F. KlinglerP. RéeA. DransfeldR. GeijerF. BrentanoF. Klein | ||||
Über das Gewissen
Der Titel des Gewissens begegnet uns aber weiterhin in den Schriften von drei christlichen Aposteln, nämlich bei PETRUS, bei PAULUS und bei demjenigen, welcher den sogenannten Brief an die Hebräer verfaßt hat. Es ist nicht wahrscheinlich, daß diese Männer durchaus das Gleiche unter dem Wort verstehen, was im Sprachgebrauch der Stoiker gemeint ist. Dieses ist vielmehr nicht zu erwarten in den Fällen, wo die Apostel das Wort in einer direkten Beziehung auf Gott aussprechen. Das "Bewußtsein von Gott", wie wir die Formel übersetzen müssen, mag ja übrigens alles in sich schließen, was wir sonst unter Gewissen verstehen, dennoch ist das Zugeständnis unumgänglich, daß dieser Inhalt in jener Formel anders motiviert erscheint, als in der stoischen Vorstellung, für welche der positive Gedanke Gottes gleichgültig ist. Aber dieser Abstant soll hier nicht weiter erörtert werden. Hingegen ist eine Reihe von Aussprüchen über das Gewissen im Neuen Testament nicht durch den speziellen Gedanken von Gott bedingt; das wichtigste für die Geschichte des Gedankens in der christlichen Gemeinde ist jedoch der Umstand, daß der Apostel PAULUS (Röm. 2, 14. 15) den stoischen Begriff vom Gewissen in seiner Art anerkannt und rezipiert hat. Oder vielmehr die Art, in welcher man diesen seinen Ausspruch verstanden hat und versteht, hat die Bedeutung einer Rezeption des stoischen Begriffs in die christliche Anschauung von den Bedingungen des sittlichen Wesens. Indem nämlich PAULUS die Heiden mit den Juden gleichstellen will im Hinblick auf ihre offenbare sittliche Verantwortlichkeit, so lenkt er die Aufmerksamkeit auf Fälle, in denen die Heiden, welche ja nicht wie die Juden mit einem positiven allgemeinen Sittengesetz ausgerüstet sind, von Natur die dem (mosaischen) Gesetz entsprechenden Handlungen ausführen. Darin erkennt er nun, daß sie die Aufgabe des (mosaischen) Gesetzes in ihren Herzen geschrieben tragen, indem ihr Gewissen zugleich Zeugnis ablegt, und die Überlegungen abwechselnd Anklage erheben, oder auch eine Rechtfertigung versuchen. In dieser Beobachtung unterscheidet PAULUS zwar das Bewußtsein eines allgemeinen Sittengesetzes und das Gewissen. Allein in der Sache trifft das erstere mit dem gesetzgebenden Gewissen der Stoiker zusammen, und dasjenige, was PAULUS ausschließlich Gewissen nennt, ist die Erscheinung des guten Gewissens, die eigentümliche Befriedigung, welche die Ausübung des Guten begleitet und deren Wert bestätigt; die anklagenden oder verteidigenden Überlegungen sind schließlich die Erscheinungen des rügenden oder bösen Gewissens, welche durch die Versuche einer nachträglichen Rechtfertigung einer fehlerhaften Handlung beschwichtigt werden sollen. Also umfaßt die Beobachtung des PAULUS doch alles, was im stoischen Sprachgebrauch des Gewissens vorliegt, und was durch seine Autorität eine Bestätigung seiner Richtigkeit und Vollständigkeit zu empfangen scheint. Für die sittliche Anschauungsweise in der Christenheit ist es jedoch von den weitestgreifenden Folgen gewesen, daß man das Gesetz des Gewissens, welches PAULUS dem sittlichen Inhalt des mosaischen Gesetzes gleich befunden hat, nun auch dem Bestand des christlichen Sittengesetzes gleichgesetzt hat. Dieses Urteil wurde gebildet, um den positiven Grundsatz der Liebe zum Nächsten als allgemeingültig für alle Menschen