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ADOLF LAPP
Versuch über den Wahrheitsbegriff
[mit besonderer Berücksichtigung von Rickert, Husserl und Vaihinger)
[2/2]

"Es kann nur in einem fiktiven Sinn von adäquater Wahrnehmung die Rede sein: nämlich als ob es möglich wäre, die realen Gegenstände der Wahrnehmung adäquat zu erfassen, denn faktisch ist an eine adäquate Wahrnehmung natürlich nicht zu denken."

"Aus der Idealität der Wahrheit polemisiert Husserl aufgrund der Unterscheidung zwischen Logischem und Psychischem gegen den Psychologismus, der es nicht vermag, die Wahrheit vom menschlichen Subjekt zu emanzipieren und ihren absoluten Charakter zu behaupten."


Husserls Theorie der
Unabhängigkeit der Wahrheit


Die Idealität der Wahrheit

RICKERTs Versuch, die Objektivität der Wahrheit aus der Transzendenz des Sollens zu beweisen, mußte notwendig daran scheitern, daß das Sollen ein Gefühl ist, und die Unabhängigkeit eines Gefühls vom Subjekt niemals zu erweisen ist. Seine Theorie mochte noch so darauf ausgehen, die Idealität des Urteils darzulegen und das rein Urteilsmäßige von allem Vorstellen, von allem "Wirklichen", von allem Sein zu emanzipieren - der Beweis dieser Unabhängigkeit war unmöglich, da er vom Subjekt ausging und ausgehen mußte, das bejaht und verneint, das Werte anerkennt und urteilen soll. Der Beweis der Transzendenz des Sollens war unmöglich, weil er gleichbedeutend mit dem Beweis der Objektivität des Subjekts gewesen wäre. Wie man schon aus RICKERTs Untersuchungen ersehen kann, läuft jeder rationalistische Beweis der Objektivität der Wahrheit aufgrund subjektivistisch-idealistischer Anschauungen darauf hinaus, die Wahrheit durch die Wahrheit zu definieren und man könnte vielleicht schon darin den Hinweis auf eine andere Möglichkeit erblicken: Nämlich die Objektivität der Wahrheit gar nicht erst beweisen zu wollen, sondern sie einfach vorauszusetzen, sie als schlechthin vorhanden zu betrachten. Demnach wäre es unnötig, ja geradezu fehlerhaft, die Unabhängigkeit der Wahrheit von etwas Subjektivem ableiten und sie beweisen zu wollen; im Gegenteil, eine solche Theorie müßte darauf ausgehen, die völlige Unabhängigkeit der Wahrheit von allem psychischen Geschehen, den radikalen Unterschied zwischen Logischem und Psychologischem darzulegen und die Idealität der Wahrheit in einem direkten Gegensatz zur Realität der psychischen Akte, durch die sie erfaßt oder erschlossen wird, zu setzen. Das psychische Erlebnis, mag es Evidenz oder Sollen heißen, wäre nach dieser Theorie nichts als der vergängliche Weg, auf welchem wir zur Wahrheit gelangen; die Wahrheit selbst aber, die ideale, absolute Wahrheit würde nicht durch das Gefühl der Evidenz oder des Sollens erzeugt, sondern bestünde für sich und in sich beruhend, selbst wenn sie jede menschliche Erkenntnisfähigkeit überschreiten würde. - Eine solche Wahrheitslehre, die in ihrer absoluten Idealität beinahe an eine ganz heterogene Lehre, nämlich an den absoluten Theismus RITSCHLs oder AUGUSTE SABATIERs erinnert (1), sucht HUSSERL in seinen "Logischen Untersuchungen" auszubauen.

Er wendet sich gegen die anthropologische Deutung der Wahrheit, die z. B. SIGWART vertritt, indem er behauptet, es sei "eine Fiktion ... als könne ein Urteil wahr sein, abgesehen davon, daß irgendeine Intelligenz dieses Urteil denkt". HUSSERL führt dagegen aus, daß es dann wohl auch eine Fiktion ist,
    "von Wahrheiten zu sprechen, die ansich gelten und doch von niemandem erkannt werden, z. B. von solchen, welche die menschliche Erkenntnisfähigkeit überschreiten." (2)
Wenn die Wahrheit, wie SIGWART meint, in ein Bewußtseinserlebnis aufzulösen wäre, dann kann überhaupt nicht von einer Objektivität der Wahrheit die Rede sein, denn Erlebnisse sind "reale Einzelheiten, zeitlich bestimmt, werdend und vergehend". Allerdings kann die Wahrheit erlebt und erfaßt werden, aber sie muß es nicht, denn es gibt auch überindividuelle Wahrheiten. Die Objektivität der Wahrheit beruth auf ihrer überempirischen Idealität und wenn wir sie erfassen oder erleben, so ist das in einem ganz anderen Sinn gemeint, als das empirische Erfassen oder Erleben:
    "Die Wahrheit erfassen wir nicht wie einen empirischen Inhalt, der im Fluß psychischer Erlebnisse auftaucht und wieder verschwindet; sie ist nicht Phänomen unter Phänomenen, sondern sie ist Erlebnis in jenem total geänderten Sinn, in dem ein Allgemeines, eine Idee ein Erlebnis ist. Bewußtsein haben wir von ihr, so wie wir von einer Spezies, z. B. dem Rot im allgemeinen Bewußtsein haben." (3)
Gleichwie wir durch einen Vergleich verschiedener roter Objekte, an denen die Röte als jeweils individueller Einzelfall auftritt, das Allgemeine, die Idee, und
    "im Hinblick auf mehrere Akte, einer solchen Ideation die evidente Erkenntnis von der Identität dieser idealen, in den einzelnen Akten gemeinten Einheiten" (4)
gewinnen, so erfassen wir auch die Wahrheit
    "in einem Akt auf Anschauung gegründeter Ideation ... und gewinnen auch von ihrer identischen Einheit gegenüber einer verstreuten Mannigfaltigkeit von konkreten Einzelfällen ... in der Vergleichung Evidenz." (5)
Nun liegt es zwar nach HUSSERL wohl im Problemkreis der logischen Kunstlehre, die psychischen Bedingungen zu erforschen, unter welchen uns die Evidenz im Urteilen aufleuchtet und er gibt nach dem obigen Zitat ausdrücklich zu, daß die Wahrheit als Möglichkeit evidenten Urteilens erfaßt werden kann. Eine "gewisse Beziehung" der logischen Sätze zum psychischen Charakter der Evidenz gesteht HUSSERL zwar zu, doch - und das ist das Spezifische an seiner Theorie - ist diese Beziehung als eine "rein ideale und indirekte" (6) zu betrachten. Wenn man nun auch noch nach diesen Sätzen, die HUSSERL aufstellt, einen gewissen Zusammenhang zwischen Wahrheit und dem traditionellen Begriff der Evidenz bemerken zu können glaubt, so sprent HUSSERL doch diesen Zusammenhang völlig durch Folgendes, wo er mit Bezug auf rein logische Sätze, die in äquivalent zugehörige Evidenzsätze umgewandelt sind, sagt: die Psychologie kann diese Evidenzsätze nicht als ihr Eigentum beanspruchen.
    "Sie ist eine empirische Wissenschaft, die Wissenschaft von den psychischen Tatsachen. Psychologische Möglichkeit ist also ein Fall von realer Möglichkeit. Jene Evidenzmöglichkeiten sind aber ideale. Was psychologisch unmöglich ist, kann ideal gesprochen sehr wohl sein. Die Auflösung des verallgemeinerten Problems der drei Körper, sagen wir des Problems der n Körper, mag jede menschliche Erkenntnisfähigkeit überschreiten. Aber das Problem hat eine Auflösung, und so ist eine darauf bezügliche Evidenz möglich. Es gibt dekadische Zahlen mit Trillionen Stellen, und es gibt auf sie bezügliche Wahrheiten. Aber niemand kann sich solche Zahlen wirklich vorstellen und die auf sie bezüglichen Additionen, Multiplikationen usw. wirklich ausführen. Die Evidenz ist hier psychologisch unmöglich, und doch ist sie, ideal zu reden, ganz gewiß ein mögliches, psychisches Erlebnis." (7)
Damit behauptet HUSSERL die Idealität der Wahrheit und ihre Unabhängigkeit von der realen Evidenz. Das heißt (mit starkem Anklang an platonische Gedankengänge): daß die Wahrheit nicht von der Erkenntnisfähigkeit intelligenter Wesen abhängt, sondern daß sie für sich und in sich beruhend über den Möglichkeiten realer Evidenz steht, ohne darum minder wahr zu sein. Das n-Körper-Problem z. B. hat eine Auflösung, wenn es auch keine wirklichen, keine konkreten Urteile gibt, in denen die Lösung dieses Problems ausgesprochen ist. Daß es ein endgültiges Urteil über dieses n-Körper-Problem nicht wirklich gibt, vielleicht sogar für unsere menschliche Intelligenz nicht geben kann, darauf kommt es HUSSERL gar nicht an, denn die Idealität der Wahrheit fordert gar keine reale Existenz in Urteilen. Allein die ideale Existenz der Lösung des n-Körper Problems genügt, um sagen zu können:
    "Die Evidenz ist hier psychologisch unmöglich und doch ist sie ideal zu reden ganz gewiß ein mögliches psychisches Erlebnis." (8)
Die Wahrheit selbst besteht unabhängig davon, ob Urteile wirklich gefällt werden.

