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LUDWIG STEIN
Wie entstehen unsere Ideale?

"Ich sehe in Ideen und Idealen die ewigen Schutzmittel der Selbsterhaltung des Menschengeschlechts. Was Lid und Wimper für das Auge, das sind Ideen und Ideale für die Seele. Droht dem Auge von irgendeiner Seite Schaden, so zieht sich der Hemmungsapparat reflektorisch zusammen; droht der Seele des Menschen Schaden, so findet der Mensch in seinen Ideen und Idealen Unterschlupf und Schutz."

"Alle Fiktionen, die sich zu Ideen und Idealen verdichten, sind gleichsam biologische Funktionen zur Höherzüchtung des Typus Mensch. Sie wirken belebend, befruchtend, anspannend und beflügelnd auf den Menschen ein. Die Fiktion ist gerade darum eine "nützliche Funktion", weil sie die Lebensenergien erhöht, die Orientierung in der Außenwelt erleichtert und die Herrschaft des Menschen über die blinde Natur gewährleistet. Oder wie Nietzsche sich prägnant ausdrückt: Wahr heißt: für die Existenz des Menschen zweckmäßig."

"Will man also die ewigen Ideale des Menschengeschlechts mit Nietzsche als «Erfindung vom reinen Geist» und vom «Guten ansich» als «Niedergang-Typus» und «Verfallssymptom» , als «Rachitikerbosheit» und «Dekadenz-Philosophie» oder endlich als «Platonismus fürs Volk» bloßstellen, so begeht man denselben aussichtslosen Windmühlenkampf, den die Moralisten gegen die Instinkte und die Nominalisten gegen die Begriffe seit 2500 Jahren ebenso beharrlich wie vergeblich fortführen."

"Fiktionen und Jllusionen erscheinen nicht mehr als Chimäre, also auch nicht mehr als trügerisch und nichtig, sondern als schöner Schein, als nützliches Spiel unserer Einbildungskraft, als energiefördernde, lebenerhöhende, arterhaltende Funktionen. Fiktionen und Jllusionen sind, mit Hegel-Schopenhauerscher Terminologie zu sprechen, eine List der Vernunft, ein heilsames Narkotikon, ein Gegengift der Natur gegen Trübsal und Schlaffheit, wie sie sich im wirklichen Leben unausbleiblich einstellen."


Der Hallenser Philosoph, HANS VAIHINGER, der Begründer der "Kant-Studien" und "Kant-Gesellschaft", hat neben seinem unvollendeten Kommentar zur "Kritik der reinen Vernunft" ein vollendetes System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit aufgrund eines idealistischen Positivismus ausgebaut, das er als "Philosophie des Als Ob" bezeichnet. In der ersten Auflage hat sich VAIHINGER nur als "Herausgeber" dieses in jeder Hinsicht merkwürdigen Werkes eingeführt, wobei er freilich durchsichtig genug andeutete, daß der Verfasser dem Herausgeber nicht fernsteht. Soeben veröffentlich jedoch VAIHINGER die zweite, wesentlich erweiterte Auflage seiner "Philosophie des Als Ob" und hier bekennt er Farbe. Inzwischen sind nämlich nahezu sechzig Besprechungen des Werkes, darunter ausführliche Würdigungen, erschienen, die dem Verfasser bei aller Kritik im Einzelnen doch in den Hauptzügen zeigten, daß der Sechzigjährige sich der Jugendschrift des 25-jährigen nicht zu schämen braucht. Das non prematur in annum [Man soll ein Manuskript 9 Jahre in der Schublade lassen. - wp] hat VAIHINGER dreifach gehalten, aber seine Jugendgedanken haben inzwischen nicht etwa Rost und Schimmel angesetzt, sondern sie haben durch den Gang der philosophischen Entwicklung Zufuhr und Bereicherung erfahren, so daß der Ergraute sich heute rückhaltlos zu seiner wissenschaftlichen "Jugendsünde" bekennen durfte. Die von Amerika ausgehende pragmatische Bewegung von WILLIAM JAMES und der geistesverwandte "Humanismus" des Oxforder Philosophen F. C. S. SCHILLER haben vielleicht den Anstoß zum Bekennermut VAIHINGERs gegeben.