zu erweisen. Zu diesem Zweck wurde die stoische Behauptung der Allgemeinheit und Identität des gesetzgebenden Gewissens anerkannt, und die vorgebliche Begründung der allgemeinen Menschenliebe im natürlichen Bewußtsein eines jeden für gleichbedeutend geachtet mit ihrer Begründung auf den Gedanken von Gott, der unser Vater ist und uns zur Mitarbeit an seinem Reich beruft. Dieses Ergebnis der frühesten wissenschaftlichen Verteidigung des Christentums ist nun eine Voraussetzung, welche für alle Stufen und Arten der christlichen Theologie und Sittenlehre maßgebend geblieben ist. Ob dieses mit Grund geschieht, hat man umso mehr Ursache zu untersuchen, als jene Annahme, welche ursprünglich in den Dienst der Geltung des positiven Christentums gestellt worden war, schon seit geraumer Zeit dazu verwendet wird, den Wert des positiven Christentums herabzudrücken, und die Bedeutung desselben unkenntlich zu machen. Indessen soll die folgende Betrachtung nicht nach dieser Rücksicht unternommen werden, sondern sich auf den allgemeinen Sinn dessen richten, was man im gewöhnlichen Gebrauch unter Gewissen versteht. Nun haftet an diesem einfachen Wort der Eindruck, als ob die Vorgänge, die dadurch bezeichnet werden, das Gepräge einheitlicher Geschlossenheit wie feststehender Selbstverständlichkeit an sich trage, und daß deshalb wenigstens das Gewissen für jeden, der es besitzt, allumfassende und unbedingte Gültigkeit behauptet. Dieses Vorurteil darf aber die Untersuchung nicht verhindern, sich ihren Weg zu bahnen durch die Unterscheidung zwischen dem rügenden und dem gesetzgebenden Gewissen. Das rügende Gewissen erfährt man als die unbedingte Verurteilung einer einzelnen Handlung, die man vollbracht hat. Das ist wenigstens die elementare Erscheinung der Sache, zu deren Wahrnehmung in sich selbst jeder, wie man annimmt, sich bekennen wird. Und wenn diese Erscheinung vielleicht bei manchen lange nicht eingetreten ist, so rechnet man darauf, daß jeder sich ihrer aus früherer Erfahrung erinnern wird. In der hier gemeinten Begrenzung bestände die Erscheinung des Gewissens in einem Erkenntnisurteil des Inhaltes: diese bestimmte Handlung durftest du unbedingt nicht ausführen, diese Handlung hättest du um deiner eigenen Bestimmung willen unterlassen sollen, diese Handlung war ein Unrecht oder eine Sünde. Allein nicht jedes Urteil dieses Inhaltes, nicht jede rügende Beurteilung einer begangenen Tat wird dem Gewissen zugeschrieben, sondern dazu gehören noch besondere Umstände, unter denen dieses Urteil in der Erkenntnis nicht sowohl von jedem gebildet wird, als vielmehr selbständig auftritt. Auf die Erscheinung der Gewissensrüge paßt nicht die Formel, daß dieses Urteil von jedem gebildet wird; denn es gibt sich zu erkennen außerhalb jeder Absicht und Überlegung; es drängt sich unwillkürlich auf, ohne abgeleitet zu sein; es unterbricht mit Gewalt Vorstellungsreihen, mit denen man sich gerade beschäftigt; es gleicht in allen diesen Beziehungen einem Einfall des Gedächtnisses, einer nicht gesuchten oder vielleicht lange gesuchten Anschauung vergangener Erfahrungen, die auf irgendeinen nicht beachteten Anlaß hin sich der Erinnerung vergegenwärtigt. Also die Gewissenrüge ist ein ganz deutliches Erkenntnisurteil, deutlich im Gegenstand, deutlich in der Verneinung des Rechts einer Handlung, die man ganz deutlich als die eigene Handlung kennt. Aber dabei kommen noch andere