p-4ra-4VaihingerSwitalskiCampbellVolkeltCoerperJerusalem    
 
ADOLF LAPP
Versuch über den Wahrheitsbegriff
[mit besonderer Berücksichtigung von Rickert, Husserl und Vaihinger)
[3/3]

"Die Vorstellungswelt kommt zustande, indem sich aus dem Empfindungschaos durch die psychische Attraktion der Elemente die Anschauung bildet, deren Formen schon die Verhältnisse des Ganzen und seiner Teile, des Dings und seiner Eigenschaften sind. Mit Hilfe der logischen Formen verarbeitet die Psyche das Empfindungsmaterial und die Empfindungen gehen innerhalb unserer Psyche rein subjektive Prozesse ein, denen in der Wirklichkeit nichts entsprechen kann."

"Der Inhalt der Eigenschaften wird durch die Sinne geliefert, das Ding, als der Träger der Eigenschaften, ist hinzugedacht; daß jene an den Sinn gelieferten Inhalte Eigenschaften sind, das ist eine Bestimmung, welche jenen Inhalten erst durch das Bewußtsein gegeben wird. Diese Betrachtungsweise ist aber eine ganz willkürliche; durch sie wird die Wirklichkeit gefälscht, der einheitlich gegebene Empfindungskomplex im Denken geradezu verdoppelt."

"Ebenso wie das Absolute, sind alle transzendenten Begriffe, wie der des Dings-ansich, des Unendlichen, des Atoms, der Materie, der Kraft fiktive Gebilde, die weder Spiegelbilder oder Zeichen eines Realen sind, noch irgendeinen theoretischen Erkenntniswert besitzen. Sie sind nur Hilfsmittel, um die Wirklichkeit zu beherrschen und zu berechnen und das Handeln zu ermöglichen."



Vaihingers Philosophie
des Als Ob

Das Wesen der Fiktion

Bei der grundlegenden Bedeutung, die den sprachlichen Untersuchungen neuerdings wieder - besonders von MILL (1) und HUSSERL (2) - zuerkannt wurde, mag es nicht ohne Interesse sein, daß auch VAIHINGER bei seiner Theorie der Fiktionen von der sprachlichen Analyse der Partikelverknüpfung "als ob" oder "wie wenn" ausging (3). Da gerade durch diese sprachliche Untersuchung das Wesen der Fiktion, soweit seine Erforschung von Bedeutung ist für die vorliegende Aufgabe, am klarsten hervortritt und auch der häufig übersehene Unterschied zwischen Fiktion und Hypothese erst im Anschluß an diese sprachliche Analyse die richtige Beleuchtung erfährt, mag eine kurze Untersuchung über die Bedeutung der fraglichen Partikelverknüpfung zur vorläufigen Orientierung über VAIHINGERs Als-Ob-Lehre dienen.

VAIHINGER demonstriert den Sinn der Als-Ob-Betrachtungen u. a. an folgendem Beispiel aus KANTs "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (4):
    "Ich sage nun: ein jedes Wesen, das nicht anders unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Hinsicht wirklich frei, d. h. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso, als ob sein Wille auch ansich und in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde. Nun behaupte ich, daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handelt."
An dieses Beispiel knüpft VAIHINGER folgende Betrachtungen (5): Der kürzeste Ausdruck dieses kantischen Gedankens ist: "Der Mensch muß handeln und in Bezug auf seine Handlungen beurteilt werden, als ob er frei wäre, wie wenn er frei wäre." - Durch das "als" oder "wie" wird eine Vergleichung, eine Gleichsetzung gemacht oder gefordert. "Der Mensch muß handeln, wie freie Wesen handeln." Dieser Vergleich wird aber eingeschränkt durch den zwischen dem "als" und dem "ob" liegenden Nachsatz, der aber nicht ausgesprochen, sondern nur durch die Partikelverknüpfung angedeutet wird. Dieser Nachsatz heißt: "Wenn der Mensch frei wäre, so würde diese oder jene Folge eintreten" und er enthält die über den Vergleich dominierende Bedingung, die zwar besagt, daß aus der Freiheit des Menschen notwendig ein freies sittliches Handeln folgt; zugleich aber durch die konditionale Form, in die sie gekleidet ist, ausdrückt, daß die Freiheit des Menschen etwas für den Augenblick als wirklich Angenommenes, nicht aber etwas wirklich Seiendes ist. In der Partikelverknüpfung "als ob" oder "wie wenn" wird diese Bedingung in Verbindung gesetzt mit der oben hervorgehobenen Gleichsetzung: "Der Mensch muß handeln wie (oder: als) ein freier Mensch." Und es ergibt sich nun aus der Verschlingung des Konditionalsatzes mit der Gleichsetzung die Forderung: eine Sache mit den notwendigen Folgen eines unmöglichen oder unwirklichen Falles gleichzusetzen. (6) Das heißt mit Anwendung auf das Beispiel aus KANTs "Metaphysik der Sitten": Der unmögliche Fall ist die Behauptung, die Menschen sind freie Wesen.

Die notwendige Folge aus dem unmöglichen Fall sind die Gesetze, die mit Notwendigkeit aus der Existenz freier Wesen folgen würden und nach denen die freien Wesen handeln würden.

Die Gleichsetzung geschieht, indem die Gesetze, nach denen die wirklich existierenden Menschen handeln sollen, forderungsweise gleichgesetzt werden mit den Gesetzen, welche aus der angenommenen Existenz freier Wesen notwendig folgen. (7)

Das Resultat dieser Analyse faßt VAIHINGER in den Satz zusammen: "Der Partikelkomplex »als ob« dient dazu, ein vorliegendes Etwas mit den Konsequenzen aus einem unwirklichen oder unmöglichen Fall gleichzusetzen." (8) Das ist zugleich aber auch der Sinn der Fiktion, die in ihrem sprachlichen Ausdruck an jene Partikelverknüpfung gebunden ist, oder zumindest sich nach dieser Partikelverknüpfung auflösen läßt.
    "Der Sinn der wisssenschaftlichen Fiktion (ist)", sagt Vaihinger Seite 255, "daß in ihr eine Annahme gemacht ist, deren vollständige Unwahrheit oder Unmöglichkeit eingesehen wird, die aber nichtsdestoweniger um gewisser praktischer Interessen oder theoretischer Zwecke willen gemacht wird."
Auf das Beispiel von KANT angewendet heißt das also, daß mit der Freiheit des Menschen eine bewußt falsche Annahme gemacht wird, die aber von einem gewissen praktischen Interesse zur Beurteilung der menschlichen Handlungsweise ist.

VAIHINGER verfolgt nun das Auftreten der Fiktion auf fast allen Gebieten der Wissenschaft, doch sollen hier zur Verdeutlichung dessen, was unter dem Wort Fiktion begriffen wird, nur noch zwei Beispiele aus der umfangreichen Sammlung VAIHINGERs herausgegriffen werden. ADAM SMITH (9) hat sich bei der Aufstellung seiner nationalökonomischen Theorie einer Fiktion bedient, indem er alle menschlichen Handlungen aus rein egoistischen Motiven entspringen läßt und dabei alle übrigen Faktoren, die das menschliche Handeln mitbestimmen, wie Staatsräson, altruistische Gefühle, religiöse und sittliche Vorstellungen, von der Betrachtung ausschließt. Er hat die Mannigfaltigkeit psychologischer und sozialer Phänomene reduziert auf ein, wenn auch hervorragendes Motiv, und damit das Gesamtergebnis einer Menge gleichzeitig zusammenwirkender Ursachen gleichgesetzt jenem Ergebnis, das entstehen würde, wenn alle wirtschaftlichen Handlungen der Gesellschaft ausschließlich vom Egoismus diktiert würden. Er hat die wirtschaftlichen Handlungen betrachtet, als ob sie dem Egoismus, als dem einzigen treibenden Motiv, entspringen würden. Mit dieser bewußt falschen, oder zumindest einseitigen Annahme (10) gelang es SMITH, dem Wirtschaftsverkehr durch die Fingierung eines möglichst einfachen Falles eine exakte Form zu geben. Der Fehler oder die Unterlassung, die er dabei beging, wird dadurch korrigiert, daß die einseitige Annahme mit Bewußtsein gemacht wird, also nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden kann, und die bei der willkürlichen Abweichung von der Wirklichkeit vernachlässigten Elemente bei der Aufstellung des endgültigen Resultates berücksichtigt werden. (11)