In Tat und Wahrheit geht VAIHINGER mit seinem idealistischen Positivismus die gleichen Wege wie der amerikanische Pragmatismus. Nur kommt VAIHINGER von KANT, LAAS und STEINTHAL her, JAMES von HUME und MILL. Aber ihr Treffpunkt ist: die Nützlichkeit der Fiktion. Oder, wie SIMMEL einmal in meinem "Archiv für systematische Philosophie" die Formel geprägt hat: die Nützlichkeit des Erkennens erzeugt für uns die Gegenstände des Erkennens.

Unser Erkennen setzt sich sein seinen höchsten Ausgestaltungen aus Ideen und Idealen zusammen. Ideen bilden ein System von Begriffen über das, was ist oder sein muß, Ideale hingegen sind ein System von Begriffen über das, was sein soll. Ideen fassen die Gesetze des Geschehens, Ideale die Zwecke menschlichen Handelns zu Formeln zusammen. Von den Ideen oder Naturgesetzen erfahren wir, wie sich der Weltprozeß in Wirklichkeit abspielt, von den Idealen aber erwarten wir Wegleitungen über unser Sollen, d. h. eine Orientierung darüber, wie wir unser Handeln im Einzelnen einzurichten haben. Ideen und Ideale sind die wertvollsten Behelfe, welche die Menschen mit wachsender Geistigkeit hervorgebracht haben, um sich auf der einen Seite in der Außenwelt am sichersten zu orientieren, auf der anderen aber mit den Mitmenschen am schiedlichsten auszukommen. Ohne diese wertvollen Fiktionen wären wir aus dem Tierzustand nicht hinausgelangt. Jede Fiktion von Gehalt und Dauer hat den denkökonomischen Nützlichkeitswert der Auffindung neuer Einsichten. Fiktionen aber, sagt VAIHINGER, sind seelische Gebilde. Aus sich selbst spinnt die Psyche diese Hilfsmittel heraus, denn die Seele ist erfinderisch; den Schatz an Hilfsmitteln, der in ihr selbst liegt, entdeckt sie, gezwungen von der Not, gereizt von der Außenwelt. Selektion und Vererbung spielen dabei eine entscheidendere Rolle, als VAIHINGER anzunehmen scheint. Wie alle Tiere im Kampf um die Existenz ihre Funktionen ausbilden, den Bedürfnissen entsprechend abändern, so daß zuletzt die Funktionen sich ihre Organe schaffen, so hat die Empfindungstätigkeit des Menschen durch ihre weitverästelten Funktionen sich ein besonderes Organ im Zentralnervensystem geschaffen - den Intellekt. Und dieser Intellekt rüstet uns mit den wertvollsten und tauglichsten Waffen für die Behauptung unserer Existenz aus. Unsere Gehirne sind wie unsere Waffenwerkstätten, so unser Arsenal zur Aufbewahrung der besten und tauglichsten Kampfgeräte. Eine solche Waffe bildet nun nach VAIHINGER die "Fiktion", das "Als Ob". Die "fiktive Tätigkeit" gestattet uns, eine Reihe von Hilfsbegriffen zu konstruieren, mittels deren wir den Weltzusammenhang erfassen und vor allem auch unser Verhältnis zur Umwelt regeln. Wertvolle Fiktionen werden mit vollem Bewußtsein als solche gebildet, weil sie uns helfen, entweder die Welt besser zu verstehen, oder unser Verhältnis zur Mitwelt besser zu regeln.

