unter Betonung einer Sondererscheinungsform (d. i. der Zelle, bzw. des Chemismus des Humor [der Säfte - wp]) erklärende Schematismen im Sinne unserer obigen Darlegung, so gilt es, beide zu fördern, um beide zu Resultaten zu führen, die in Summa der verwickelten, vielgestalteten Wirklichkeit näher kommen. Ist aber die Lehre von der Zelle als dem Elementarorganismus das korrekte, gedankliche Abbild der Wirklichkeit, so ist der Streit ein berechtigter. Nach dem Tatsachenmaterial der heutigen Medizin ist die Zelle  nicht  der ausschließliche Faktor pathologischer Zustände. Dies anzuerkennen, d. h. den Tatsachen ihr Recht lassen, ist sehr viel leichter, wenn man eingesehen hat, daß die Zellularpathologie die angeführten fiktionalen Gedanken in ihren dogmatischen Grundlehren enthält, als wenn man sich dies nicht vergegenwärtigt. Das Entsprechende gilt für die Serologie. Die Erkenntnis des fiktionalen Beitrags zu jedem wissenschaftlichen Denken würde den Fortschritt ungeheuer erleichtern. Es wäre möglich, daß der Dogmatismus hinfällig würde, der in Verkennung unserer erkenntnistheoretischen Bedingtheit den Fortschritt so leicht hemmt. So wichtig die Erklärung vorübergehend ist, so ist sie doch nicht das Wesentliche und Bleibende der Forschung. Unvergänglich ist nur eine richtige Beobachtung von Zuständen und ein wiederholbares Experiment bei Vorgängen.

Ein weiteres Beispiel fiktionalen Denkens in der Medizin ist die Seitenkettentheorie EHRLICHs. Die Grundlage derselben ist die Konstitutionsformel. Diese ist eine willkürliche Annahme, deren Tatsächlichkeit in der Erscheinung noch niemand gezeigt hat. Es bleibt durchaus offen, ob dies in irgendeiner Art nicht doch noch möglich wird. Jedenfalls ist der Gedanke, der sich an dieses formale Bild, das erfunden (nicht entdeckt) ist, anschließt, ganz gleichgültig, ob er sich materiell bestätigt oder nicht, äußerst fruchtbar gewesen. Wir sehen also heute ein großes Gebiet medizinisch-wissenschaftlicher Forschung vor uns, das sich auf einer rein gedanklichen Basis gründet. Man hat diese gedanklichen Wegweiser heuristische Hypothesen genannt. Daß es sich hier nicht um Hypothesen handelt, d. h. um eine Darlegung als wahrscheinlich erkannter Regelmäßigkeit von Vorgängen, sondern in erster Linie um gedankliche Gebilde, Erfindungen, soll an anderer Stelle ausführlicher gezeigt werden. Wenn man sachlich aussagen soll, was denn die Serologie gefunden hat, so ergeben sich Hypothesen, d. h. wahrscheinliche Folgebeziehungen, die sich auf ganz andere chemisch-physikalische Befunde stützen als auf die theoretische Voraussetzung derselben, die chemische Konstitutionsformel. Heuristische Annahmen sind echte Fiktionen. Der Anteil des Tatsächlichen an diesen willkürlichen Gebilden ist verschieden groß, in diesem Fall zunächst auffallend klein.

Bei einer anderen Frage ist die Kenntnis des Fiktionalen von grundsätzlicher Bedeutung. Die Ablehnung der Homöopathie wird in einer Weise betrieben, die meines Erachtens den diesbezüglichen Fragen meist nicht an entscheidender Stelle begegnet. Die Grundthese der Homöopathie ist diese: Die Reaktionen des Organismus auf pathologische Reize sind zweckmäßige, also heißt heilen, diese Reaktionen zu steigern. Zweckmäßigkeit ist indessen kein Begriff, der in der Wirklichkeit nachzuweisen ist. Er ist ein Begriff des reinen Denken, der Kernbegriff des Fiktionalen. Wenn man eine Funktion zweckmäßig nennt, so unterlegt man ihr willkürlich etwas, was ihr durchaus fremd ist. Zweckmäßig bzw. unzweckmäßig sind unsere Gedanken, niemals aber Tatsachen. Die wissenschaftliche Kritik der Homöopathie hat also derart vorzugehen, daß sie beobachtend und experimentell Zustände und Vorgänge des Organismus zu erfassen versucht. Dabei wird sich erweisen, ob tatsächlich durch eine Steigerung pathologischer Prozesse mit Wahrscheinlichkeit eine Abnahme derselben zu erreichen ist, d. h. ob die Fiktion zweckmäßig ist, die krankhaften Reaktionen als Heilfaktoren aufzufassen. Dieser Beweis scheint nicht möglich zu sein. Danach müßte jene Fiktion als eine unzweckmäßige für unser wissenschaftliches Denken fallen gelassen werden. Sie wäre einer unwissenschaftlichen Fiktion gleich.