Deutlicher noch als bei der SMITHschen Theorie, die bei VAIHINGER das Schulbeispiel der Semifiktion ist, tritt das Wesen der Fiktion und die Möglichkeit der Korrektur des bei Aufstellung einer Fiktion gemachten Fehlers bei den reinen Fiktionen der Mathematik hervor. Hier liegt der Fehler nicht nur an einer einseitigen, gewissermaßen tendenziösen Betrachtungsweise, durch die eine Mannigfaltigkeit unter einem Gesichtspunkt schematisiert wird, sondern es wird ein vollkommener Widerspruch in die Rechnung eingeführt, ein wirklicher Fehler begangen, der erst durch einen entgegengesetzten Fehler wieder aus der Rechnung herausgebracht werden kann. Es wird z. B. bei der Definition des Kreises als einer Ellipse, von der die Distanz der Brennpunkte gleich Null ist, ein doppelter Selbstwiderspruch begangen, indem einmal der Kreis als Ellipse, das andere Mal die Distanz der Brennpunkte = 0 genommen wird. Man kann dagegen einwenden, daß weder der Kreis einer Ellipse, noch eine Distanz = 0 eine Distanz ist; beide Fehler greifen aber derart ineinander, daß sie sich gegenseitig wieder aufheben. Besonders klar aber erweist sich das Wesen der Fiktion beim FERMATschen Satz "Es soll eine Linie a in zwei Teile x und a - x geteilt werden, daß x² (a - x) ein Größtes ist". Diesen Satz, den FERMAT durch die Gleichsetzung von x = x + e löste, wobei x + e eine bloße Fiktion ist, die dazu dient, um die Rechnung gewissermaßen über den toten Punkt hinwegzubringen, interpretier VAIHINGER folgendermaßen:
    "Die fingierte Größe x + e ist nicht gleich mit der Größe x, wenn e real ist; sie ist aber gleich, wenn e = 0 genommen wird. Eine Gleichsetzung der beiden Größen x² (a - x) und (x + e)² (a - x - e) ist gar nicht möglich; darum nennt sie Fermat eine adäqualitas, eine approximative Gleichheit, keine vollständige. Gleichwohl rechnet er, als ob die Gleichheit vollständig wäre ... Den zuerst begangenen Fehler nahm er im Verlauf wieder zurück, indem er die Hilfsgröße e einfach herausfallen läßt." (12)
Nach diesen Beispielen stellen die Fiktionen also Kunstgriffe des Denkens dar, die
    "auf eine mehr oder weniger paradoxe Weise dem gewöhnlichen Verfahren widersprechen ... (und Schwierigkeiten, welche das bezügliche Material der betreffenden Tätigkeit in den Weg wirft, indirekt zu umgehen wissen." (13)
Sie sind zweckvolle Um- oder Irrwege, die vermöge der bewußten Willkür, mit der sie betreten werden, eine nachträgliche Korrektur des zuerst begangenen Fehlers durch einen zweiten, entgegengesetzten Fehler möglich machen und geradezu fordern, und die, obzwar und gerade weil sie im Widerspruch zur Wirklichkeit stehen, eine Berechnung des Wirklichen ermöglichen. Sie sind letztenendes nicht von theoretischer, sondern von praktischer Bedeutung, sind nicht Endpunkte des Denkens, sondern Durchgangspunte für das Handeln. Sie sind nicht verifizierbar, sondern justifizierbar, wobei die Justifikation sich erweist, wenn die Fiktion dem Denken wirkliche Dienste leistet.
    "Je nach der Art der Fiktion muß speziell bewiesen werden, daß diese Fiktion wirklich den abverlangten Dienst leistet, und warum sie ihn leistet ... schwierig ist dieser Nachweis eigentlich nur bei den erkenntnistheoretischen Fiktionen, sowie bei den mathematischen; dagegen liegt der praktische Wert der meisten anderen Fiktioinen auf der Hand." (14)
Justifiziert ist also eine Fiktion durch die zweckmäßigen Dienste, die sie dem Menschen leistet.

Nun klärt sich auch der bisher oft übersehene radikale Unterschied zwischen Fiktion und Hypothese. Während die Fiktion das Wirkliche nichrt selbst zum Ausdruck bringt, sondern nur zu seiner Berechnung dienen will, fordert die Hypothese Verifikation, d. h. ihr Zweck ist ein unmittelbarer und theoretischer.
    "Die Hypothese geht stets auf die Wirklichkeit: d. h. das in ihr enthaltene Vorstellungsgebilde macht den Anspruch oder hat die Hoffnung, sich mit einer einst zu gebenden Wahrnehmung zu decken: sie unterwirft sich der Probe auf die Wirklichkeit und verlangt schließlich Verifikation, d. h. sie will als wahr, als wirklich, als realer Ausdruck eines Realen nachgewiesen werden." (15)
Am Vergleich, den VAIHINGER gibt, wird der Unterschied zwischen Fiktion und Hypothese besonders deutlich: Die Fiktion ist dem Balkengerüst, das nach vollendetem Bau wieder abgebrochen wird, vergleichbar; die Hypothese dagegen dem Balkengerüst, das im Baus selbst mit verwertet wird, als integrierender Teil des Baus. (16)

Nebenbei bemerkt sei noch, daß der eben gekennzeichnete Unterschied zwischen Fiktion und Hypothese nicht immer deutlich zutage tritt und daß besonders in den Erfahrungswissenschaften Fiktionen zu Hypothesen und Hypothesen zu Dogmen gewandelt werden (und umgekehrt), nach einem Gesetz der Ideenverschiebung, das erlaubt, daß das ein oder andere Stadium der Entwicklung übersprungen wird. Auf die große Anzahl von Beispielen, die VAIHINGER dazu anführt, kann nur hingewiesen werden, da diese zur Geschichte der Fiktion gehörigen Einzelheiten für die Darstellung des VAIHINGERschen Wahrheitsbegriffs ohne Belang sind (17).


Das fiktive Urteil

Aus der obigen Untersuchung des Sinnes der Als-Ob-Betrachtung geht deutlich hervor, daß auch in der logischen Theorie der Fiktion eine selbständige Stellung eingeräumt werden muß. Nun die eigenartige Bedeutung der Fiktioin gegenüber der Hypothese herausgearbeitet und ihr sprachlicher Ausdruck fixiert ist, ergibt sich die Grundform des fiktiven Urteils: A ist zu betrachten als ob (wie wenn) es B wäre.

Über den logischen Sinn dieses Urteils, das neben dem apodiktischen, assertorischen und problematischen als eine besondere Modifikationsform des Urteils steht, sagt VAIHINGER:
    "Das Urteil wird vollzogen mit dem gleichzeitigen Protest gegen objektive Gültigkeit, aber mit ausdrücklicher Wahrung der subjektiven Bedeutung. Das Urteil wird mit dem Bewußtsein der Ungültigkeit vollzogen, aber es wird dabei stillschweigen vorausgesetzt, daß dieser Vollzug für das Subjekt, für die subjektive Betrachtungsweise zulässig, nützlich und zweckdienlich ist." (18)
Das fiktive Urteil stellt eine eigentümliche Kreuzung dar, es ist ebenso negativ, insofern es die objektive Gültigkeit der Gleichsetzung von B mit A leugnet, als positiv, insofern es diese Gleichsetzung forderungsweise bejaht. Es besagt, daß ein zugestandenermaßen ungültiges Urteil als gültig betrachtet werden soll. Genau genommen wird übrigens nicht B mit A gleichgesetzt, sondern B stellt eine durch die Partikelverknüpfung "als ob" als unwirklich oder unmöglich gekennzeichnete Voraussetzung und ihre notwendige Folge dar; und die Gleichsetzung geschicht nicht mit der Voraussetzung, sondern mit der daraus resultierenden Folge, die, wenn die Voraussetzung oder Bedingung gültig wäre, notwendig aus ihr fließen müßte. Das fiktive Urteil ist also eine eigentümliche Verquickung objektiver Ungültigkeit und subjektiver Gültigkeit, dessen Wert einzig am praktischen Nutzen oder, wenn man so sagen darf, am Effekt gemessen werden darf, den es zeitigt. VAIHINGER sagt darum auch:
    "Das fiktive Urteil spricht keine theoretische, keine absolute Wahrheit aus, sondern nur eine praktische, eine relative, d. h. eine, die nur in Relation zum Aussagenden und zum Zweck, den er verfolgt, richtig ist, also einen Inhalt, der überhaupt nur mit Vorsicht und Vorbehalt die Bezeichnung wahr erhalten darf." (19)