Umstände in Betracht. Das rügende Urteil fällt in den Spielraum des Gewissens, wenn mit seiner Unwillkürlichkeit eine Entschiedenheit und ein Interesse zusammentrifft, welches sonst nur an einer absichtlichen Willensbewegung beobachtet wird. Der Wille hebt sich vom gewöhnlichen Gang des Vorstellens und Fühlens dadurch ab, daß ein bestimmt vorgestellter Gegenstand mit Absicht und Entschiedenheit angeeignet oder abgewehrt werden soll. Wenn der Wille sich für oder gegen etwas entschieden hat, so bedeutet das, daß man um seiner selbst willen für oder gegen etwas interessiert ist, oder daß man die Aneignung oder die Abwehr eines Gegenstandes zur Behauptung oder Erweiterung seines persönlichen Selbstzweckes nötig erachtet. Unter diesen Bedingungen werde ich mir eines Begehrens als meines Willens bewußt. Dieselben Merkmale der Entschiedenheit und der Interessiertheit haften nun auch am unwillkürlichen Urteil der Gewissensrüge; und wie man sich an diesen Merkmalen der Eigentümlichkeit seines Willens versichert, so begründen sie auch den Eindruck, daß es mein Gewissen ist, welches eine bestimmte Handlung rügt, und welches sich nicht dadurch beschwichtigen läßt, daß ein anderer Mensch an der fraglichen Handlung vielleichts nichts zu fügen findet. Dieser besondere Wert meines Gewissens wird aber endlich noch dadurch bezeugt, daß mit dem absichtlichen aber entschiedenen Urteil der Rüge einer Handlung ein deutliches Gefühl der Unlust verbunden ist. Dasselbe drückt aus, daß das ganze Selbstgefühl durch die begangene unrechte Handlung in Unordnung versetzt ist oder dasjenige Gleichgewicht verloren hat, in welchem die verschiedenen Triebe und Begehrungen sich zu der sittlichen Gesamtbestimmung sowie gegeneinander verhalten sollen. Aus dieser Analyse der einfachen Gewissenserscheinung ergibt sich, daß dieselbe sich in dem durch die Form des Urteils bezeichneten Grade des deutlichen Erkennens und in dem Gefühl, aber nach der einseitigen Richtung der Unlust bewegt, daß jedoch der Wille insofern nicht direkt daran beteiligt ist, als jede Absicht und Überlegung ausgeschlossen ist. Indessen ist es bedeutsam, daß die Merkmale der Entschiedenheit und Interessiertheit eine sehr starke Analogie zwischen der Gewissenserscheinung und der Willensbewegung verraten. Endlich ist zu bemerken, daß die Gewissenserscheinung durch die angegebenen Umstände sich deutlich unterscheidet von der Furcht vor den üblen Folgen einer begangenen unrechten Handlung. Dieser Affekt ist der Gewissenserscheinung darin ähnlich, daß er ebenso ungesucht und unwillkürlich entspringt, wie sie, daß er von einer nicht minder starken Unlust getragen wird, daß er ebenso entschieden die gewöhnliche Stimmung unterbricht, daß er sehr deutliche Vorstellungen von den drohenden Übeln hervorruft. Dieser Affekt kann auch mit der Gewissensrüge in der Art verbunden sein, daß er in einer schnellen Abwechslung mit ihr sich dem Erkennen aufdrängt; indessen ist eine Verwechslung beider nicht leicht möglich. Denn die Gewissensrüge vollzieht eine Vergleichung der ungerechten Handlung mit der eigensten Gesamtbestimmung; die Furcht vor üblen Folgen des begangenen Unrechts vergleicht dasselbe mit dem Wert, welchen der ungestörte Gebrauch unseres Körpers oder das ungestörte Gleichgewicht zwischen uns und der menschlichen Gesellschaft für unser Wohlsein behauptet. Die Beziehungen beider Vorgänge sind also deutlich