Dagegen erhebt sich nun die Frage, ob nicht wirklich existierende Urteile, wie die als ideale Möglichkeit angenommene Lösung des n-Körperproblems, überhaupt wahr oder falsch sein können. Man kann sagen, daß Logik nur da möglich ist, wo Urteile sind, und daß Urteile, die überhaupt nicht gefällt worden sind, weder wahr noch falsch sein können. Ich kann mit Evidenz - und zwar mit realer Evidenz - einsehen, daß im konkreten Fall, wo ich die Bewegung von n gravitierenden Körpern bestimmen könnte, oder wo ich mit trillionenstelligen Zahlen rechnen könnte, ich zur mit realer Evidenz auftretenden Einsicht bestimmter Wahrheiten, die sich dann in realen Urteilen ausdrücken lassen, gelangen könnte. In diesem Fall aber stützt sich meine Erkenntnis doch auf Tatsachen, nämlich auf die mit realer Evidenz eingesehene Tatsache, daß sich das Rechnen mit trillionenstelligen Zahlen ebenso auf die Gesetze des dekadischen Systems gründet, wie das Rechnen mit ein-, zwei-, drei- usw. stelligen Zahlen. Ebenso sehe ich mit realer Evidenz ein, daß die Bewegungen der n-Körper den Gesetzen NEWTONs entsprechend verlaufen. Aber nur bei diesen Einsichten, die sich eben selbst schon in wirklichen Urteilen bekunden, kann von Wahrheit die Rede sein. Sie stützen sich auf Tatsachen und sind eigentlich nichts weiter, als die evidente Einsicht in die Eigenschaften des dekadischen Systems und der Gesetze NEWTONs.

Dieser Einwand ist jedoch nur teilweise stichhaltig. Er gründet sich auf die Voraussetzung, daß Logik nur da möglich ist, wo Urteile sind; und folgert daraus: da das n-Körper-Problem keine wirkliche Auflösung hat, kann auch nicht davon die Rede sein, daß die, wenn auch ideal mögliche Auflösung wahr ist. Sofern es sich um Sätze handelt, von denen auch nicht die Möglichkeit idealer Existenz mit realer Evidenz eingesehen werden kann, besteht dieser Einwand gewiß zu Recht. Sofern es sich aber um Sätze handelt, wo zwar diese Möglichkeit mit realer Evidenz eingesehen wird, aber zugleich die Unmöglichkeit, mit der uns gegebenen Intelligenz eine solche Auflösung zu verwirklichen, kann allerdings von Wahrheiten gesprochen werden, die unabhängig von wirklich gefällten Urteilen bestehen. Denn ihre Unabhängigkeit ist nicht absolut, sondern durch die Beschränktheit der menschlichen Intelligenz bedingt. Damit läßt es sich wohl vereinen, daß es zwar Wahrheiten gibt, die, da sie nicht in aktuellen Urteilen gefaßt werden können, nicht mit realer Evidenz einzusehen sind, aber doch indirekt als mögliche Wahrheiten mit darauf bezüglicher Evidenz erfaßt werden können. Daraus ergibt sich aber, daß nicht die möglichen Wahrheiten, sondern die Möglichkeit solcher Wahrheiten erfaßt werden kann. Und da diese Möglichkeit selbst von Tatsachen abgeleitet ist - die Möglichkeit der Lösung des n-Körper-Problems von den Gesetzen NEWTONs und diese wiederum von bestimmten physikalischen Tatsachen - kann gesagt werden, daß auch jene ideale Auflösung des n-Körper-Problems, obwohl sie in keinem wirklichen Urteil ausgesprochen ist, wahr ist; diese, wie HUSSERL sagt, ideale Wahrheit ist jedoch nur eine, wenn auch evidente, Möglichkeit aufgrund wirklicher Urteile, die mit realer Evidenz gefällt wurden. Mit dieser Modifikation mag auch die Idealität der Wahrheit zugestanden werden. Ob allerdings dann noch von Idealität der Wahrheit in einem strengen Sinn gesprochen werden kann, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls liegt diese Modifikation nicht im Sinne HUSSERLs, der radikal genug ist, um zu behaupten:
    "... gibt es für gewisse Wahrheitsklassen keine Wesen, die ihrer Erkenntnis fähig sind - dann bleiben diese idealen Möglichkeiten ohne erfüllende Wirklichkeit. ... Aber jede Wahrheit bleibt was sie ist, sie behält ihr ideales Sein. Sie ist nicht irgendwo im Leeren, sondern ist eine Geltungseinheit im unzeitlichen Reich der Ideen. Sie gehört zum Bereich des absolut Geltenden, in dem wir zunächst all das einordnen, von dessen Geltung wir Einsicht haben oder zumindest eine begründete Vermutung, und zu dem wir weiterhin auch den für unser Vorstellen vagen Kreis des indirekt und unbestimmt als geltend Vermuteten rechnen, also dessen, was gilt, während wir es nicht erkannt haben, und vielleicht niemals erkennen werden." (9)
Daß mit der Möglichkeit, auch unbestimmt als geltend Vermutetes unter die idealen Wahrheiten einrechnen zu können, einer Art logischen Agnostizismus vorgearbeitet wird, der mit einigen Änderungen leise an den schon eingangs erwähnten theologischen Standpunkt RITSCHLs und AUGUSTE SABATIERs gemahnt, erhellt sich daraus, daß dann einer Annahme idealer Wahrheiten, die von keinem Menschen, vielleicht überhaupt von keinem intelligenten Wesen je geahnt werden und so ein mystisches Dasein jenseits aller Erkenntnis führen, nichts im Weg steht. Daß gegen ein solches Reich idealer Wahrheiten ähnliche Bedenken erwachen, wie gegen PLATONs Reich der Ideen, und auch wie gegen den religiösen Agnostizismus, ist sehr wahrscheinlich. Ein strikter Gegenbeweis gegen die Annahme von Wahrheiten, die unsere Erkenntnis übersteigen, erscheint aber, wenn er auch möglich sein sollte, überflüssig, da es an einem Beweis dieses unzeitlichen Reiches idealer Wahrheiten mangelt.