Es ist die Tragik des Lebens, sagt VAIHINGER, daß die wertvollsten Begriffe, realiter genommen, wertlos sind. Wir sagen, so fährt VAIHINGER fort, statt Ideal - Fiktion. Denn auch alle Ideale sind für uns, logisch gesprochen, Fiktionen. Hier möchte ich nun einsetzen und die Fiktionentheorie VAIHINGERs, die sich besonders mit MACH nahe berührt, im Anschluß an meine früheren Darlegungen, auf welche sich VAIHINGER selbst beruft, für die Psychologie der Idealbildung ergänzen und erweitern. Ich sehe in Ideen und Idealen die ewigen Schutzmittel der Selbsterhaltung des Menschengeschlechts. Was Lid und Wimper für das Auge, das sind Ideen und Ideale für die Seele. Droht dem Auge von irgendeiner Seite Schaden, so zieht sich der Hemmungsapparat reflektorisch zusammen; droht der Seele des Menschen Schaden, so findet der Mensch in seinen Ideen und Idealen Unterschlupf und Schutz. Was ich bei VAIHINGER vermisse, ist die kräftige Betonung des biologischen Moments der Fiktion. Alle Fiktionen, die sich zu Ideen und Idealen verdichten, sind gleichsam biologische Funktionen zur Höherzüchtung des Typus Mensch. Sie wirken belebend, befruchtend, anspannend und beflügelnd auf den Menschen ein. Die Fiktion ist gerade darum eine "nützliche Funktion", weil sie die Lebensenergien erhöht, die Orientierung in der Außenwelt erleichtert und die Herrschaft des Menschen über die blinde Natur gewährleistet. Oder wie NIETZSCHE, dem VAIHINGER ein feinsinniges Buch gewidmet hat und auch in der "Philosophie des Als Ob" in einem Anhang über KANT und NIETZSCHE sein Kränzlein windet, sich prägnant ausdrückt: Wahr heißt: für die Existenz des Menschen zweckmäßig.

Nichts ist zweckmäßiger für die Erhaltung der menschlichen Gattung, als ihre Idealbildung. Ideale sind überlieferte Motivquellen für das, was im Interesse des Stammes, der Familie, der Nation, weiterhin des ganzen Menschengeschlechts sein soll. Ihrem Ursprung nach gehen die Ideale ebenso auf Jllusionen zurück, wie Ideen auf Fiktionen, aber ihrer Geltung nach sind Ideen und Ideale die Gestalter und Erhalter des genus humanum [das Menschengeschlecht - wp]. Ohne diese "wertvollen Fiktionen" hätten wir das Tierstadium nicht überschritten. Ohne Fiktionen hätten wir, wie VAIHINGER zeigt, weder eine Mathematik, noch irgendein beschreibende, exakte Wissenschaft, die letztenendes immer wieder auf fiktive Gedankengebilde zurückweisen. Nur mittels solcher Kunstgriffe und Hilfsmittel des Denkens, wie sie das klassifikatorische Verfahren darbietet, gelingt es uns, die drei Reiche der Natur zu katalogisieren und zu inventarisieren. Der dreidimensionale Raum ist eine ebensolche Fiktion wie die Materie und das Atom. In den Idealen sieht VAIHINGER praktische Fiktionen, zu denen er in erster Linie die menschliche Willensfreiheit rechnet.

Für die menschliche Idealbildung kommt jedoch nicht so sehr die bewußte Fiktion, wie die unbewußte Jllusion in Betracht. Jllusionen sind, wie ich im "Sinn des Daseins" ausführe, ein erquickender Labetrunk in der Wüste des Daseins, Balsam gegen die unausbleiblichen Trübnisse und Bitternisse des Lebens. Anhand der bewußten Fiktionen orientieren wir uns über die Welt, anhand der zu Idealen ausgestalteten ehemaligen Jllusionen regeln wir unser Verhältnis zum Leben. Wie wir einige Spezifika gegen körperliche Leiden haben, so sind die Jllusionen, wie ich im genannten Werke auseinandersetze, Spezifika gegen die Leiden der Seele. Sie sind gleichsam ein Heilserum gegen allerlei Ungemacht im menschlichen Zusammenleben, gegen die unausbleiblichen Unbilden gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Die großen Ideale des Menschengeschlechts, wie sie in Sitte, Religion, Recht, Kunst und Wissenschaften ihren reglementierenden Niederschlag gefunden haben, sind selbst nichts anderes, als wegen ihrer Nützlichkeit eingeübte, infolge ihrer arterhaltenden Wirkung zur Denkgewöhnung verhärtete, durch Selektion und Vererbung in Fleisch und Blut des Menschengeschlechts übergegangene ehemalige Jllusionen.

Wie die Begriffe der Menschen nichts anderes sind, als geronnene Empfindungen, Aggregate ehemaliger Sinneseindrücke, so sind Ideale nichts anderes als stabilisierte, weil der Erhaltung der Gattung dienliche, vor dem obersten Forum der menschlichen Gattungsvernunft also bewährte und erprobte Jllusionen.