Solche unwissenschaftlichen Fiktionen werden auch Spekulation genannt. Da jedes Denken bis zu einem gewissen Grad der Spekulation mittels Phantasie bedarf, so muß also prinzipiell das wissenschaftliche Denken durch einschränkende Bestimmungen in seinem fiktionalen Teil begrenzt werden. Wie dies möglich ist, soll in der Darlegung über Zustands- und Vorgangsforschung für die Medizin versucht werden. Diese Darlegung wird den Nachweis führen, wie sich das Denken in der Wissenschaft an die Tatsachen (Zustände und Vorgänge) binden muß. Die Geschichte der Medizin ist voll von Beispielen dafür, daß jedesmal, wenn diese Bindung gelockert oder gelöst wurde, die Spekulation überwucherte.

Es ist notwendig, noch eine wesentliche Fiktion des medizinisch-wissenschaftlichen Denkens aufzuführen. Das ist der Mechanismus als Anschauungsform allen Geschehens. Die mechanistische Auffassung hat sich als sehr zweckmäßig erwiesen. Es steht zu wünschen, daß sie konsequent auf allen Gebieten durchgeführt wird. Es ist nun interessant, zu sehen, daß sich vor allem in der Psychiatrie, aber auch, wie erwähnt, in der inneren Medizin eine Bewegung geltend macht, die neben dem Mechanismus noch andersartig gestaltete Funktionen kennt. Man versucht, das Seelenleben dem Mechanismus der festen Masse zu entziehen und eigenen Gesetzen, vor allem der Teleologie, folgen zu lassen. Das erscheint mir durchaus nicht unmöglich. Nur schließt es jenes nicht aus.

Daß der Mechanismus tatsächlich manches Problem des Organischen nicht vollständig und befriedigend aufklärt, das zeigen die ernsthaften Versuche der Vitalisten, diesem Mangel abzuhelfen. Diese Versuche gelingen freilich nicht; denn der Vitalismus ist der Versuch, mechanistische und teleologische Anschauungsweise vollständig zur Deckung zu bringen. Das ist unmöglich, da beide von verschiedenen, wie mir scheint, gleicherweise berechtigten Voraussetzungen ausgehen. Der Vitalismus in dieser Form ist sogar wissenschaftlich unzweckmäßig, d. h. eine leere Spekulation, da er das noch Unerforschte lediglich durch eine Benennung, z. B. Lebenskraft, Dominante, meint sachlich geklärt zu haben. Es mischt sich in ihm Tatsächliches und Fiktionales, letzteres als solches unerkannt, zu einer Einheit. Das muß Unklarheit mit sich bringen. Die Vitalismuslehren sind typische unwissenschaftliche Fiktionen, wie sie die Spekulationen der frühen Medizin darstellen; sie sind unzweckmäßig und lassen sich deshalb nicht als wissenschaftliche Annahmen rechtfertigen.

Die von uns gegebenen Darlegungen des fiktionalen Denkens in der Medizin bedingt nun freilich folgenden gewichtigen Umschwung im gesamten Wissenschaftsbetrieb: durch Denken ist keine absolute Wirklichkeitswahrheit zu gewinnen. Unser Denken gestaltet die zu erkennende Welt um. Jede Erklärung enthält ein "als ob", d. h. die Annahme, als ob das Objekt durch die gegebene Gedankenform erklärt werde. Und doch kommt das Denken nur immer bis zu einem gewissen Grad der Wirklichkeit nahe. Das Reich der Gedanken bietet die Möglichkeit unendlich vieler ideeller Zuordnungen, das Reich der Tatsächlichkeit lediglich eindeutig bestimmte Verhältnisbeziehungen.

Diesen Unterschied zu machen, lehrt die Erkenntnis des fiktionalen Einschlags unseres Denkens.

Noch weiter führt das Fiktionale: es ermöglicht, was mir überaus wichtig erscheint, die Trennung der Weltanschauungsfragen von den Fragen der exakten Wissenschaft. Es ist hier nicht der Ort, das nachzuweisen. Der Mediziner kann die verschiedensten allgemeinen Weltanschauungen vertreten. Die Weltanschauung kennzeichnet ihn als Arzt und Mensch. Als Mediziner aber hat er die Begrenzung und Einseitigkeit des wissenschaftlichen Betriebes mit dem Verzicht auf absolute Wahrheit zu ertragen. Es würde sehr viel Kraft, die der Tatsachenforschung nottut, gespart werden, wenn man sich darüber klar wäre, was an der Wissenschaft lediglich fiktional ist. In diesem Sinne berührt die Erkenntnis des Fiktionalen wie eine Befreiung für die Wissenschaft.

Die Philosophie hat oftmals die Medizin in ihre metaphysische, ontologische Fessel geschlagen. Die Philosophie des Fiktionalen zerstört diese metaphysischen Formen und eröffnet gangbare Wege zu einer Erkenntnis, die sich, wenn auch nicht als absolute, so doch als brauchbare erweist. Eine derartige Erkenntnis ist dem Tatbestand nach heute das Ergebnis aller unserer Arbeit. Was bleibt, sind die Ergebnisse der Zustands- und Vorgangsforschung. Diese Forschungsform liegt für die Medizin in der Richtung dessen, was man "das quantitative Denken" (LUDOLF von KREHL) genannt hat. Den Weg zu diesem bleibenden Wertvollen eröffnet aber die Erkenntnis des Fiktionalen, die bewußte Benutzung dieser bisher noch nicht entdeckten Denkform.
LITERATUR - Carl Coerper, Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die medizinische Wissenschaft, Annalen der Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1919