Auch hier erscheint ein Ausweg nur dadurch möglich zu sein, daß man das Reich der idealen Wahrheiten als eine Fiktion im Sinne VAIHINGERs ansieht.


Psychologie und Logik

Man kann es sowohl als eine Folge, als auch als eine Voraussetzung der Identität der Wahrheit ansehen, daß die logischen Gesetze mit psychologischen Tatsächlichkeiten nichts zu tun haben. Als Folge, insofern man die Idealität der Wahrheit voraussetzt; denn aus eben dieser Idealität müßte sich ergeben, daß alle auf Wahrheit bezüglichen Gesetze in gleicher idealer Unabhängigkeit von realen Erkenntnisfähigkeiten bestehen, wie die Wahrheiten oder "die" Wahrheit selbst, die erhben über alles Hier und Jetzt, über alles Konkrete und Individuelle, ja sogar erhaben über alle menschlichen und übermenschlichen Erkenntnisfähigkeiten ist. Als eine Voraussetzung, insofern die Idealität der Wahrheit, wenn überhaupt, so aus der tatsächlichen Unabhängigkeit der logischen Gesetze von allem Psychologischen abzuleiten ist. Jedenfalls bedingen sich die Idealität der Wahrheit und die Unabhängigkeit der logischen Gesetze von den Gesetzen für Psychisches gegenseitig. Eine Theorie der Idealität der Wahrheit mußte also notwendig auch eine Theorie der absoluten Logik sein. Im Mittelpunkt der Untersuchungen HUSSERLs steht daher die Widerlegung des sogenannten Psychologismus zugunsten einer reinen, absoluten Logik.

Wichtig für HUSSERLs Standpunkt ist darum die Behauptung:
    "Hätten die logischen Gesetze ihre Erkenntnisquelle in psychologischen Tatsächlichkeiten, wären sie z. B., wie die Gegenseite gewöhnlich lehrt, normative Wendungen psychologischer Tatsachen, so müßten sie selbst einen psychologischen Gehalt besitzen, , und zwar in einem doppelten Sinn: sie müßten Gesetze für Psychisches sein und zugleich die Existenz von Psychischem voraussetzen, bzw. einschließen. Dies ist nachweislich falsch. Kein logisches Gesetz impliziert einen matter of fact, auch nicht die Existenz von Vorstellungen oder Urteilen oder sonstigen Erkenntnisphänomenen. Kein logisches Gesetz ist - nach seinem echten Sinn - ein Gesetz für Tatsächlichkeiten des psychischen Lebens, also weder für Vorstellungen (d. h. Erlebnisse des Vorstellens) noch für Urteile (d. h. Erlebnisse des Urteilens." (10) -
Und im Anschluß daran:
    "Man übersieht, daß die natürlich verstandenen Gesetze weder der Begründung noch dem Inhalt nach Psychologisches (also Tatsächlichkeiten des Seelenlebens) voraussetzen und jedenfalls nicht mehr als die Gesetze der reinen Mathematik." (11)
Das kritische Moment in dieser Behauptung ist, daß kein logisches Gesetz ein Gesetz für Urteile, d. h. psychische Erlebnisse des Urteilens ist. Um diese Behauptung gruppiert sich im Wesentlichen HUSSERLs Argumentation für die Unabhängigkeit der Logik von allen psychischen Akten, einschließlich der Urteile. Das Wort "Urteil" wird gewöhnlich von den Psychologisten nicht prägnant genommen und ihre Fehlschlüsse beruhten hauptsächlich darauf, daß sie nicht zwischen dem psychischen Akt des Urteils und dem, was mit diesem Akt gemeint ist, unterschieden. Aus der von den Psychologisten gemachten Äquivokation [Mehrdeutigkeit - wp] im Wort "Urteil" leiteten sich alle Verwechslungen von den psychologischen Partien der logischen Kunstlehre mit den idealen Bedeutungseinheiten her. Diese letzteren allein sind die Unterlagen für die rein logischen Gesetze (12). (Schon hieraus ersieht man, daß für HUSSERL die Idealität der Wahrheit als Voraussetzung seine Argumentation leitet.) In der Logik werden
    "nicht individuelle Phänomene, sondern Formen intentionaler Einheiten ... analysiert, nicht Erlebnisse des Schließens, sondern Schlüsse." (13) -
Und da HUSSERL die reine Logik und Arithmetik der Psychologie gegenüberstellt, sind hier noch zwei Stellen angeführt, die seinen Standpunkt charakterisieren:
    "Im Umfang des logischen Begriffs Urteil steht nicht gleichberechtigt das Urteil 2 x 2 = 4, das ich soeben erlebe, und das Urteil 2 x 2 = 4, das gestern und sonst wann und in sonstwelchen Personen Erlebnis war." (14) Und:

    "Wer aussagt: Von zwei kontradiktorischen Urteilen ist eins wahr und eins falsch, meint, wenn er sich nicht mißversteht ..., nicht ein Gesetz für Urteilsakte, sondern ein Gesetz für Urteilsinhalte auszusagen, mit anderen Worten, für die idealen Bedeutungen, die wir kurzweg Sätze zu nennen pflegen. Also lautete der bessere Ausdruck: Von zwei kontradiktorischen Sätzen ist einer wahr und einer falsch." (15)
Zur Kritik dieses Standpunktes ist zu sagen, daß der logische Satz als Abstraktion vom Urteil wohl berechtigt ist, daß er aber das Urteil voraussetzt und darin eine gewisse Abhängigkeit vom Urteil bezeugt. Wenn ich die zeitlose Wahrheit 2 x 2 = 4 meine, so gelange ich zu dieser "idealen Bedeutung" dadurch, daß ich von den im aktuellen Erlebnis 2 x 2 = 4 enthaltenen individuellen und zeitlichen Momenten abstrahiere. Ich abstrahiere aber damit nicht von allem Psychischen, sondern nur von allem Individuellen und Zeitlichen. Abstrahierte man von allem Psychischen überhaupt, so hieße das: der Satz 2 x 2 = 4 ist unabhängig von allem Gedachtwerden in eine "unzeitlichen Reich der Ideen"; er ist unabhängig von allem Tatsächlichen des Bewußtseins und gehört zum
    "Bereich des absolut Geltenden ... zu dem wir auch den für unser Vorstellen vagen Kreis des indirekt und unbestimmt als geltend Vermuteten rechnen." (16)
Es erweist sich also - was schon angedeutet wurde -, daß die radikale Trennung der rein logischen Sätze von den Urteilsakten die Idealität der Wahrheit, die jenseits aller Erkenntnismöglichkeiten liegt oder zumindest liegen kann, schon voraussetzt. Demnach könnte es vielleicht auch Wesen mit gesteigerter Intelligenz geben, für die der Satz 2 x 2 = 5 ein Urteil im idealen Sinn und wahr ist. Als Satz, im Sinn von idealer Aussage-Bedeutung, könnten 2 x 2 = 5 nicht falsch genannt werden, wenn er auch, nach HUSSERLs Terminologie, nicht richtig genannt werden dürfte; denn "richtig ist ein Urteil ... dessen Inhalt ein wahrer Satz ist." (17) Das könnte aber so gewendet werden, daß Sätze wahr sein können, die als Inhalte von Urteilen falsch sind. Denn das Urteil 2 x 2 = 5 ist ja falsch; es müßte also falsche Urteile mit wahren Sätzen als Inhalt geben können. Diese Wendung zeigt deutlich, daß der logische Satz im Urteil enthalten sein muß und erst durch Abstraktion aus diesem hervorgehen kann. Sobald man den logischen Satz völlig vom psychischen Erlebnis trennt, eröffnen sich Unklarheiten und Widersprüche.

HUSSERLs Argumentation für die Unabhängigkeit der logischen Sätze vom Psychischen kehrt immer wieder auf die Voraussetzung zurück, daß die logischen Sätze zeitlos gültig, die psychologischen Gesetze aber durchaus inexakt sind. Die logischen "Prinzipien", die den eigentlichen Kern der Logik ausmachen, sind von absoluter Exaktheit, wogegen, so behauptet HUSSERL, die psychologischen Gesetze niemals apriorischen Charakter haben, selbst wenn sie als exakte Naturgesetze ausgesprochen werden könnten. Denn
    "kein Naturgesetz ist a priori, d. h. einsichtig erkennbar. Der einzige Weg, ein solches Gesetz zu begründen und zu rechtfertigen, ist die Induktion aus einzelnen Tatsachen der Erfahrung. Die Induktion begründet aber nicht die Geltung des Gesetzes, sondern nur die mehr oder weniger hohe Wahrhscheinlichkeit und nicht das Gesetz." (18)
Dagegen wird aber der Psychologist einzuwenden haben, daß eben aus der absoluten Gültigkeit der logischen Prinzipien folgt, daß die psychologischen Gesetze durchaus nicht der Exaktheit entbehren und daß es nur am vorläufigen Mangel des vollkommenen Nachweises absolut exakter psychologischer Gesetze liegt, um zu beweisen, daß auch die logischen Sätze auf psychischen Gesetzmäßigkeiten gründen. Was aber den Einwand betrifft, daß die Induktion, durch die wir zu exakten Naturgesetzen gelangen, nur die Wahrscheinlichkeit der Geltung dieser Gesetze begründet; so ist darauf zu erwidern, daß es nicht unbedingt den Naturgesetzen zukommt, daß sie nur wahrscheinlich gültig sind. Allerdings ist ein Unterschied zwischen den psychischen Gesetzen, von denen auch die logischen Gesetze abhängen, und den Gesetzen über die "äußere" Natur. Während wir den letzteren nur Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben vermögen, sind die ersteren apodiktisch [so gut wie sicher - wp]. Dieser Unterschied erklärt sich aber hinreichend aus der richtig verstandenen Scheidung von Vorstellung und Vorstellungsgegenstand: Bei konkreten Vorstellungen hat diese Scheidung einen guten Sinn, Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung sind da getrennt. Bei den logischen Sätzen aber sind der Gegenstand der Vorstellung nur in und vermöge der Vorstellung. (Natürlich ist ein extramentales Sein der logischen Sätze undenkbar.) Und es ist die Aufgabe der Erkenntnistheorie, aus dieser Eigenart der logischen Sätze, die unzweifelhaft eine vollkommenere Erfahrung vom Gegenstand der Vorstellung bedingt, zu erklären, warum wir den exakten Gesetzen über die "äußere" Natur Wahrscheinlichkeit, den exakten Naturgesetzen des Denkens aber Apodiktizität zusprechen.

Es muß aber zugestanden werden, daß all diese psychologistischen Argumente reichlich voraussetzungsvoll und zumindest noch nicht reif genug sind, um die Theorie HUSSERLs wirkungsvoll zu bekämpfen. Bei beiden Parteien, den Anhängern des Psychologismus wie den Anhängern der absoluten Logik, wird es letztenendes auf eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] hinauslaufen. Wenn die einen zur Fundierung ihrer Theorie der Voraussetzung bedürfen, daß die logischen Sätze sich tatsächlich auf psychische Tatsachen gründen, bedürfen die anderen der Voraussetzung, daß die Wahrheit tatsächlich unabhängig ist von einem erkennenden Subjekt. Es soll darum, wie schon teilweise im vorhergehenden Kapitel, untersucht werden, inwiefern die Wahrheit ansich überhaupt sein und, wie HUSSERL behauptet, das Korrelat des Seins ansich bilden und inwiefern diese im unzeitlichen Reich der Ideen seiende Wahrheit von uns Zeitlichen überhaupt erfaßt werden kann.