Die großen Ideale des Menschengeschlechts, als da sind: Heiligkeit, Seelengröße, Gesinnungsvornehmheit, Ehre, Nachruhm, Liebe, Patriotismus, Nationalismus, Weltmacht e tutti quanti [und vieles mehr - wp] - alle diese Granden im Reich menschlicher Idealbildungen haben von der Pike auf gedient, also ihre Begriffskarriere ganz bescheiden als Jllusionsproletarier begonnen. Das soll in einem demokratischen Zeitalter natürlich kein Vorwurf, sondern im Gegenteil ein Ruhmestitel sein. So wenig unsere obersten Begriffe - Natur, Kosmos, Gott, Weltgesetz, Universalharmonie - eine Einbuße an Würde und Geltungswert erleiden, wenn empirische Erkenntnistheoretiker und Nominalisten sie als notwendige Zusammenfassungen menschlicher Gattungserfahrungen hinstellen, aber hinzufügen, daß sie allesamt nur im menschlichen Bewußtsein sind, für menschliches Bewußtsein existieren, daß sie sich ursprünglich anhand konkreter, sinnlicher Einzelerfahrungen herausgebildet haben, ja daß sie, wie VAIHINGER darlegt, von Haus aus nur nützliche Fiktionen sind, ebensowenig geschieht den ewigen Idealen des Menschengeschlechts ein Eintrag, wenn man sie als gefestigte, weil das Gattungswohl fördernde, ehemalige Jllusionen begreift. So wären zum Beispiel Fetischismus und Animismus, Totemismus und beginnender Ahnenkult, Sage und Mythos jene Urfiktionen, aus denen uns Poesie und Religion, weiterhin Kunst und Wissenschaft erblüht sind. Es ist darum grundfalsch, Ideale dadurch zu diskreditieren, in der allgemeinen Wertschätzung herabsetzen zu wollen, daß man sie als Jllusionen oder Fiktionen denunziert. Mögen sich einzelne Motivierungen unserer religiösen, nationalen oder ästhetitschen Ideale als falsch, als logisch unhaltbar erweisen, so sind damit die Ideale selbst noch nicht wegdekretiert. Die wunderbare Gesetzmäßigkeit der Zahlenwelt hat darum nicht aufgehört, eine bindende logische Gültigkeit von uns zu beanspruchen, weil wir jetzt wissen, daß sie von Haus aus bewußte Fiktionen sind, ja daß unser dekadisches Zahlensystem sich an den zehn Fingern der beiden Hände herausgebildet hat. Wie jeder konkrete Ursprung plump ist, so hat auch die Wiege aller Ideale, die Jllusion, etwas Täppisches an sich. Ideale sind aber verfeinerte Jllusionen, zusammenhaltende Prinzipien, Gattungserfahrungen der Vernunft über die tauglichsten, zweckmäßigsten Formen menschlicher Handlungsweisen. Was die Instinkte für das Triebleben, das sind Ideale für das Vernunftleben der Menschen: durch Generationen angesammelte, von Hunderten von Geschlechtern aufgespeicherte und durch Vererbung übertragene Gattungserfahrungen. Instinkte, als aufgesparte Erfahrungen unserer Vorfahren, sind in unseren unbewußt-zweckmäßigen Muskel- und Nerventätigkeiten, in Atmung und Verauung, in Blutkreislauf und Herztätigkeit, in Hunger- und Durstgefühlen, in Trieben und Affekten, kurzum in jenen unserer emotionalen Lebensäußerungen niedergelegt, die wir ohne Bewußtsein zu vollziehen vermögen. was die biologische Gattungserfahrung psychogenetisch im Bau des menschlichen Organismus in der Form von Instinkten, Reflexbewegungen und automatischen Akten hinterlassen hat, das hat uns die psychologische und logische Gattungserfahrung der Menschenvernunft, der denkenden Bearbeitung dieser Erfahrung, in Sprache und Gesang, in Baudenkmälern und Statuen, in Poesie und Wissenschaft, in rechtlichen Institutionen und sozialen