voneinander unterschieden und lassen keine Verwechslung zwischen ihnen zu, so nah sie übrigens auch miteinander verbunden sein mögen. Die überraschende, einschneidende und unwiderstehliche Erscheinung des Gewissens ist für denjenigen, der sie erfährt, durch keine Evidenz ihrer Herkunft beleuchtet. Man darf sich deshalb nicht wundern, daß man das Gewicht und die Unerklärlichkeit des Vorgangs dadurch zu fixieren versucht, daß man das Gewissen als eine "Stimme Gottes" bezeichnet. Soll damit der Wert der Sache ausgedrückt sein, so ist an dem Titel nichts auszusetzen, und es darf niemand davon zurückgehalten werden, sich die Gewissensrügen so zu deuten. Allein wenn diese Bezeichnung den Anspruch erheben würde, als wissenschaftliche Auskunft zu gelten, so ist davon aus zwei Gründen Abstand zu nehmen. Die göttliche Autorität der Gewissensrüge wird nicht als eine unmittelbare verstanden werden dürfen, solange eine Erklärung der Sache aus dem geistigen Wesen oder der sittlichen Anlage des Menschen noch gar nicht unternommen, also auch noch nicht fehlgeschlagen ist. Ferner aber muß vorbehalten werden, daß nicht Gottes Stimme im Gewissen der Offenbarung Gottes in den Religionen gleichgesetzt und dadurch die Bedeutung des letzteren Begriffs verschoben oder unkenntlich gemacht werde. Bei der Offenbarung Gottes denken wir an den besonderen Ursprung einer Gesamtweltanschauung, welche zur Überzeugung einer Religionsgemeinde wird und demgemäß auch zu einer von Vielen gleichmäßig ausgeübten Selbstbeurteilung und Selbstbestimmung anleitet. Diese Merkmale treffen auf das Gewissen nicht zu, welches immer nur als Selbstbeurteilung eines Einzelnen auf Anlaß einer einzelnen Handlung oder einer Reihe gleichartiger Handlungen auftritt, außer allem Verhältnis zu einer für Viele gemeinsamen Weltanschauung. Und wenn das Geheimnis, in welches der Empfang göttlicher Offenbarung durch die Religionsstifter für diese selbst wie für uns gehüllt ist, dem Geheimnis vergleichbar ist, welches die Stimme Gottes im Gewissen darbietet, so ist doch eine bedeutsame Abweichung zwischen beiden Fällen außer Zweifel. Der Religionsstifter vernimmt das Wort Gottes mit der Bestimmung, es anderen zu verkünden; die Stimme Gottes im Gewissen gilt bloß dem Empfänger allein. Demnach ist die Unähnlichkeit beider Tatsachen größer als ihre Ähnlichkeit; man hat also von ihrer Vergleichung keine Aufklärung weder über die eine, noch über die andere zu erwarten. Namentlich aber wird es durch dieses Ergebnis verboten, daß man die Gewissenserscheinung als den Schlüssel für das Verständnis göttlicher Offenbarung und als den Maßstab für die Eigentümlichkeit der gemeinschaftlichen Religion verwende. Der Vergleich zwischen der Gewissenserscheinung als einer Stimme Gottes und einer Religionsstiftung durch die Offenbarung Gottes erscheint jedoch umso mehr als ungeeignet oder unzweckmäßig, als jene sittliche Funktion, wo immer sie vorkommt, als ein Erwerb der sittlichen Ausbildung einer Person angesehen werden mußt, welchen sie der Erziehung in der sittlichen Gesellschaft verdankt. Allerdings ist das herrschende Vorurteil darauf gerichtet, das Gewissen, welches die Rüge einer unrechten Handlung dem menschlichen Selbstbewußtsein vergegenwärtigt, zur Ausstattung des geistigen Lebens zu rechnen, in welchem jeder Einzelne als solcher geboren wird. Dagegen ist nun der Einwand geboten, daß diese Behauptung nicht