Evidenz und Wahrheit

Schon im vorletzten Kapitel wurde mehrfach angedeutet, inwiefern HUSSERL zur Annahme einer Wahrheit ansich, jener dem "unzeitlichen Reich der Ideen", dem "Bereich des absolut Geltenden" zugehörigen Wahrheit kommt, und es wurde darauf hingewiesen, daß diese zur Voraussetzung erhobene Annahme dazu führt, das Logische vom Psychischen radikal zu trennen, die Unabhängigkeit der Wahrheit vom erkennenden Subjekt zu behaupten. Es wurde auch darauf hingewiesen, daß die Scheidung zwischen Reinlogischem und Psychischem, zwischen Sätzen und Urteilen nur durch die Abstraktion vom Urteil auf den Satz möglich und keine radikale ist und daß die Theorie HUSSERLs die Möglichkeit offen läßt, daß es falsche Urteile mit wahren Sätzen als Inhalt gibt. - Es bleibt nun noch eine wichtige Frage zur Erörterung von HUSSERLs Standpunkt übrig, die Frage nämlich, wie es überhaupt bei der vorausgesetzten radikalen Scheidung von Logischem und Psychischem möglich ist, daß die Wahrheit ansich, wenn sie wirklich eine "Geltungseinheit im unzeitlichen Reich der Ideen" ist, vom erkennenden Subjekt unzweideutig erfaßt wird.

Darauf wird, wie schon früher zitiert, von HUSSERL geantwortet:
    "Die Wahrheit erfassen wir nicht als einen empirischen Inhalt, der im Fluß psychischer Erlebnisse auftaucht und wieder verschwindet; sie ist nicht Phänomen unter Phänomenen, sondern sie ist Erlebnis in jenem total geänderten Sinn, in dem ein Allgemeines, eine Idee, ein Erlebnis ist." (19)
Ferner: die Wahrheit ist eine Idee und
    "wir erleben sie in einem Akt auf Anschauung gegründeter Ideation ... und gewinnen auch von ihrer identischen Einheit gegenüber einer verstreuten Mannigfaltigkeit von konkreten Einzelfällen ... in der Vergleichung Evidenz." (20)
Es erscheint aber allerdings fraglich, ob damit für die Objektivität der Erkenntnis etwas gewonnen ist; denn nicht nur durch die auf "Anschauung" gegründete "Ideation", sondern auch durch die in der "Vergleichung" gewonnene "Evidenz" sind mehrfach subjektive Momente in die Wahrheitserkenntnis verwoben. Was die Evidenz betrifft, so versucht es allerdings HUSSERL, um psychologistischen Deutungen vorzubeugen, wiederum mit einer Unterscheidung, die analog ist der Unterscheidung zwischen logischen Sätzen und Urteilsakten. Er versucht nämlich der realen Evidenz, gegen die er selbst gelegentlich den Vorwurf richtet: man möchte fragen "worauf ich die Autorität dieses besonderen Gefühls gründet ..." (21), - eine ideale Evidenz gegenüberzustellen. HUSSERL führt diese ideale Evidenz wie folgt ein:
    "Es gibt dekadische Zahlen mit Trillionen-Stellen und es gibt auf sie bezügliche Wahrheiten. Aber niemand kann sich solche Zahlen wirklich vorstellen und die auf sie bezüglichen Additionen, Multiplikationen usw. wirklich ausführen. Die Evidenz ist hier psychologisch unmöglich, und doch ist sie, ideal zu sprechen, ganz gewiß ein mögliches psychisches Erlebnis." (22)
Schon hier muß eingewendet werden, daß dieses mögliche psychische Erlebnis nicht im idealen Sinn möglich, sondern nur fiktiv möglich ist: insofern wir nämlich von möglichen psychischen Erlebnissen die auf trillionenstellige Zahlen bezügliche Wahrheiten betreffen, nur reden können, wenn wir Wesen mit dementsprechend gesteigerten Fähigkeiten fingieren. Wir sprechen hier also von möglichen psychischen Erlebnissen, als ob es Wesen, in denen solche Erlebnisse überhaupt möglich wären, wirklich gäbe - geben aber doch zugleich zu, daß das nicht der Fall ist. Würden wir von idealen Evidenzmöglichkeiten sprechen, so hieße das zumindest: die Evidenz ist ein mögliches psychisches Erlebnis, ganz unabhängig davon, ob Intelligenzen denkbar sind, die mit trillionenstelligen Zahlen zu operieren und aus solchen Operationen resultierende Wahrheiten mit Evidenz einzusehen vermögen. Dieser Unterschied zwischen idealer fiktiver Evidenzmöglichkeit ist wichtig, denn während bei der idealen Evidenzmöglichkeit tatsächlich jede Abhängigkeit auch von einem fiktiven Subjekt ausgeschlossen werden müßte; kann bei der fiktiven Evidenzmöglichkeit zumindest nicht die Unabhängigkeit von einem, wenn auch nur fiktiven Subjekt behauptet werden.

Eine positive Bestimmung dessen, was er unter idealer Evidenzmöglichkeit versteht, scheint HUSSERL auch an der folgenden Stelle nicht geglückt zu sein; er sagt:
    "Evidenz ist kein akzessorisches Gefühl, das sich zufällig oder naturgesetzlich an gewisse Urteile anschließt. Es ist überhaupt kein psychischer Charakter von einer Art, die sich an jedes beliebige Urteil einer gewissen Klasse einfach anheften läßt. .... Evidenz ist vielmehr nichts anderes als das Erlebnis der Wahrheit. Erlebt ist die Wahrheit natürlich in keinem anderen Sinn, als in welchem überhaupt ein Ideales im realen Akt erlebt sein kann. Mit anderen Worten: Wahrheit ist eine Idee, deren Einzelfall im evidenten Urteil ein aktuelles Erlebnis ist." (23) -
Hier spitzt sich das Problem auf die fundamentale Frage zu: wie kann überhaupt ein Ideales in einem realen Akt erlebt werden? Ist eine solche Transplantation der idealen Wahrheit in ein aktuelles Erlebnis überhaupt möglich?