Erkenntnistheoretische Konsequenzen
der Als-Ob-Betrachtung

Der Wert des fiktiven Urteils besteht also in seiner praktischen Bedeutung, in seiner Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit. Wenn VAIHINGER nun, wie im Folgenden dargestellt werden soll, seine Betrachtungsweise auf das gesamte Denken anwendet und in ihm ein Hilfsmittel, ein Instrument zur Berechnung und Beherrschung der Wirklichkeit, ein Mittel zur Orientierung im Leben und zur Ermöglichung des Handelns, nicht aber einen Prozeß, dessen letztes Ziel die Erkenntnis ist, sieht; so stellt er sich zunächst auf einen psychologisch-biologischen Standpunkt und es muß daran festgehalten werden, daß die erkenntnistheoretischen Folgerungen, die VAIHINGER vorderhand zieht, immerhin auf Voraussetzungen ruhen, die nicht ohne weiteres selbst wieder in Fiktionen aufgelöst werden können, ohne die Fiktionstheorie scheinbar jeder Grundlage zu berauben. Wenn VAIHINGER also aufgrund seiner Als-Ob-Betrachtung z. B. zu der Behauptung gelangt:
    "Wir leugnen, daß die von uns vorgestellte Welt Erkenntniswert besitzt; wir leugnen, daß die Differentiale usw. Erkenntniswert besitzen, dagegen behaupten wir, daß sie praktischen Wert besitzt und betrachten sie daher als ein zweckmäßiges Produkt der logischen Funktion, als einen Kunstgriff derselben; sowie man solche Kunstgebilde konsequent durchdenkt, kommt man auf Widersprüche - das sicherste Symptom von Fiktionen." (20) -
oder wenn VAIHINGER sagt:
    "die logischen Prozesse sind ein Teil des kosmischen Geschehens und haben zunächst bloß den Zweck, das Leben der Organismen zu erhalten und zu bereichern; sie sollen als Instrumente dienen, um den organischen Wesen ihr Dasein zu vervollkommnen; sie dienen als Vermittlungsglieder zwischen den Wesen. Die Vorstellungswelt ist ein geeignetes Gebilde, um diese Zwecke zu erfüllen, aber sie darum ein Abbild zu nennen, ist ein voreiliger und unpassender Vergleich." (21) -
wenn VAIHINGER solche und ähnliche Behauptungen erhebt, so soll nicht verkannt werden, daß er sich damit auf dem Boden der biologischen Erkenntnistheorie stellt und vielfache Voraussetzungen macht. So wird vor allem damit, daß in der Vorstellungswelt ein zweckmäßiges Produkt der logischen Funktion von praktischem Wert erblickt wird, nicht nur eine Welt vorausgesetzt, in der organische Wesen wachsen und sich entwickeln, sondern vor allem wird mit der Annahme derart organisierter Wesen, daß sie aus Empfindungen zweckmäßige Vorstellungen, die einen praktischen Wert haben, bilden: das reale Walten des Zweckprinzips im realen Universum und die reale Existenz zweckbewußter Iche vorausgesetzt. - Inwiefern diese Grundlagen dennoch, wie VAIHINGER teilweise selbst getan hat, in Fiktionen aufgelöst werden können, und zu welcher besonderen, allem Dogmatismus strikt entgegengesetzten Position eine solche Betrachtungsweise führt, soll erst im nächsten Kapitel darzustellen versucht werden. Die Geltung dieser Voraussetzungen muß vorderhand unbestritten bleiben, da es erst von einem späteren Standpunkt aus sich als möglich erweisen wird, sie unbeschadet der daraus fließenden Folgen ins Reich der Fiktionen einzuordnen, ohne einem uferlosen Relativismus die Schleusen zu öffnen. Vorderhand mögen sie die, wenn auch bewußt-falschen, Voraussetzungen zu den eigentümlichen erkenntnistheoretischen Untersuchungen VAIHINGERs bilden.