bewiesen werden kann, weil keine sittliche Entwicklung einer Person außerhalb ihres Zusammenhangs mit der Gesellschaft beobachtet wird. Aber die Behauptung ist auch der Unwahrheit verdächtig, weil alle spezifisch sittlichen Funktionen des Einzelnen aus seinem Wechselverkehr mit der sittlichen Gesellschaft entspringen. Denn diese Funktionen haben als böse wie als gute Begehrungen und Strebungen immer ihre Beziehung auf gemeinschaftliche Güter; solche Beziehungen aber gewinnt der Einzelne immer nur durch die sei es wohltätigen oder hemmenden Einwirkungen der Gesellschaft, in die er hineingeboren wird, außerhalb deren wir ihn als sittliches Wesen nicht kennen und ihn auch nicht richtig vorstellen würden. Also ist vielmehr das Vorurteil begründet, daß die rügende Erscheinung des Gewissens, wo sie auftritt, ein Ergebnis guter Erziehung ist, auch wenn das Zustandekommen dieser Funktion sich aller Beobachtung entzieht, und am wenigsten durch eine bestimmte Absicht des Erziehers in einem Kind hervorgelockt werden kann. Indessen, sollte nicht doch das Gewissen von den übrigen sittlichen Funktionen, welche nur durch die Einwirkung der Gesellschaft entwickelt werden, gerade unterschieden werden müssen? Tritt den nicht das Gewissen in der Art auf, daß man in der Erfahrung seiner Rüge gänzlich isoliert wird von der Beziehung auf die sittliche Gesellschaft? Ist man nicht im Falle einer Gewissensrüge eingeklemmt zwischen die Erinnerung einer unrechten Handlung und die Vorhaltung der eigenen Bestimmung, von welcher man zu seiner eigenen Beschädigung abgewichen ist? Erscheint nicht das Gewissen umso reinen in seiner Art, wenn die zugleich angeregte Furcht vor dem Verlust an Ehre bei den anderen Menschen beiseite tritt? Durch diese Bemerkungen wird jedoch nur festgestellt, daß der sittliche Inhalt des Gewissensurteils sich anders darstellt, als der der sittlich guten Absichten, Vorsätze und Entschlüsse. In diesen Formen des Willensurteils tritt die Beziehung des gedachten Handelns auf den gemeinschaftlichen Zweck direkt hervor als Maßstab der Richtigkeit des Handelns. Wenn das im Gewissensurteil nicht der Fall ist, so folgt daraus nicht, daß diese Beziehung nicht doch indirekt dabei ist. Nämlich wenn das Gewissensurteil dem Urheber einer unrechten Handlung seine Abweichung von seiner Bestimmung vorhält, so bezeugt es damit indirekt das Gute als die Bestimmung des Menschen; das Gute aber ist unter allen Umständen das gemeinschaftliche Objekt für die Willensbewegung aller; auch die leiseste und indirekteste Ahnung des Guten und seines Wertes für den Einzelnen setzt die Erfahrung und Übung sittlicher Gemeinschaft voraus. Deshalb ist das rügende Gewissen nur unter dieser Voraussetzung als ein Erwerb durch die Erziehung zum Guten möglich. Die Bedingungen, unter welchen das rügende Gewissen als Gegenwirkung gegen eine einzelne unrechte Handlung erfahren wird, werden nicht erheblich verändert, wenn es sich gegen eine Reihe von gleichartigen unrechten Handlungen richtet, welche man ungeachtet der Gewissensrüge aufeinander hat folgen lassen. In diesem Fall kommt zunächst die neue Beobachtung dazu, daß die Gewissenserscheinung nicht immer der zureichende Grund für die Reue und Umkehr des Willens vom Weg des Unrechts ist. Wenn nämlich die einzelne unrechte Handlung die Bedeutung für den Menschen hat, daß er in ihr eine Richtung auf das Unrecht im Ganzen einschlägt, so