Schon LEIBNIZ fand auf diese Frage die Antwort:
    "Wo wären diese Ideen, wenn es keinen Geist gäbe und was würde dann der eigentliche Grund dieser Gewissheit ewiger Wahrheiten werden? Damit kommen wir endlich zur letzten Grundlage der Wahrheiten, Erkenntnis dieses höchsten und universellen Geistes, der nicht anders existieren kann, dessen Verständnis, um die Wahrheit zu sagen, die Region der ewigen Wahrheiten ist." (24)
Auch UPHUES gelangt in seiner Auseinandersetzung mit der Theorie HUSSERLs zu einem ähnlichen Ergebnis. Er schließt aus der Gegenüberstellung der beiden Sätze: "Eine Beziehung zum Erkennen ist von der Wahrheit ihrem Begriff nach unabhängig" und: der Wahrheit "Gültigkeit ist nicht abhängig, vom Vorhandensein eines Falles, in dem sie angewendet werden kann", darauf, daß die Wahrheiten insofern sie ans Erkennen, doch nicht aber ans aktuelle Erkennen gebunden sind, in einem "überzeitlichen Bewußtsein, das mit seiner Erkenntnis das System aller Wahrheiten umfaßt" (25) erkannt werden können.
    "Wie können wir die Wahrheit erkennen", fragt er, "die doch einerseits von uns unabhängig ist und andererseits, um erkannt zu werden mit uns auf das Innigste verbunden sein muß? Wir antworten: Nur durch Teilnahme an einem überzeitlichen Bewußtsein, an seiner Erkenntnis aller Wahrheit, nur durch eine innige Verbindung desselben mit uns, die man wohl als Erleuchtung bezeichnen kann." (26)
Daß diese Folgerung schlüssig aus der Theorie HUSSERLs hervorgeht, wurde schon eingangs betont; denn es ist in der Tat keine andere Erkenntnis der überzeitlichen, und was sublimer ist: übermenschlichen Wahrheit zu denken, als durch ein überzeitliches Bewußtsein, dessen wir in den geheiligten Augenblicken der Erleuchtung teilhaftig werden. Ob ein solcher logischer Mystizismus erfolgreich gegenüber einer rationalistischen Kritik verteidigt werden kann, diese Frage zu beantworten, liegt nicht im Problemkreis der vorliegenden Arbeit. Hier soll nur erwähnt werden, daß er sich tatsächlich aus HUSSERLs Unabhängigkeitstheorie ergibt, während er den übrigen Ansichten dieses Logikers durchaus nicht entspricht. - Es wäre dem Himmel und Hölle setzenden Dualismus der religiösen Mystik entsprechend, wenn man gleich den wahren Sätzen auch falsche Sätze im unzeitlichen Reich der Idee existieren ließe. Die ersteren sind von den letzteren nur durch die Evidenz verschieden, und diese Evidenz ist, auch wenn sie "Erleuchtung" ist, doch immer ein Erlebnis; und wenn wir von Erlebnissen sprechen, so können wir Menschen nur jene Vorgänge und Zustände meinen, die sich in einer menschlichen oder menschenähnlichen Psyche vollziehen. So denken wir auch bei der Evidenz, die auf trillionenstellige Zahlen bezügliche Wahrheiten betrifft, doch nicht an eine andere Psyche, als die menschliche, sondern an eine entsprechend gesteigerte, aber menschliche Intelligenz, die mit trillionenstelligen Zahlen zu operieren imstande ist. Radikal losgelöst von der menschlichen Psyche ist kein Erlebnis, auch keine Evidenz, zu denken, weil uns eben nichts anderes gegeben und nichts anderes denkbar ist, als der menschliche Verstand. Mit anderen Erkenntnissen aber, als denen, die wir Menschen haben können, hat es auch die Logik nicht zu tun. Wenn wir den Boden dieser Erkenntnisse verlassen, so steht jeder der menschlichen Vernunft als Widerspruch erscheinenden Behauptung nichts im Weg und die ideale Existenz der falschen Sätze muß mit gleichem Recht behauptet werden können, wie die ideale Existenz der wahren Sätze.

Um diesen Konsequenzen vorzubeugen, versucht HUSSERL die Evidenztheorie, auf die seine Lehre unzweifelhaft hinausläuft, dadurch zu modifizieren, daß er die Zusammenstimmung zwischen Meinung und Gemeintem behauptet.
    "Das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem Gegenwärtigen, Erlebten, das sie meint, zwischen dem erlebten Sinn der Aussage und dem erlebten Sachverhältnis ist die Evidenz, und die Idee dieser Zusammenstimmung die Wahrheit." (27)
Um aber die Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen dem erlebten Sinn der Aussage und dem erlebten Sachverhalt überhaupt annehmen zu können, muß vorausgesetzt werden, daß der Sinn der Aussage und der Sachverhalt auf den sie sich bezieht, daß das evident Geurteilte und der Urteilsakt gewissermaßen auf einen gemeinsamen Koeffizienten gebracht werden können. Mit anderen Worten: es muß der Nachweis gelingen, daß das anschaulich Vorgestellte und für seiend Genommene im Urteil nicht nur ein Gemeintes, sondern, als was es gemeint ist, auch im Akt gegenwärtig ist. (28) Denn wenn, wie HUSSERL behauptet, die Idealität der Wahrheit ihre Objektivität ausmacht, so ruht das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen dem Sinn einer Aussage und dem Sachverhalt tatsächlich auf der Voraussetzung, daß es möglich ist, diese beiden (Sinn der Aussage und Sachverhalt) im Urteil zur Deckung zu bringen. - HUSSERL versucht nun, die Möglichkeit einer solchen Zusammenstimmung durch eine Analogie zu erweisen; er sagt:
    "Wahrheit verhält sich zur Evidenz analog, wie sich das Sein eines Individuellen zu seiner adäquaten Wahrnehmung verhält. Wieder verhält sich das Urteil zum evidenten Urteil analog, wie sich die anschauliche Setzung (als Wahrnehmung, Erinnerung und dgl.) zur adäquaten Wahrnehmung verhält. Das anschaulich Vorgestellte und für seiend Genommene ist nicht bloß ein Gemeintes, sondern, als was es gemeint ist, im Akt gegenwärtig. So ist das evident Geurteilte nicht bloß geurteilt (in urteilender, aussagender, behauptender Weise gemeint), sondern im Urteilserlebnis selbst gegenwärtig - gegenwärtig in dem Sinne, wie ein Sachverhalt in dieser oder jener Bedeutungsfassung und je nach seiner Art, als einzelner oder allgemeiner, empirischer oder idealer und dgl. gegenwärtig sein kann." (29) -
Was aber zunächst die Analogie zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis der Wahrheit betrifft, so muß gesagt werden, daß, wenn auch diese Analogie richtig wäre, sie doch nur den Rang eines richtigen Vergleiches beanspruchen könnte, aus dem jedoch keineswegs geschlossen werden müßte, daß das evident Geurteilte nicht bloß geurteilt, sondern im Urteilsakt selbst gegenwärtig ist. Dazu kommt aber noch, daß die Analogie selbst daran scheitert, daß von einem evidenten Urteil in einem analogen Sinn, wie von adäquater Wahrnehmung nicht die Rede sein kann. Denn während Wahrnehmung nur durch die Vermittlung der Sinne entsteht, fehlt beim Erfassen der Wahrheit die der Funktion der Sinne analoge Funktion. Heißt adäquate Wahrnehmung richtige Wahrnehmung im gleichen Sinn wie von der Richtigkeit eines Urteils gesprochen werden kann, so kann wieder nur in einem fiktiven Sinn von adäquater Wahrnehmung die Rede sein: nämlich als ob es möglich wäre, die realen Gegenstände der Wahrnehmung adäquat zu erfassen, denn faktisch ist an eine adäquate Wahrnehmung natürlich nicht zu denken. Aber auch ann, wenn die fiktive Möglichkeit einer adäquaten Wahrnehmung zugestanden wird, kann die Analogie nicht aufrecht erhalten werden, denn während wir in der Wahrnehmung, auch wenn sie adäquat wäre, nie die Dinge selbst haben können, haben wir in der Erkenntnis die Wahrheit selbst.