Gegeben sind uns nach VAIHINGER einzig die Empfindungen in ihren Koexistenz und Sukzessionsverhältnissen.
    "Faktisch haben wir ... nur Empfindungen ... diese sind einzig und allein das schließlich Gegebene: nur gewisse Empfindungssukzessionen sind uns gegeben." (22)
Zwischen der Welt der Empfindungen und der des Handelns liegt die ganze Vorstellungswelt, die das Denken aufbaut. Diese Vorstellungswelt kommt zustande, indem sich aus dem Empfindungschaos durch die psychische Attraktion der Elemente die Anschauung bildet, deren Formen schon die Verhältnisse des Ganzen und seiner Teile, des Dings und seiner Eigenschaften sind. Mit Hilfe der logischen Formen verarbeitet die Psyche das Empfindungsmaterial und die Empfindungen gehen innerhalb unserer Psyche rein subjektive Prozesse ein, denen in der Wirklichkeit nichts entsprechen kann. - Rein psychogenetische entwickelt VAIHINGER die Begriffe "Ding" und "Eigenschaft" und schildert die Entstehnung des Substanzbegriffes, indem er sagt, daß das eien Glied des Verhältnisses "Ding und Eigenschaft" aus dem Gegebenen ins Nichtgegebene hinausgeschoben wird, ins Imaginäre (23). Es ist z. B. der Empfindungskomplex des "Weißen" und des "Süßen" gegeben; durch die kategoriale Betrachtung dieses Empfindungskomplexes weicht das Denken vom wirklich Gegebenen ab. Die Empfindungsverknüpfung, daß der Zucker mit der Süßempfindung verbunden ist, ist zunächst zufällig. Die Psyche trennt aber diesen einheitlichen Empfindungskomplex in einem willkürlichen Akt der Setzung in das (weiße Ding) Zucker und in seine Eigenschaft "süß". Die Empfindung "weiß" löst sich aber durch Anwendung der kategorialen Ding-Eigenschaft-Betrachtung auch in anderen Fällen als Eigenschaft ab. Und da nun "weiß" und "süß" Eigenschaften sind und keine andere Wahrnehmung gegeben ist, als der Empfindungskomplex "süß-weiß", hilft sich das Denken und dessen Dienerin die Sprache, indem es der Gesamtwahrnehmung den Namen "Zucker" gibt und somit zu den wirklich wahrgenommenen Empfindungen einen besonderen Träger hinzudenkt, dem es als Eigenschaften die einzelnen Empfindungen anzuhängen vermag.
    "Der Inhalt der Eigenschaften wird durch die Sinne geliefert, das Ding, als der Träger der Eigenschaften, ist jetzt ganz hinzugedacht; daß jene an den Sinn gelieferten Inhalte Eigenschaften sind, das ist eine Bestimmung, welche jenen Inhalten erst durch das Bewußtsein gegeben wird." (24)
Diese Betrachtungsweise ist aber eine ganz willkürliche; durch sie wird die Wirklichkeit gefälscht, der einheitlich gegebene Empfindungskomplex im Denken geradezu verdoppelt.
    "Der Ansatz von Dingen mit Eigenschaften ist also eine Veränderung, welche den Tatbestand verfälschte." (25)
Durch die Isolierung von Ding und Eigenschaft begeht das Denken einen willkürlichen Fehler, aber es macht diesen Fehler wieder gut, indem es im Urteil "Der Zucker ist süß" wieder zusammennimmt, was es vorher fälschlich getrennt hat. Aber die im Urteil gelöste Spannung ist keine Erkenntnis, sondern nur ein subjektives Lustgefühl. Faktisch ist mit dem Urteil nichts für die Erkenntnis erreicht, sondern nur etwas für den praktischen Gebrauch. In erster Linie ist durch das kategoriale Denen die Mitteilung ermöglicht.
    "Eine Mitteilung war nur möglich, wenn das Mittel der Mitteilung, das Wort, zuerst einen ganzen solchen Empfindungskomplex ausdrückt, und dann ein neues Wort einen Teil desselben als Eigenschaft besonders hervorhebt, derart, daß diese Verdoppelung im Satz gleichsam zurückgenommen wird." (26)
Ein zweiter Zweck ist die Ordnung in der Psyche und die dadurch vergrößerte Erinnerungsmöglichkeit. Ein dritter Zweck ist der Schein des Erklärens und Begreifens, denn faktisch wird durch die kategoriale Betrachtung nichts begriffen, sondern nur die Mitteilung ermöglicht, indem durch ursprünglich unwillkürlich, später willkürlich gesetzte Zeichen für bestimmte Empfindungen oder Erlebnisse die Kommunikation, d. h. die Anzeige dieser Empfindungen ermöglicht wird. -
    "... eigentliche Erkenntnis ist bekanntlich nur Einsicht in die notwendigen Aufeinanderfolgen und Gleichzeitigkeiten des Geschehens. Alles andere ist scheinbares Erkennen. Die Umsetzung des Empfindungsmaterials in die begriffliche Form erzeugt gar keine eigentliche Erkenntnis, sondern nur ein Lustgefühl, welches jenen Schein des Erkennens erregt und umgekehrt durch jenen Schein des Erkennens erzeugt wird." (27)
Wie mit dem Ding und seiner Eigenschaft, verhält es sich mit dem Ganzen und seinen Teilen, der Ursache und ihrer Wirkung, dem Allgemeinen und seinem Besonderen. All diese Kategorien hatten ursprünglich nur einen praktischen Zweck: die subjektive Ordnung der Empfindungskomplexe nach diesen Kategorien. Erst später, sagt VAIHINGER, wurde aus dem Mittel ein Selbstzweck gemacht und damit die Anforderung an das Denken überspannt. Daraus entstand der Skeptizismus, denn indem das Umsetzen der Empfindungen in Kategorien, das zur Ermöglichung des Handelns im weitesten Umfeld genügt, immer weiter fortgesetzt wurde, entstand eine unendliche Flucht von Umsetzungen der Empfindung in immer andere Kategorien und dieser Kategorien selbst in immer höhere Denkformen.
    "... allein, sobald der natürliche Kreislauf des Denkens, von der Empfindung zu den Begriffen, von den Begriffen zurück zur Empfindung vollendet ist, kann das Denken absolut nichts weiter leisten." (28)
Die Kategorien sind analogische Fiktionen. Die analogischen Fiktionen sind nahe verwandt den Gleichnissen und Mythen. Sie sind Analogien zu subjektiven Verhältnissen, aufgrund deren die Wirklichkeit subjektiv geordnet und mit dem Schein der Begreiflichkeit versehen wird. Es ist eine sehr große Anzahl von Kategorien denkbar, denn die objektiv geschehenden Vorgänge können nach vielerlei Analogien erfaßt werden. Genau genommen sind diese Analogien aus der inneren Erfahrung; so ist das Ding und seine Eigenschaft der abstrakte Ausdruck des primitivsten Eigentumsverhältnisses, so ist die Kausalkategorie der symbolische Ausdruck für ein unabänderliches Sukzessionsverhältnis, "Ursache und Wirkung" der abstrakte Ausdruck für "Wille und Handeln" (29). Es wird nur jenes unabänderliche Sukzessionsverhältnis betrachtet, als ob es analog zu Ursache und Wirkung verlaufen würde. Oder Ursache und Wirkung werden gesetzt, als ob es den Sinn jedes unabänderlichen Sukzessionsverhältnisses ausdrückt. Damit ist aber nichts für die Erkenntnis geleistet. Faktisch ist uns nur die unabänderliche Zeitfolge gegeben.
    "Beobachtet sind einzig und allein die unabhängigen Sukzessionen und Koexistenzen, welche wir als Kausalitäts- und Inhärenzverhältnis apperzipieren, ohne damit mehr zu tun, als die Sache in einer anderen Sprache zu wiederholen." (30)
Sobald wir hinter diesen analogischen Fiktionen Erkenntnis suchen, geben wir uns einer gefährlichen Jllusion hin, denn diese Jllusion führt dazu, im Mittel einen Zweck zu erblicken, während doch ihr einziger berechtigter Zweck die Ermöglichung des Handelns einschließlich der Mitteilung ist. - Die Anzahl der Kategorien ist nicht prädestiniert, wie KANT glaubte, sondern es ist eine bestimmte Anzahl von Kategorien denkbar, ebenso, wie eine unbestimmte Anzahl von Analogien denkbar ist. Die Kategorien sind nur besonders prominente Analogien, nach denen die verschiedenen Sukzessionien am passendsten gedacht werden und heute sind nur noch zwei solche analogischen Fiktionen in wirklich lebendiger Anwendung: Ding und Eigenschaft, und Ursache und Wirkung. Selbst die erstere sucht man auf die letztere zu reduzieren und auch die letztere ist nur als ein Hilfsmittel zu betrachten, um uns eine subjektive Klarheit zu verschaffen und eine gewisse Ordnung der Phänomene zu ermöglichen. (31)

Auch das Absolute ist für VAIHINGER eine Fiktion. Bei der Begründung dieser Anschauung geht er wieder von der Voraussetzung aus, daß uns nur Empfindungen gegeben sind. Wir kennen nur Relatives, und wenn wir ein Absolutes setzen, in dem wir gewissermaßen den Schwerpunkt alles Relativen sehen, so tun wir das in einem willkürlichen Akt, der nur dadurch gerechtfertigt wird, daß sich diese Willkür als nützlich, als zweckmäßig und zum Handeln (im weitesten Sinne) unentbehrlich erweist.

Ebenso wie das Absolute (32), sind alle transzendenten Begriffe, wie der des Dings-ansich (33), des Unendlichen (34), des Atoms (35), der Materie (36), der Kraft (37) fiktive Gebilde, die weder Spiegelbilder oder Zeichen eines Realen sind, noch irgendeinen theoretischen Erkenntniswert besitzen. Sie sind nur Hilfsmittel, um die Wirklichkeit zu beherrschen und zu berechnen und das Handeln zu ermöglichen. Auch die Mathematik bedient sich, wie schon erwähnt, der Fiktionen als Hilfsmittel, mehr noch: die gesamte Mathematik ist nach VAIHINGER ein System von Fiktionen. Auch das dekadische Zahlensystem ist ein auf Fiktionen beruhendes Hilfsmittel. Es ist ein Zahlensystem unter unendlich vielen Zahlensystemen, die denkbar sind. Die Zahlen selbst sind nur
    "Gebilde der mathematischen Abstraktion, welche eine einzige Seite der Wirklichkeit, ... die Mehrheit und Vielheit zum Gegenstand der Untersuchung macht mit Vernachlässigung aller anderen." (38)
Nicht nur der Umstand, daß unendlich viele Zahlensystem denkbar sind, sondern auch die Tatsache der Unendlichkeit der Zahl selbst sind Hinweise auf den fiktiven Ursprung der Zahl.

So sucht VAIHINGER seine Als-Ob-Betrachtung über das gesamte menschliche Denken auszuspannen. Es kann hier dieser Betrachtungsweise nicht im Einzelnen nachgegangen werden, doch geht schon aus den oben skizzierten Untersuchung der Kategorien hervor, daß VAIHINGERs Philosophie gewisse, schon im Anfang dieses Kapitels hervorgehobene Voraussetzungen macht, die nicht ohne weiteres wieder in Fiktionen aufgelöst werden können, ohne scheinbar die Philosophie des Als-Ob ihrer Grundlage zu berauben. Im Nachfolgenden soll nun darzustellen versucht werden, inwiefern dies dennoch möglich ist und zu welcher Position diese Betrachtungsweise führt.