Gliederungen, in Geschichte und Literatur, in Religion und Philosophie aufgespart und von Geschlecht zu Geschlecht zur Weiterbildung überantwortet. Instinkthandlungen sind das Produkt erworbener und vererbter Triebe, Vernunfthandlungen das Erzeugnis eines Spiels bewußter Motive. Wie nun Instinkte nichts anderes sind und ihrer Natur nach nichts anderes sein können als verhärtete, geronnene, automatisch gewordene ehemalige Triebe, insbesondere Auszweigungen und Abspaltungen des Gruntriebes der Selbsterhaltung, so sind Ideale nichts anderes als arterhaltende Gesamterfahrungen über das, was sein soll. Allgemeinbegriffe pressen in einen fiktiven Ausdruck zusammen, was wir uns als existierend vergegenwärtigen müssen. Ideale sind zusammenfassende Ausdrücke und überlieferte Motivquellen für das, was - im Interesse der Gattung sein soll, auch wenn es, mit KANT zu sprechen, nie und nirgends ist. Wie sich Instinkte aus Trieben, und Begriffe aus Empfindungen zusammensetzen, so Ideale aus Jllusionen. Instinkte, Begriffe und Ideale sind die große Sparbüchse, in welcher die menschliche Gattung die mühsam erworbene Erbschaft aller vorangegangenen Geschlechter aufbewahrt. Die Einzelillusion sagt jedem Menschen, der ihrer fähig ist, nur, was für ihn gelten soll, auch wenn es in Wirklichkeit nicht so ist, und die Gattungsillusion oder das Ideal sagt uns, wie die Menschheit handeln soll, auch wenn sie nie und nirgends so handelt. Instinkte belehren darüber, wie wir leben, bewußte Fiktionen schreiben uns vor, wie wir denken, Ideal schließlich geben uns einen Fingerzeig, wie wir, der Gattungserfahrung gemäß, handeln sollen. Der Einzeltrieb kann ja jedem Individuum schädlich sein, wie alles Singulare, Zufällige, Momentane: der Instinkt selbst ist es nie. Die einzelne Erfahrung mag falsch sein - Sinnestäuschungen, Phantasmagorien, Halluzinationen können sie fälschen - der Begriff, die Gattungserfahrung täuscht nie. Endlich können einzelne Jllusionen, wie sie uns als Phantome, Schrullen, Ausartungen der Jllusion zu Fancy-Grillen und Gigerltum, zu Mimikry und Snobismus, zu übereifrigem Sport, Hazardspiel, Verträumtheit, Spekulantentum usw. entgegentreten, die von ihnen befallene Persönlichkeit bloßstellen, zu einem unpraktischen esprit vagabond umstempeln oder gar zum leichtlebigen Fant und lockeren Zeisig umformen - Ideale als solche aber verleiten uns nie. Denn mag die einzelne, aus dem Spieltrieb der Menschen naturnotwendig herauswachsende Jllusion eine "bewußte Selbsttäuschung" sein, so kann vielleicht die bewußte Selbsttäuschung eines einzelnen Individuums ihm selbst schädlich sein, weil es Maß und Ziel verfehlt. Aber eine "bewußte Selbsttäuschung", die sich durch Jahrtausende erhält, und die theoretisch geprüft, kritisch zerlegt, skeptisch zersetzt worden ist und dennoch ihr logisches Daseinsrecht behauptet - eine solche "bewußte Selbsttäuschung", die Dauer im Leib besitzt, die Jahrtausenden trotzt und sich gegen alle Anfechtungen des bohrenden Verstandes gefeit zeigt, ist ebenso unzerstörbar, wie der Begriff, dem die Nominalisten, und der Instinkt, dem die Moralisten seit 2500 Jahren ohne jeden Erfolg den Todeskrieg erklären. Wie wir einen Bodensatz von untilgbaren Instinkten und unverwischbaren Fiktionen als unantastbares Erbe der Kulturmenschheit angetreten haben, so besitzen wir einen eisernen Fond von Idealen als säkularisierten Jllusionen.