Aus der Unzulänglichkeit dieser Analogie erweist sich auch die Unzulänglichkeit der daraus gefolgerten Übereinstimmungstheorie. Denn was die Analogie schließlich beweisen sollte: daß die ideale Wahrheit gleicherweise zu erfassen ist, wie die realen Gegenstände der Wahrnehmung wahrgenommen werden können, ist die Voraussetzung dafür, daß der erlebte Sinn der Aussage und der erlebte Sachverhalt in der Evidenz zur Deckung kommen können. Und da eine absolute, unabhängige, ideale Wahrheit entweder, wie UPHUES folgert, nur in einem mysteriösen Akt der Erleuchtung erfaßt werden kann; oder, wenn die Möglichkeit dieser Erleuchtung verneint wird, nur annähernd erfaßt werden kann, weil nach der ganzen Organisation des menschlichen Denkens und Wahrnehmens ebenso faktisch ungmöglich wie die adäquate Wahrnehmung auch die evidente Erkenntnis der Wahrheit ist -, so folgt aus HUSSERLs Analogie und seiner Lehre von der Idealität der Wahrheit, daß es eine wirkliche Erkenntnis der Wahrheit gar nicht gibt, sondern nur eine approximative. Es ist also, nach HUSSERLs Terminologie nur von Evidenz in einem laxen Sinn zu sprechen, von der HUSSERL später einmal sagt:
    "In einem laxen Sinn sprechen wir von Evidenz, wo immer eine setzende Intention (zumal eine Behauptung) ihre Bestätigung durch eine korrespondierende und voll angepaßte Wahrnehmung, sei es auch eine passende Synthesis zusammenhängender Einzelwahrnehmungen findet. Von Graden und Stufen der Evidenz zu sprechen gibt dann einen guten Sinn." (30)
Von der Evidenz in einem erkenntniskritisch prägnanten Sinn aber sagt HUSSERL an der gleichen Stelle, daß sie in der "adäquaten Wahrnehmung, der vollen Selbsterscheinung des Gegenstandes - soweit er in einer erfüllenden Intention gemeint war", besteht.
    "Der Gegenstand ist nicht bloß gemeint, sondern so wie er gemeint ist und in Eins gesetzt mit dem Meinen, im strengsten Sinn gegeben; im Übrigen ist es gleichgültig, ob es sich um einen individuellen oder allgemeinen Gegenstand, um einen Gegenstand im engeren Sinn oder um einen Sachverhalt handelt ..." (31)
Die hier gegebene Bestimmung der Evidenz entspricht vollständig den oben zitierten Stellen aus dem ersten Band, und die hier gemachte Unterscheidung zwischen Evidenz in einem laxen und strengen Sinn, scheint auch meine Interpretation zu bestätigen, nach der im Anschluß an die Theorie HUSSERLs von einer approximativen Erkenntnis gesprochen werden kann. Nur scheint uns unter HUSSERLs Voraussetzung, daß die Idealität der Wahrheit ihre Objektivität ausmacht, von Evidenz im Sinne letzter Vollkommenheit, d. h. als "Erlebnis" der "vollen Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem als solchem" (32) nicht mehr die Rede sein zu können, da, kurz gesagt, auf keine Weise einzusehen ist, welches die Fenster sind, durch welche die Wahrheit aus ihrem unzeitlichen, idealen Reich unverändert in unsere Seele zu wandern vermag (LEIBNIZ), und andererseits die adäquate Wahrnehmung ebenso problematisch ist, wie die Wahrnehmung des Dings-ansich. Daraus geht hervor, daß, wenn Evidenz wirklich das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen dem erlebten Sinn der Aussage und dem erlebten Sachverhalt ist, Evidenz in einem strengen Sinn unmöglich ist. Das heißt weiterhin, daß die Wahrheit von uns Menschen immer nur annähernd, nie mit voller Gewißheit zu erfassen ist: - eine besondere Art des Relativismus, die sich dadurch von dem in der Einleitung gekennzeichneten Relativismus unterscheidet, daß zwar die Existenz der Wahrheit nicht geleugnet, aber durch die Kluft, die die Unabhängigkeitstheorie zwischen Wahrheit und Urteil legt, die urteilsmäßig ausgesprochene Wahrheit relativiert wird. -

Unsere Ausführungen stützen sich im wesentlichen darauf, daß durch die radikale Trennung des Reinlogischen vom Psychischen die Wahrheit in eine Sphäre gerückt wird, aus der sie nur durch einen unbegreiflichen Akt der Erleuchtung unverändert in den menschlichen Intellekt gelangen kann. Ich habe die Möglichkeit dieses Falles ohne Diskussion gelassen, da durch eine solche Voraussetzung die erkenntniskritische Untersuchung des Wahrheitsbegriffs den Boden der Gewißheit mit dem schwankenden Grund des Mystizismus vertauschen würde. Wie aber, wenn nun doch, sei es in einem Akt der Erleuchtung oder durch irgendeinen anderen Vorgang, die überzeitliche, ideale Wahrheit unverändert in den menschlichen Verstand eingehen könnte? Wenn es auf irgendeine Weise gelänge, die rein logischen Sätze, diese idealen Gebilde jenseits alles Individuellen und Psychischen, in völlig gleichwertige Urteilserlebnisse unzuwandeln? Welch anderes Kriterium gäbe es da noch, als eben diese blitzartige Erleuchtung, durch die einem die Wahrheit kund wird? Offenbar würde aber eine solche Theorie, die behauptet, daß wir die Wahrheit in einem Akt der Erleuchtung erfassen, durch nichts von einer Evidenztheorie zu unterscheiden sein. Denn auch hier käme es auf das "echte" Gefühl der Erleuchtung an, das, um das Beispiel der Fluxionsrechnungen zu wählen, für einen NEWTON zwingend, für einen BERKELEY zweifelhaft sein konnte. Jedenfalls aber würde eine solche Theorie soviel Anforderungen an die Voraussetzungswilligkeit ihrer Anhänger stellen, daß zwischen Logik und Theologie kaum noch ein Unterschied wäre.