Der Perspektivismus

Es soll nochmals kurz der Standpunkt fixiert werden, von dem VAIHINGER ausgeht. Gegeben sind uns nur die Empfindungen in ihren Koexistenz- und Sukzessionsverhältnissen. (Genau genommen sind uns übrigens nicht einmal die Empfindungen und ihre Koexistenz- und Sukzessionsverhältnisse gegeben, sondern diese selbst sind schon wieder Abstraktionen oder Fiktionen, die die logische Funktion - um den Terminus VAIHINGERs beizubehalten -, aus den als einheitliches Ganzes gegebenen Empfindungskomplexen herausstellt.) Die Vorstellungswelt ist ein Hilfsgebilde, welches das Denken sich schafft, um sich in der Welt der Wirklichkeit orientieren zu können; sie ist ein Symbol der Wirklichkeit oder als Ganzes gesehen eine Fiktion, "mit deren Hilfe wir die Vorgänge der Welt in die Sprache unserer Seele übersetzen können." (39) Man kann die Vorstellungswelt praktisch an die Stelle der Wirklichkeit, jener Welt, die wir die wirkliche Welt nennen, setzen, aber theoretisch muß man jene als ein sekundäres Produkt von dieser wohl unterscheiden. - Die Vorstellungswelt ist als ein fiktives Gebilde bis in ihre kleinsten Teile hinein von Widersprüchen durchsetzt. Im Handeln erleben wir aber, nicht die Richtigkeit oder Wahrheit, sondern die Brauchbarkeit unserer fiktiven Vorstellungsgebilde. VAIHINGER sucht diesen merkwürdigen Umstand zu erklären, indem er als im Wesen der Fiktion liegend nachweist, daß der begangene Widerspruch im Verlauf der Denkrechnung wieder korrigiert wird durch einen entgegengesetzten Fehler. So wird beim FERMATschen Satz dadurch, daß das zuerst willkürlich als real gesetzte e später gleich unendlich klein = 0, gesetzt wird, der durch die unberechtigte Einführung einer wirklichen Größe gemachte Fehler wieder rückgängig gemacht; so wird bei der Ding-Eigenschaft-Kategorie die Verdoppelung des einheitlich gegebenen Empfindungskomplexes wieder aufgehoben, indem Ding und Eigenschaft im fiktiven Urteil wieder als Ganzes zusammengefaßt werden.

Es wurde schon eingangs erwähnt, daß sich VAIHINGER mit dieser Betrachtungsweise auf den Boden der biologischen Erkenntnistheorie stellt, die selbst voraussetzt, daß es eine Welt gibt, in der organische Wesen wachsen und sich entwickeln; es wurde besonders auch hervorgehoben, daß die VAIHINGERsche Fiktionstheorie das reale Walten des Zweckprinzips im realen Universum und die reale Existenz zweckbewußter Iche voraussetzt. In all diesen Voraussetzungen kann man, wenn man ihnen Realität zuschreibt, eine Rückkehr zum Dogmatismus beanstanden, den VAIHINGER doch letztenendes überwinden will. Nun liegt es aber, wie aus einigen Andeutungen hervorzugehen scheint, offenbar nicht in der Absicht VAIHINGERs diesen Voraussetzungen Realität zuzuschreiben; vielmehr geht schon daraus, daß die ganze Vorstellungswelt, zu der VAIHINGER zweifellos auch die gemachten Voraussetzungen rechnet, als "ein ungeheures Gewebe von Fiktionen, voll logischer Widersprüche" (40) betrachtet wird, hervor, daß zumindest einem großen Teil der gemachten Voraussetzungen nur eine fiktive Bedeutung zukommt. Besonders die Hauptstütze des VAIHINGERschen Systems, das Zweckprinzip, wird als heuristische Fiktion seines dogmatischen Scheins beraubt. Dies geschieht besonders in mehreren Zitaten aus KANT, F. A. LANGE und NIETZSCHE. So nennt VAIHINGER die Zweckmäßigkeit in Anlehnung an KANT, der sie in der "Kritik der Urteilskraft" "einen in Anbetracht der Natur ganz zufälligen Begriff von ihr" nennt, eine heuristische Fiktion, die dazu dient, die Dinge so zu betrachten, als ob ihnen gewisse Zwecke zugrunde lägen" (41). So interpretiert VAIHINGER folgenden Satz KANTs:
    "Dieser transzendentale Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, sondern ... ein subjektives Prinzip ... der Urteilskraft." (42)
ganz im Sinn seiner Als-Ob-Betrachtung: subjektives Prinzip = idealistisch = fiktiv (43). So beruft sich VAIHINGER besonders auch Seite 674 auf KANT, der in § 68 der "Kritik der Urteilskraft" sagt, daß man in der Teleologie zwar von der natur spricht, als ob die Zweckmäßigkeit in ihr absichtlich wäre, aber doch zugleich so, daß man der natur, d. h. der Materie diese Absicht beilegt. VAIHINGER bemerkt dazu: "Also - man spricht nur so, es handelt sich um eine bloße facon de parler" [Sprachgewohnheit - wp] (44) - d. h. um eine Fiktion. Auch F. A. LANGE wird von VAIHINGER zitiert. LANGE sagt über die Teleologie, die er als bloß methodische Fiktion erkannt hat:
    "Der Mensch mag sich dieser Vorstellungen bedienen, wenn er nur von ihnen frei ist, und weiß, daß er es nicht mit äußeren Dingen, sondern mit unzutreffenden Vorstellungen von denselben zu tun hat." (45)
und später (46) nennt er die Teleologie ein "heuristisches Prinzip". Von NIETZSCHE endlich zitiert VAIHINGER das Apercu: "Mittel und Zweck sind nur perspektivische Formen." (47) "Solche perspektivischen Fälschungen" sind zum Leben der Menschen, ja aller Organismen notwendig." (48) Was unter "heuristischen Fiktionen", zu denen VAIHINGER das Zweckprinzip rechnet, zu verstehen ist, wird Seite 54 erklärt. Demnach sind darunter solche Vorstellungsgebilde zu verstehen, die zwar noch nicht in sich selbst widerspruchsvoll sind, die aber doch nicht in der Wirklichkeit zu finden sind, und, wenn sie konsequenz durchdacht werden, zu Widersprüchen mit der Wirklichkeit führen. Der Wert dieser Fiktionen liegt darin, daß sie nicht nur Ordnung schaffen in den Phänomenen, sondern auch die richtige Lösung einer Frage vorbereiten.