wird das anklagende Urteil des Gewissens entschuldigende oder vielmehr verteidigende Überlegungen, wie PAULUS sagt, hervorrufen, in denen der unrechte Wille aus besonderen Gründen das Recht der von ihm begangenen Handlung zu behaupten trachtet. Dadurch wird das Gewicht der erfahrenen Gewissensrüge vermindert, ihre einschneidende Wirkung auf die Selbstbeurteilung abgestumpft; und die Wiederholung der unrechten Handlung erfolgt entweder aus Absicht, oder bei gegebenem Anlaß aus Fahrlässigkeit. Auf diesem Weg kann es zu einem Grad der Verstocktheit des bösen Willens kommen, daß die Erscheinungen des Gewissens gänzlich aussetzen oder bis auf ein Minimum verschwinden. Bevor jedoch dieser Fall genau in Betracht zu ziehen ist, begegnen wir der anderen Tatsache, daß die Gewissensrüge gegen eine fortgesetzte gleichartig unrechte Handlungsweise in der Gestalt des bösen Gewissens in Permanenz bleibt. In dieser Erscheinung verliert das Gewissen die einschneidende und anregende Gewalt seines ursprünglichen Auftretens, worin dasselbe dem Willen vergleichbar war. Umso stärker tritt am bösen Gewissen das Gefühl der Unlust hervor; allein dieser Umstand der fortdauernde Unlust am Unrechthandeln ist kein Ersatz dafür, daß der Antrieb des Gewissens zur Umkehr des Willens stumpf und unwirksam geworden ist. Die Unlust im bösen Gewissen ist kein Hindernis für die Wiederholung des unrechten Handelns. Innerhalb dieser gemeinsamen Merkmale wird bei Menschen von verschiedener Gemütsart und von verschiedenen Graden des unrechten Willens die Erkenntnistätigkeit des Gewissens sehr abweichend ausfallen. Bei den Einen wird der Zustand des bösen Gewissens durch eine unaufhörliche Disputation der Gedanken ausgefüllt sein, welche anklagen und welche verteidigen; bei den anderen wird sich die Abstumpfung des sittlichen Urteils mit einer dauernden Verstimmung verbinden und höchstens dadurch unterbrochen werden, daß man auf Mittel sinnt, die eigene unheimliche Lage in irgendeiner Weise vor dem Scharfblick anderer zu verbergen. In der einen oder der anderen Weise ist der bleibende Zustand des bösen Gewissens der günstige Boden für die Verschiebung, Verrenkung, Verkrüppelung der sittlichen Urteilsfähigkeit überhaupt. Das böse Gewissen, welches wenigstens in irgendeinem Umfang andauert, wird im gemeinen Sprachgebrauch durch die Bilder des drückenden Gewissens, des Gewissensdrucks, der Gewissensbisse bezeichnet. Mit dem Druck, welchen das fortdauernd rügende Gewissen ausübt, ist die Vorstellung verbunden, daß dem Willen zugleich die Beweglichkeit zur Umkehr fehlt, oder dem reugigen Willen noch nicht die Zuversicht des guten Erfolges beiwohnt. Umgekehrt bedeuten die stets in der Mehrheit vorgestellten Gewissensbisse, daß sich der Wille in seiner verkehrten Richtung trotz der immer erneuerten Unlust an der Gewissensrüge aufrechterhält. Für das Verständnis der Gegenstandes kommt weiter in Betracht, daß das rügende Gewissen als einzelner Fall oder in Permanenz als böses Gewissen den möglichen Umfang der Erscheinungen ausfüllt, welche sich der Beobachtung darbieten. Durch den üblichen Sinn von Gut und Böse als den entgegengesetzten Arten von Handlungen, Gesinnungen und Charakteren darf mamn sich nicht zu der Annahme verleiten lassen, daß das gute Gewissen die andere Art der Gewissenserscheinung sei, welche neben dem bösen Gewissen oder mit ihm abwechselnd zur Erfahrung käme. Wenn dem