Um die Theorie HUSSERLs nochmals in großen Zügen zu wiederholen, ist aus den vorhergehenden Ausführungen Folgendes hervorgehoben:

HUSSERLs Argumentation ruht auf der Voraussetzung, daß die Objektivität der Wahrheit auf ihrer überempirischen Idealität beruth und daß die Wahrheit unabhängig von allem Individuellen, Psychischen und Zeitlichen einem "unzeitlichen Reich der Ideen" angehört. "Die Idealität der Wahrheit macht ihre Objektivität aus." Aus dieser Idealität der Wahrheit folgert HUSSERL die für seine Theorie wichtige Unterscheidung zwischen rein logischen Sätzen und Urteilsakten und polemisiert aufgrund der Unterscheidung zwischen Logischem und Psychischem gegen den Psychologismus, der es nicht vermag, die Wahrheit vom menschlichen Subjekt zu emanzipieren und ihren absoluten Charakter zu behaupten.

Wir erleben die Wahrheit "wie jede andere Idee in einem Akt auf Anschauung gegründeter Ideation", sagt HUSSERL, und, nachdem er der Scheidung zwischen Sätzen und Urteilen entsprechend zwischen idealer und realer Evidenz unterschieden hat, kommt er zu dem Schluß: "Wahrheit ist eine Idee, deren Einzelfall im evidenten Urteil ein aktuelles Erlebnis ist." (33) Die damit ausgesprochene Evidenztheorie bringt er in Einklang mit einer Art Übereinstimmungstheorie, indem er sagt:
    "das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem Gegenwärtigen, Erlebten, das sie meint, zwischen dem erlebten Sinn der Aussage und dem dem erlebten Sachverhalt ist die Evidenz, und die Idee dieser Zusammenstimmung die Wahrheit." (34)
Demgegenüber habe ich darauf hingewiesen, daß die positive Bestimmung der Idealität der Wahrheit HUSSERL nicht völlig gelingt, und daß es sich bei der Idealität der Wahrheit wohl um eine Fiktion handelt, die als unentbehrliche, aber auch unbeweisbare Voraussetzung von HUSSERLs Unabhängigkeitstheorie anzusehen ist. Eben das Wesen der Fiktion aber schließt aus, daß das Sein der idealen Wahrheit wirklich behauptet wird. HUSSERLs Theorie aber, die sich auf das wirkliche Sein der Idealität der Wahrheit stützt, haben wir dadurch zu bestreiten versucht, daß wir darauf hinwiesen, daß ein unveränderliches Hinüberwandern der extramentalen Wahrheiten in unseren Intellekt nur durch ein Wunder geschehen kann. Auch habe ich nachzuweisen versucht, daß die Evidenz- und Übereinstimmungstheorie, auf die HUSSERLs Theorie hinausläuft, nur durch die Annahme eines, wie UPHUES sagt, überzeitlichen Bewußtseins mit der Idealität der Wahrheit zu vereinbaren ist. Da ein solcher logischer Mystizismus aber nicht im Sinn von HUSSERLs Theorie liegt, kann unter den gegebenen Voraussetzungen nur von einer Evidenz im laxen Sinn die Rede sein.


Überleitung

Sowohl in RICKERTs Werttheorie, wie auch in HUSSERLs Theorie von der Idealität der Wahrheit kam es darauf an, das erkennende Subjekt zugunsten der Objektivität der Wahrheit zu eliminieren. In einem streng betonten Gegensatz zu allen relativistischen Tendenzen versuchen beide Autoren, das Urteil gewissermaßen zu idealisieren: RICKERT, indem er das Vorstellungsmäßige im Urteilsakt in die eindeutige Frage zurückdrängt und nur das mit der Bejahung oder Verneinung gegebene rein Urteilsmäßige in die Untersuchung zieht; HUSSERL, indem er der Realität der Urteilsakte die Idealität der "Sätze" gegenüberstellt. Während RICKERT von den weiten Horizonten des Subjekts, des denkenden und erkennenden Individuums, aus seine Kreise immer enger zieht, bis er im Sollen den Punkt gefunden zu haben glaubt, von dem aus er die ganze Welt des Zweifels aus den Angeln zu heben vermag - während RICKERT also die Objektivität der Wahrheit aus dem Subjektiven herauszuholen und zu beweisen strebt; ignoriert HUSSERL das erkennende Subjekt vollständig und setzt die absolute Unabhängigkeit und Objektivität der Wahrheit als Leitstern seiner Philosophie voraus, während er die ganze Wucht seiner Argumentation gegen den Psychologismus wendet, der seiner Ansicht nach bisher das richtige Verständnis der Logik unmöglich gemacht hat. Beide Autoren streben danach, der Wahrheit eine absolute, widerspruchslose Gültigkeit zu sichern und gehen dabei im Wesentlichen von den logischen Sätzen aus, deren objektive Wahrheit vorausgesetzt wird.

Ich will nun im Nachfolgenden versuchen, eine Theorie darzustellen, die in vollem Kontrast zu den bisher geschilderten Theorien steht und, ähnlich dem Pragmatismus oder Humanismus, das Urteil als Durchgangsstadium zum Handeln zu betrachten. Diese Theorie, die VAIHINGER in seiner "Philosophie des Als Ob" entwickelt, scheint mir aber mehr als eine pragmatische Deutung des Wahrheitsbegriffs zu geben, insofern sie sich nicht nur auf Tatsachenwahrheiten beschränkt, sondern auch die logischen und mathematischen Prinzipien umfaßt und letzten Endes die biologische Erkenntnistheorie überwindet. Wie sie dazu kommt, trotz der Widersprüche, die sie im theoretischen Denken aufzuzeigen vermag, dennoch von Wahrheit, zumindest in einem praktischen Sinn, zu sprechen, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.
LITERATUR - Adolf Lapp, Versuch über den Wahrheitsbegriff, [Inaugural-Dissertation] Erlangen 1912
    Anmerkungen
    1) Emile Boutroux, Wissenschaft und Religion, 1910, Seite 197f: "Jede theoretische Erkenntnis ... ist unfähig, den Gegenstand der Religion zu erfassen; denn die Fähigkeit zu erkennen ist, so wie sie im Menschen besteht, auf das Verständnis der Gesetze der Materie beschränkt, und hier handelt es sich um rein geistige Dinge."
    2) Logische Untersuchungen (LU), Halle/Saale 1900, Seite 197.
    3) LU 197
    4) LU 128
    5) LU 128
    6) LU 183
    7) LU 185
    8) LU 185
    9) LU 129/30
    10) LU 69
    11) LU 70
    12) LU 175
    13) LU 175
    14) LU 176
    15) LU 176
    16) LU 130
    17) LU 176, Anmerkung
    18) LU 62
    19) LU 128
    20) LU 128
    21) LU 189
    22) LU 185
    23) LU 190
    24) Leibniz, Nouveaux Essais Liv. IV, chap. XI, ed. Erdmann, Seite 379
    25) Goswin Uphues, Zur Krisis der Logik, 1903, Seite 85.
    26) LU 86
    27) LU 190
    28) LU 190
    29) LU 190
    30) LU II 593
    31) LU II 594
    32) LU II 594
    33) LU 190
    34) LU 190