Noch wichtiger aber als die Zurechnung des Zweckgedankens zu den Fiktionen, ist die fiktive Betrachtung des Subjekts und des Objekts. Schon der Umstand, daß VAIHINGER das Ding-ansich als Fiktion behandelte, mochte vermuten lassen, daß er auch den polaren Gegensatz des Dings-ansich, das Ich, als Fiktion zu entschleiern versuchen würde. VAIHINGER scheut dann auch nicht vor dieser Konsequenz zurück und vergleich Subjekt Y und Objekt X mit dem Koordinatensystem des Mathematikers. Er kehr damit ausdrücklich auf den Standpunkt HUMEs zurück, der neuerdings von AVENARIUS vertreten wird, nachdem nichts existiert als die Empfindung.
    "Das wahre letzte Sein ist ein einheitlich zu denkender Fluß von Sukzessionen und Koexistenzen. Durch die Ziehung der Hilfslinien X und Y, d. h. Objekt und Subjekt, suchen wir diesen Fluß zu erfassen und zu berechnen." (49)
Genau genommen führt die willkürliche Subjekt-Objekt-Setzung zu Widersprüchen, sobald man das Subjekt oder das Objekt isoliert und die ganze Empfindungswelt auf eine dieser Koordinaten bezieht (z. B. die auch von RICKERT hervorgehobenen Widersprüche des Solipsismus). Die Zerlegung der Empfindungswelt, bzw. die Beziehung der Empfindungswelt auf das Koordinaten-System des Subjekts und Objekts durch das diskursive Denken ist übrigens eine ähnliche Verdoppelung wie die durch die kategoriale Ding-Eigenschaft-Betrachtung begangene. Subjekt und Objekt ist ein fiktives Wertpaar.
    "Fiktive Wertpaare, in welche das Wirkliche künstlich zerlegt ist, haben nur zusammen Sinn und Wert; einzeln führen sie durch Isolation auf Sinnlosigkeit, Widersprüche und Scheinprobleme." (50)
Die Scheidung der Welt in Subjekt und Objekt ist nach VAIHINGER die Urfiktion, von der alle anderen schließlich abhängen. Er wahrt diesesn Standpunkt auch gegenüber KANT, der "die vorläufig und stillschweigend gemachte Voraussetzung, daß es Iche und Dinge-ansich gibt, als Gerüste (hat) stehen lassen", während er sie nachträglich hätte abbrechen müssen (51). KANT hätte, nachdem er selbst das Ding-ansich als Fiktion durchschaut hatte (52), anerkennen sollen, daß diese Voraussetzung nur ein vorläufiger Rechnungsansatz ist, um sein Resultat zu erreichen: nämlich, daß es bloß Erfahrungserkenntnis gibt. (Es wären dann die Empfindungen, wie bei MAIMON, als einzig Reales übrig geblieben (53). KANT aber hat seinen Rechnungsansatz sowohl im Interesse des Freiheitsbegriffs, als auch im Interesse des apriorischen Rationalismus stehen gelassen. Wenn man den kantischen Rechenansatz, daß es Ich und Dinge gibt, die auf sie einwirken, durchführt, so kommt man (insofern nur der Anstoß von außen stammt, also jenseits des Ichs, jenseits der Erfahrung bleibt, wo wir die Kategorien nicht anwenden können - die Kategorien aber samt Substanz, Kausalität und Einheit, wie schon oben dargestellt, nur fiktiv sind) - wenn man also den kantischen Rechenansatz durchführt, so kommt man dazu, daß das Ich und das Ding-ansich einschließlich der zwischen ihnen bestehenden Kausalität nur ein subjektiver Ansatz sind, der wieder wegzufallen hat. Als einzige Erfahrung bleibt dann die Empfindung.
    "Also Ich und Ding-ansich sind Fiktionen; faktisch existiert nur das, was zwischen ihnen liegt, die Empfindungsmasse, an deren eines Ende wir das Subjekt, an deren anderes wir das Objekt setzen. Durch diese Einschiebung wird das Sein berechnungsfähig. Die Scheidung in Inneres und Äußeres ist ein Hilfsmittel." (54)
Mit dieser äußersten Konsequenz scheint jedoch die Fiktionstheorie sich selbst unrettbar in Nebel aufzulösen. Denn mit der Aufdeckung der Urfiktion Subjekt-Objekt, mit der Aufdeckung der Fiktionalität der ganzen durch die logische Funktion (auch eine Fiktion!) aufgebauten Vorstellungswelt scheint VAIHINGER doch offenbar die Fiktionalität seiner eigenen Fiktionstheorie zu enthüllen, scheint VAIHINGER die Entstehung der Fiktion selbst auf ein fiktives Etwas zurückzuführen. Er hebt also mit den letzten Konsequenzen seiner Theorie scheinbar seine ersten Voraussetzungen auf.

Die Position, auf welche die radikal anti-dogmatische Tendenz von VAIHINGERs Philosophie hinausweist, soll hier kurz dargestellt werden: - Wie es an vielen Stellen, besonders im Anhang über NIETZSCHE zum Ausdruck kommt, führt die Philosophie des Als-Ob zum extremen Gegensatz jedes Dogmatismus, zu einem Perspektivismus. Demnach kann die ganze Vorstellungswelt als eine Summe von Perspektiven aufgefaßt werden, deren jede ein in sich geschlossenes System sein mag, nicht aber zur Erklärund des Ganzen verwendet werden darf, wenn man nicht zum Dogmatismus zurückkehren will. Jede dieser Perspektiven besitzt nach innen, unter Setzung ihrer willkürlichen Voraussetzungen, eine systematische Konstanz, die aber keineswegs verabsolutiert oder fixiert werden darf, da sie sich, je nach dem gewählten Standpunkt verschiebt. Dem Perspektivismus nach darf weder die biologische Erkenntnistheorie, auf der VAIHINGERs Fiktionstheorie bislang basierte, noch das Ich als körperlich und seelische Einheit, noch das System der sogenannten aprioristischen Grundbegriffe dogmatisch oder absolut genommen werden. Es gibt überhaupt keinen einheitlichen und eindeutigen Mittelpunkt des Seins, weder im Ich noch im Nicht-Ich, weder im Psychischen noch im Physischen. Sondern alle Dinge und alle Begriffe sind nur in Bezug aufeinander setzbar. Sie sind Fiktionen, deren Wert sich nicht im Allgemeinen, sondern im Besonderen, nicht im Absoluten, sondern im Relativen erfüllt. Ebenso wie es keinen absoluten Raum, keinen Körper Alpha usw. gibt, d. h. nur als willkürliche, bewußt widerspruchsvolle oder falsche Annahmen, so gibt es auch, wie sich schon aus der Fiktionalität des Absoluten erhellte, keinen absoluten Orientierungspunkt für das Sein. Orientierung ist von jedem willkürlich gewählten oder gesetzten Punkt aus über das Ganze möglich, doch führt jede Orientierung den Index der Relativität des Ausgangspunktes, läuft jede Orientierung nicht auf ein einheitliches Zentrum des Gesamtseins hinaus, sondern eröffnet vielmehr Perspektiven, deren jede ein in sich geschlossenes System darstellt. Das substanzialistische Vorurteil, das stets nach einem eindeutigen, absoluten Zentrum des Seins, und damit nach Eindeutigkeit überhaupt suchen ließ, wird im Perspektivismus überwunden und anstelle der Eindeutigkeit des Absoluten die Vieldeutigkeit oder vielmehr die relative Eindeutigkeit des Perspektivischen gesetzt.

Es soll hier nicht weiter auf den Perspektivismus, dessen wissenschaftliche Begründung VAIHINGER mit seiner Philosophie des Als-Ob gegeben hat, eingegangen werden, da dazu ein tieferes Eindringen in NIETZSCHEs Lehre vom "Willen zum Schein" und eine eingehende Interpretation der kantischen transzendentalen Dialektik im Sinne des von VAIHINGER vertretenen Neukantianismus nötig wäre - eine Aufgabe, die zum Teil von VAIHINGER selbst im Anhang über KANT und NIETZSCHE gelöst wurde.

Ehe wir dazu übergehen, den Wahrheitsbegriff, wie er aufgrund der perspektivistischen Weltanschauung gefaßt werden kann, zu skizzieren, sei das Wesen des Perspektivismus noch in NIETZSCHEs prägnante Worte zusammengefaßt:
    "Parmenides hat gesagt, man denkt das nicht, was nicht ist - wir sind am anderen Ende und sagen: was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein." (55)

Der perspektivistische
Wahrheitsbegriff

Fast scheint es, daß nach der eben dargestellten philosophischen Anschauung von Wahrheit überhaupt nicht mehr die Rede sein kann und jenem extremen Relativismus vorgearbeitet wird, den ich in der Einleitung als erkenntnistheoretischen Nihilismus bezeichnet habe. Es soll aber doch gleich hier schon hervorgehoben werden, daß, während der erkenntnistheoretische Nihilismus bei einem negativen Resultat stehen bleibt und mit der Fiktionalität der Vorstellungswelt ihre Unwahrheit = Sinnlosigkeit und Unbrauchbarkeit behauptet, der Perspektivismus, der aus VAIHINGERs Philosophie des Als-Ob folgt, trotz oder gerade infolge der Fiktionalität der Vorstellungswelt zu einem positiven Ergebnis gelangt, indem er gerade den Sinn im Widersinn, die Wahrheit im Irrtum hervorkehrt. Allerdings bricht der Perspektivismus vollständig mit der herkömmlichen absoluten und "einen" Wahrheit oder vielmehr läßt er die "absolute Wahrheit" gelten, aber als Fiktion, als zweckmäßiges, widerspruchsvolles Gebilde, das als Instrument, als Vorstadium zum Handeln, zur Tat zu betrachten ist.