Will man also die ewigen Ideale des Menschengeschlechts mit NIETZSCHE als "Erfindung vom reinen Geist" und vom "Guten ansich" als "Niedergang-Typus" und "Verfallssymptom", als "Rachitikerbosheit" und "Dekadenz-Philosophie" oder endlich als "Platonismus fürs Volk" bloßstellen, so begeht man denselben aussichtslosen Windmühlenkampf, den die Moralisten gegen die Instinkte und die Nominalisten gegen die Begriffe seit 2500 Jahren ebenso beharrlich wie vergeblich fortführen. Wie sagt doch NIETZSCHE? Zum Menschen sagen: Ändere dich, heißt verlangen, daß sich alles ändert, sogar rückwärts noch ... keine kleine Tollheit das!

Man werfe uns nicht ein, man könne dem Menschen unmöglich zumuten, eine bewußte Selbsttäuschung aufrechtzuerhalten und sie, ungeachtet unseres Einblickes in das Wesen der Fiktion und Jllusion, zu perpetuieren. Der Augenschein lehrt uns, daß wir dies stündlich, ja jede Minute, diesen Prozeß mehr oder weniger reflektiert wiederholen. Sogar im wissenschaftlich geschulten Denken sind Selbsttäuschungen, Einbildungen, Fiktionen und Jllusionen unvermeidlich, vollends im bunten Wechsel unseres täglichen Erlebens.

Von hier aus überblickt man die Höhenzüge des Denkprozesses. Fiktionen und Jllusionen erscheinen, in dieser Beleuchtung gesehen, nicht mehr als Chimäre, also auch nicht mehr als trügerisch und nichtig, sondern als schöner Schein, als nützliches Spiel unserer Einbildungskraft, als energiefördernde, lebenerhöhende, arterhaltende Funktionen. Fiktionen und Jllusionen sind, mit HEGEL-SCHOPENHAUERscher Terminologie zu sprechen, eine "List der Vernunft", ein heilsames Narkotikon, ein Gegengift der Natur gegen Trübsal und Schlaffheit, wie sie sich im wirklichen Leben unausbleiblich einstellen.

Nicht ist, wie Pessimisten oder sogenannte Solipsisten behaupten, die Natur, Gott, Welt, jeder Allgemeinbegriff eine leere Fiktion, sondern jede Idealbildung ist ein Gnadengeschenk der Natur. Sie ist ein Amulett gegen Schwarzseherei, eine Reliquie gegen Hypochondrie und Melancholie, eine wirksame Zauberformel gegen Verschwörungen von Teufeln in Menschengestalt. Die Logik mag die Jllusionen naserümpfend abtun, als eitle Spielerei zerfetzen und in nichts zerstieben lassen; der Wille zum Leben setzt die Jllusionen immer wieder in ihre ewigen Rechte ein. Die äußere Erfahrung spricht allen Jllusionen Hohn, die innere liegt ihnen anbetend zu Füßen; jene verwünscht sie als Gehirnspuk oder Ausgeburt der Hölle, diese preist sie als köstliches Angebinde unserer Allmutter Natur und unseres Allvaters Vernunft. Den seelisch Gesunden munden Jllusionen erfrischend wie Nektar. Wie die Herkranken nach Digitalis, so greifen die Mühseligen und Beladenen nach Jllusionen; wer sich nicht mehr an der belebenden Essenz von Jllusionen aufzurichten vermag, der ist rettungslos verloren.

Nach allem Vorangegangenen dürfen wir aufgrund biologischer und psychologischer Beachtungen das Fazit ziehen, daß der Desillusionisierte die unglücklichste Spezies von Mensch ist, die auf Erden lebt. Wer im Mittelpunkt seiner Vitalität, in seiner Jllusionsfähigkeit getroffen und rettungslos entzwei gebrochen ist, der gehört zu den unheilbar Abgeirrten und Enterbten. Solche Dekadenten haben nicht etwa darum keine Jllusionen, weil sie krank sind, sondern sie sind krank, weil sie keine Jllusionen haben. Was Speise und Trank für die Aufrechterhaltung und Regenerierung des Körpers leisten, das bedeuten die Jllusionen für die Seele. Sobald unser Tagesquantum an Wirklichkeit verbraucht ist, dürstet uns nach perlenden Schaumbläschen, nach herzerfrischenden Jllusionen. Wehe dem, dessen Hausapotheke leer, oder dessen seelischer Habitus gegen dieses wohltätige Narkotikum abgestumpft ist. Deshalb sind Dichter, Denker und Künstler, die uns immer wieder aus dem unerschöpflichen Born ihrer Phantasie neue Jllusionen schaffen, die großen Wohltäter der Menschheit, und die pessimistischen Philosophen, die sie zerstören, sind die Totengräber des Menschengeschlechts. Menschen ohne Jllusionen gleichen dem trägen Kahnfahrer, der sich ohne Steuer und Ruder willenlos dem Tanz und Gekräusel des Wellenspiels überläßt. Ein einziger kräftiger Windstoß, und sein Lebensboot kippt rettungslos um.