Ehe wir aber zur genaueren Bestimmung des Wahrheitsbegriffs im Sinne eines Perspektivismus übergehen, ist ein Vorbehalt zu machen: Nach VAIHINGERs Fiktionstheorie sind nicht nur die transzendenten Begriffe, die Kategorien usw. Fiktionen, sondern das ganze diskursive Denken hilft sich mittels Fiktionen fort, ja stützt sich auf diese und auch die Sprache ist als ein großartiger Bau sich gegenseitig stützender Fiktionen zu betrachten. Gegeben sind nur die Empfindungen, und zwar sozusagen in ihrem Urzustand; denn sobald wir das Empfindungschaos betrachten, ordnen, benennen, objektivieren, arbeitet unsere Psyche schon mit Fiktionen, die samt und sonders von der Urfiktion "Ding-ansich = Objekt" und "Ding-ansich = Subjekt" (56) abhängen. Die artikulierten Laute und die Schriftzeichen, die den flüchtigen Gedanken gewissermaßen eine feste Form geben, und sogar die Gedankenwelt selbst sind unentbehrliche Fiktionen, freisteigende Vorstellungen oder Phantasien. Wollten wir ohne Fiktionen auskommen, so würde nichts als ein stumpfes, sinnloses Empfindungschaos übrig bleiben, so würde unser differenziertes menschliches Seelenleben zu einem brutalen Triebleben zusammensinken. Wenn wir also irgendein Gedankengebäude, natürlich auch das der Fiktionstheorie, denken und darstellen wollen, so benützen wir Fiktionen. Und der Vorbehalt, der bei der Aufstellung des perspektivischen Wahrheitsbegriffes gemacht werden muß, ist der: daß alle Begriffe und Worte, die dazu notwendig sind, fiktive Gebilde sind, die sich einzig und allein dadurch rechtfertigen, daß sie unentbehrlich sind.

Das Wesen der Wahrheit ist bei VAIHINGER vielfach und nicht immer völlig, wenn auch stets grundzüglich identisch definiert. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Definitionen sind erklärlich, da die organische Entwicklung eines so umfangreichen Werkes die schrittweise Einschränkung der gemachten Voraussetzungen bedingt. Ganz aller Voraussetzungen, d. h. aller fiktien Hilfen, kann, wie gesagt, die Darstellung des Wesens der Wahrheit überhaupt nicht entbunden werden. Wichtig ist die Feststellung, daß aufgrund der Als-Ob-Betrachtung Wahrheit und Irrtum eine starren, sich gegenseitig ausschließende Gegensätze sind, sondern daß sie ineinander überfließen. Die Wahrheit, wird geradezu behauptet, ist der zweckmäßigste Grad des Irrtums, der Irrtum der unzweckmäßigste Grad der Vorstellung, der Fiktion.
    "Irrtum und Wahrheit fallen unter den gemeinsamen Oberbegriff des Mittels zur Berechnung der Außenwelt; das unzweckmäßigste Mittel ist der Irrtum, das zweckmäßige heißt man Wahrheit, das mit Notwendigkeit Gedachte ist noch nicht wirklich: denn jene Notwendigkeit ist nur ein Gebot der Zweckmäßigkeit." (57)
Das ganze Denken ist ein regulierter Irrtum und Wahrheit ist der zweckmäßigste Irrtum;
    "das Grundgesetz des Denkens ist die Methode der antagonistischen Operationen ... der Widerspruch, die Aufhebung des logischen Gleichgewichts ist das von Hegel geahnte Prinzip der menschlichen Denkbewegung und ohne Widerspruch kämen wir zu keinem Fortschritt." (58) -
Aber diese Position scheint doch eben die Wahrheit vorauszusetzen, denn wenn Wahrheit der zweckmäßigste Irrtum ist und die Denkbewegung ohne Widerspruch zu keinem Fortschritt gelangen kann, so weist das doch alles schon als auf seine Vorausetzbg auf die Wahrheit hin, ohne welcher von Zweckmäßigkeit, Widerspruch und Fortschritt gar nicht die Rede sein kann. Es liegt nahe, an solchen und ähnlichen Stellen einen Schwenk zurück zum Dogmatismus zu vollführen. Damit wäre jedoch nichts gegen den Perspektivismus bewiesen, denn offenbar handelt es sich, wie oben schon nachgewiesen wurde, auch hier wieder um Fiktionen, die in sich abgeschlossene Perspektiven eröffnen, aber keineswegs verabsolutiert und fixiert werden dürfen. Sie weisen allerdings auf die Existenz der Wahrheit hin, aber nicht auf eine reale oder ideale, sondern auf eine fiktive Existenz der Wahrheit. Wie gesagt, muß die ganze Vorstellungswelt mit ihren Formen den Allgemeinbegriffen, den Kategorien usw. als Fiktion gefaßt werden.

Es scheint nicht. Zumindest nicht ohne Voraussetzungen, die sich dem logischen Denken als Zirkel enthüllen. Hier setzt NIETZSCHEs Philosophie ein, in der, wie aus VAIHINGERs Darstellung hervorgeht, die letzten Konsequenzen der Philosophie des Als-Ob vorausgenommen sind. Auch NIETZSCHE erkennt die Vorstellungswelt als ein "Jllusionsnetz", auch ihm enthüllen sich die letzten Voraussetzungen dieser Philosophie als Wahnvorstellungen, aber er sagt: "Selbst die Erkenntnis über ihr Wesen vernichtet nicht ihre Wirksamkeit." (59) Der "Wille zum Schein", der künstlerische, schaffende, illusionsbildende, lügnerische, "mythische" Trieb, ist nicht nur die Grundlage des künstlerischen Schaffens, der Philosophie, der Wissenschaft, sondern auch die Grundlage unserer ganzen Vorstellungswelt.
    "Ach, nun müssen wir die Unwahrheit umarmen, und der Irrtum wird jetzt erst zur Lüge und die Lüge vor uns wird zur Lebensnotwendigkeit." (60)
Die Lebensnotwendigkeit ist das letzte Glied der Erkenntnis, dies scheint der innerste Kern der Philosophie NIETZSCHEs, des Perspektivismus und der Philosophie des Als-Ob zu sein. Die Lebensnotwendigkeit als letztes, unzerlegbares philosophisches Erlebnis.

Wichtig zur Kennzeichnung des fiktiven Standpunktes, auf welchem der perspektivistische Wahrheitsbegriff aufgebaut werden muß, scheint folgende Stelle aus NIETZSCHEs Nachlaß:
    "Damit es irgendeinen Grad von Bewußtsein in der Welt geben kann, mußte eine unwirkliche Welt des Irrtums entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes, an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Fluß entstanden war, konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden, ja zuletzt kann der Grundirrtum (der Glaube an Beharrendes) eingesehen werden, worauf alles beruth. ... Doch kann dieser Irrtum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden ... unsere Organe sind auf den Irrtum eingerichtet. .... Irren ist die Bedingung des Lebens. ... Wissen um das Irren hebt es nicht auf. Das ist nichts Bitteres! Wir müssen das Irren lieben und pflegen: es ist der Mutterschoß des Erkennens." (61)
Das letzte Ziel des Denkens, des Erkennens ist also nicht die Wahrheit, denn die Wahrheit selbst ist nur eine Fiktion - das letzte Ziel der Erkenntnis und des Denkens ist das, was wir eben das philosophische Erlebnis genannt haben, jenes bislang noch nicht definierte Erlebnis, in dem wir zur Ahnung der Fiktionalität der letzten Voraussetzungen unseres Denkens gelangen, und durch das wir in einer nicht gedachten, sondern erlebten Überwindung des toten Punktes unserer Erkenntnis zur bewußten Bejahung des Willens zum Schein gelangen. Der Wahrheitsbegriff löst sich nach dieser Theorie in einen Scheinbegriff auf, aber in einen gewollten Scheinbegriff. Das heißt: wir denken, als ob es eine absolute Wahrheit geben könnte.

Zur Erhärtung des hier vertretenen perspektivistischen Wahrheitsbegriffs sei noch eine Stelle aus der "Fröhlichen Wissenschaft" zitiert:
    "Es ist endlich an der Zeit, die kantische Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? durch eine andere Frage zu ersetzen: Warum ist der Glaube an solche Urteile nötig?" - nämlich zu begreifen, daß zum Zweck der Erhaltung von Wesen unserer Art solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen: weshalb sie natürlich noch falsche Urteile sein könnten! ... Es sind lauter falsche Urteile. Nur ist allderdings der Glaube an ihre Wahrheit nötig als ein Vordergrundsglaube und Augenschein, der in die Perspektivenoptik des Lebens gehört." (62)
Und:
    "Die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori gehören) sind uns die unentbehrlichsten, ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl, kann der Mensch nicht leben - Verzichtleisten auf falsche Urteile wäre ein Verzichtleisten auf Leben." (63)
Die Wahrheit erweitert sich also von dieser Position aus zur Perspektive, die nach einem bestimmten Augenpunkt gerichtet ist, dessen Fiktionalität zwar eingesehen, aber als notwendig, als unentbehrlich erkannt ist, da ohne diesen Schein das Leben unmöglich wäre. Der Zirkel, der letztenendes dem Perspektivismus zugrunde liegt, muß eingestanden werden. Doch liegt er selbst nur innerhalb des diskursiven Denkens, dessen Fiktionalität nachgewiesen werden kann, wenn man mit dem bejahten Willen zum Schein die Als-Ob-Betrachtung auf dasselbe anwendet. Es bleibt als Letztes, nach Auflösung der ganzen Vorstellungswelt in Fiktionen: das philosophische Erlebnis, das, kurz gesagt, in einem letzten Bewußtsein der Notwendigkeit des schöpferischen Triebes besteht.


Schlußbemerkung

Ich habe eingangs vom Relativismus als einer Anschauungsweise, die den erkenntnistheoretischen Nihilismus nach sich zieht, gesprochen. Der Satz "Es gibt keine Wahrheit" schien mir nicht nur einen Widerspruch in sich selbst zu bergen, sondern ich gelangte sogar zu der Behauptung, daß er geradezu unaufstellbar, "unaussprechlich" ist. Diese Anschauung ist nunmehr zu modifizieren.

Der Satz "Es gibt keine Wahrheit" ist nach wie vor ein undenkbarer, unaussprechlicher Satz. Er ist es aber nicht in dem Sinn, daß er durch das logische Denken widerlegt werden könnte, da er zweifellos auch die Gültigkeit des logischen Denkens in Frage stellt - eine Ansicht, die auch von den Gegnern des absoluten Relativismus geteilt wird -, sondern er ist unausdenkbar im Sinne des Perspektivismus. Er ist nicht logisch zu widerlegen, insofern das ganze logische Denken als ein Netzt von Fiktionen zu betrachten ist; aber er ist, wie ich sagte, unaufstellbar, insofern sich im philosophischen Erlebnis der Wille zur Setzung von Vorstellungen bekundet, an die wir den fiktiven Maßstab der Wahrheit anlegen. Der erkenntnistheoretische Nihilismus wird also letzten Endes nicht durch die Logik oder die Erkenntnistheorie, aber auch nicht durch die Psychologie oder Biologie, sondern einzig und allein durch das Erlebnis widerlegt.

Anstelle des Wahrheitsbegriffs tritt im Perspektivismus als eigentliches Zentralproblem das philosophische Erlebnis. Doch dieses Problem ist kein logisches, erkenntnistheoretisches, psychologisches oder biologisches - es ist vielleicht überhaupt kein wissenschaftliches Problem, sondern ein dichterisches, ein rein schöpferisches, intuitives Problem. Die einzige Methode, es zu lösen, scheint die Intuition zu sein. Jede andere Methode müßte bei diesem Problem an ihren notwendigen Voraussetzungen scheitern.

Das philosophische Erlebnis ist nicht nur die erste Bejahung der Philosophie, sondern auch der erste, nicht weiter zerlegbare Ursprung jeder wissenschaftlichen, künstlerischen und überhaupt Lebensbetätigung. Es ist in Wahrheit das gemeinsame Band, das die Differentiale der Mathematik, die Atome der Naturwissenschaft, die Ideen der Philosophie und die Dogmen der Religion umschlingt. Es ist kein metaphysischer, sondern ein rein menschlicher Begriff; und nicht einmal ein Begriff, sondern eben - ein Erlebnis. Gerade deshalb aber ist es für das menschliche Denken die erste "Voraussetzung" der Metaphysik.

In der Philosophie des Als-Ob tritt der Irrtum anstelle der Wahrheit. NIETZSCHE hat dies vorausgeahnt und kurz vor der Katastrophe von 1889 gesagt:
    "... ob nicht die Lüge etwas Göttliches ist: ob nicht der Wert aller Dinge darin beruth, daß sie falsch sind? ob man nicht an Gott glauben sollte, nicht weil er wahr, sondern weil er falsch ist? ... ob nicht gerade das Lügen und Falschmachen (Umfälschen) das Sinn-Einlegen, ein Wert, ein Sinn, ein Zweck ist?" (Nachlaß, Bd. XV, Seite 34)
Im philosophischen Erlebnis wird diese Frage intuitiv bejaht. Doch nicht göttlich scheint uns demnach die Lüge, sondern menschlich. Und eben darum als höchster aller Werte.
LITERATUR - Adolf Lapp, Versuch über den Wahrheitsbegriff, [Inaugural-Dissertation] Erlangen 1912
    Anmerkungen
    1) John Stuart Mill, Logik, Bd. 1
    2) Husserl, Logische Untersuchungen II
    3) Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, Mitteilungen über ein unter diesem Titel soeben erschienenes neues Werk, Kant-Studien, Bd. XVI, Heft 1, Seite 109
    4) Kant, Metaphysik der Sitten, ed. Kirchmann, Seite 76.
    5) Philosophie des Als-Ob, Seite 584f
    6) a. a. O. Seite 585
    7) a. a. O. Seite 586
    8) a. a. O. Seite 591
    9) a. a. O., Seite 341f
    10) Daß auch Smith sich dessen bewußt war, geht aus der von Vaihinger zitierten Arbeit August Onckens, "Adam Smith und Immanuel Kant", Leipzig 1877, Seite 16 und 78 hervor.
    11) Vaihinger, a. a. O., Seite 194f.
    12) a. a. O., Seite 201.
    13) a. a. O., Seite 17.
    14) a. a. O., Seite 150/1
    15) a. a. O., Seite 144
    16) a. a. O., Seite 148 Anm.
    17) Über das Gesetz der Ideenverschiebung, a. a. O. Seite 219/30.
    18) a. a. O., Seite 593.
    19) a. a. O., Seite 603.
    20) a. a. O., Seite 94
    21) a. a. O., Seite 22
    22) a. a. O., Seite 96
    23) a. a. O., Seite 300
    24) a. a. O., Seite 300
    25) a. a. O., Seite 301
    26) a. a. O., Seite 305
    27) a. a. O., Seite 308
    28) a. a. O., Seite 310
    29) a. a. O., Seite 317
    30) a. a. O., Seite 318
    31) a. a. O., Seite 319
    32) a. a. O., Seite 104f
    33) a. a. O., Seite 109f
    34) a. a. O., Seite 87f
    35) a. a. O., Seite 101f
    36) a. a. O., Seite 91f
    37) a. a. O., Seite 50
    38) a. a. O., Seite 82
    39) a. a. O., Seite 89
    40) a. a. O., Seite 90
    41) a. a. O., Seite 669
    42) Kant, Kritik der Urteilskraft, ed. Vorländer, 1902, Seite 21
    43) Als-Ob, Seite 669
    44) a. a. O., Seite 675
    45) F. A. Lange, Geschichte der Materialismus, Bd. 1, zweite Auflage 1873/75, Seite 373
    46) F. A. Lange, a. a. O., Bd. 2, Seite 276
    47) Nietzsches Werke, gr. Ausg. Bd. XIV, Seite 22/27
    48) Als-Ob, a. a. O., Seite 784
    49) a. a. O., Seite 84
    50) a. a. O., Seite 118
    51) a. a. O., Seite 267
    52) Vgl. dazu auch Vaihingers Zitate aus Kants "Opus, Postumum" (Ein ungedrucktes Werk von Kant aus seinen letzten Lebensjahren, ed. Rudolf Reicke in der Altpreußischen Monatsschrift 1881 bis 1884, Bd. 19-21) sowie Seite 723 der "Philosophie des Als-Ob".
    53) Als-Ob, Seite 267
    54) a. a. O., Seite 84
    55) Nietzsche, Werke, Bd. XV, Seite 321.
    56) a. a. O., Seite 114.
    57) a. a. O., Seite 193
    58) a. a. O., Seite 217
    59) Nietzsche, Nachgelassene Schriften, Bd. IX, Seite 101.
    60) Nietzsche, Werke Bd. XII, Seite 48
    61) Nietzsche, Werke, Bd. XII, Seite 48.
    62) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Seite 21
    63) Nietzsche, a. a. O., Seite 12