Jllusionsfähige Menschen hingegen halten die Ruder in eisenfesten Händen; sie werden nicht von den Wellen des Lebens widerstandslos getrieben, sondern sie steuern mit sicheren Ruderschlägen unbeirrt auf ihr Ziel zu. Und wenn Wind und Welle sich gegen sie zu verschwören scheinen - sie rudern gleichmäßig und unverzagt weiter. Je stärker die Widerstände sind, desto angespannter ist die Energie. Was nun dem einzelnen Ruderer die augenblickliche Jllusion, das sind ganzen Völkern ihre Ideale: die feste Zielsetzung, die zusammenhaltende Einheit, die Gemeinschaft der Kraftanstrengung, das Zusammenstimmen und Zusammenklingen vieler Einzelwillen zur Gemeinsamkeit eines Sozialwillens, Nationalwillens oder endlich eines allumfassenden Menschheitswillens. Mag man uns das Ziel immerhin als "bewußte Selbsttäuschung" vor Augen führen. Never mind! Der Weg ist Selbstzweck, weil er erzieherisch dahin wirkt, den Willen zu stählen, die Tatkraft herauszutreiben, die Spannkraft wach und rege zu halten, eben damit aber die Lebensenergien des Typus Mensch zu wecken und zum Maximum seiner Leistungsfähigkeit anzutreiben. Die Erbsünde, das peccatum originale, ist die Trägheit, die wir bei Wilden und Barbaren als Arbeitsscheu, gleichsam als Trägheitsgesetz der Volkswirtschaft, durchgehend beobachten. Das Wesen der Kultur hingegen ist: Arbeit.

Wir nähern uns mit unseren Kulturzwecken dem tiefsten Sinn der Natur, die ja selbst nichts weiter ist, als ein System von ewigen Energien - ein nicht versiegender Quell an Bewegung und Kraft. Nicht ist, wie HARTMANN sagt, die Kultur die höchste aller Jllusionen, sondern die Jllusionen sind die Voraussetzung allen Aufstiegs von der Barbarei der Trägheit zur Zivilisation durch Arbeit. Die Jllusionen erweisen sich als die große Weltpeitsche, die das Tier zum Menschen, den Wilden zum Barbaren, den Barbaren zum Zivilisierten, diesen wieder zum Kulturmenschen emporgezüchtet hat. Denn ohne Jllusion hätten wir keine Ideale und ohne Ideale kein lebenswürdiges Dasein. Sind Jllusionen durch ihre lebenfördernde und arterhaltende Wirksamkeit im Dienst des Gattungsfortschritts ein unentbehrliches Gefühlsfundament des Lebens, so stellen die aus ihnen erwachsenden Ideale die Tragpfeiler und Querbalken unseres Kultursystems dar.

Daß wir die Erlebnisse der menschlichen Gattung in ihren übereinstimmenden Merkmalen generalisieren und uns diese Generalisationen vielfach als Ideale gegenüberstellen, hat LUDWIG FEUERBACH richtig erkannt. Durch diese ihre menschliche Abkunft werden aber die Ideale in ihrem Geltungs- und Erziehungswert für den Einzelmenschen nicht etwa herabgesetzt, sondern im Gegenteil gesteigert. Wie die Naturgesetze die Verfassungen darstellen, die wir dem Universum gegeben haben, so sind unsere Ideale die Konstitutionen der moralischen Welt; wie die Verfassungen an Ansehen und Würde nicht nur nichts verlieren, sondern alles gewinnen, seitdem wir sie uns in demokratischen Ländern selber gegeben haben, ganz so verhält es sich in der moralischen Welt.

Ohne Ideale keine Kultur. Wer sich für nichts mehr auf der Welt zu erwärmen und zu begeistern vermag, sondern alle Fiktionen, Jllusionen und Ideale für "Traum und Wahnsinn" hält, der gilt uns als Seelenkrüppel und Gefühlsinvalide, dem wir nur ein Wort GOTTFRIED KELLERs mitleidsvoll zurufen können: "er wäre besser ungeboren, denn lebend wohnt er schon im Grab!"
LITERATUR - Ludwig Stein, Wie entstehen unsere Ideale? Nord-Sued, eine deutsche Monatsschrift, 38. Jahrgang, Bd. 147, Oktober-Dezember 1913