so wäre, so würde von Anfang an neben der Elementarerscheinung des rügenden Gewissens auch die des billigenden in Betracht gekommen sein. Von einem gewissen theoretischen Vorurteil aus könnte man auch in die Versuchung geraten, sich die Koordination eines billigenden Gewissens mit dem rügenden einzureden; aber erfahrungsgemäß ist diese Kombination nicht. Niemand wird die im Verlauf der rechten Handlung entstehende Befriedigung über dieselbe in der auffallenden und überraschenden Weise erfahren, wie ihn bei einer unrechten Tat das rügende Gewissen überfällt. Er hat also auch in sich gar keinen Grund, sich künstlich auf eine Gewissensbildung zu besinnen; die wissenschaftliche Fürsorge für die positive Artbestimmtheit des guten Gewissens aber darf nicht so weit getrieben werden, daß man, um diesen Begriff vorzubereiten, die elementare Erscheinung eines billigenden Gewissens in jedem einzelnen Fall erdichte. Denn das gute Gewissen ist überhaupt nur etwas Negatives, d. h. es ist der Ausdruck für die Abwesenheit des bösen Gewissens. Es ist ja nun ein sehr wünschenswerter Zustand für jeden, daß er ein gutes Gewissen habe, im Besonderen wie im Allgemeinen; aber man hat sich vorzusehen, daß dieser Besitz nicht überschätzt werde. Indem naämlich die Gewissenserscheinung in eine nahe Verbindung mit der Autorität Gottes gebracht wird, so liegt es nahe, daß man sich auch das gute Gewissen als ein Urteil letzter Instanz anrechne, und sich die Gewissensruhe, die man in irgendeiner Beziehung konstatiert, als die endgültige Freisprechung von Schuld deute. Dagegen ist es erwähnenswert, daß der Apostel PAULUS anders verfährt (I. Kor. 4, 2-4). Die Feststellung seiner Treue im Beruf erwartet er nämlich nicht von Menschen;
Die Erklärung der Erscheinung, welche als das rügende, weiterhin als das böse Gewissen festgestellt und abgegrenzt ist, wird man innerhalb des Umfangs des menschlichen Geistes zu suchen haben. In dieser Richtung hat man lange genug gemeint, das Gewissen als ein selbständiges Seelenvermögen neben den Vermögen des Erkennens, des Wollens und des Fühlens ansehen zu dürfen. Diese Vorstellung, als wäre die geistige Seele ein Bündel von verschiedenartigen, gegeneinander gleichgültigen Ursachen oder Kräften, welche nach- oder miteinander wirkten, ist als verschollen zu betrachten. Innerhalb dieser Vorstellung selbst war aber die Voraussetzung des Gewissens als eines besonderen Seelenvermögens das am meisten Unwahrscheinliche, da die Erscheinung oder Wirkung dieses angeblichen Vermögens in den Umfang des Erkennens und des Fühlens hineinfällt. Das Subjekt der Gewissenserscheinung ist ohne Zweifel die geistige Seele, welche stets in den drei Grundfunktionen des Vorstellens, Begehrens und Fühlens zugleich tätig ist. Es wird aber eine eigentümliche Ordnung sein, in welcher die Seele aus gegebenem Anlaß das präzise rügende Urteil unter Begleitung einer starken Unlust unwillkürlich bildet. In diesem Fall nämlich ist jedes besondere Begehren und bestimmte Wollen ausgeschlossen. Und doch kann man die Erscheinung gerade aus der Ordnung des Willens begreifen. Diese bedeutet nämlich, daß das individuelle Begehren durch Erziehung dahin gekommen ist, sich der durchgehenden Selbstbestimmung durch die guten, allgemeinen Zwecke unterzuordnen. Unter dieser Voraussetzung ist das rügende Gewissensurteil in seiner unwillkürlichen und peinlichen Erscheinung die Probe dafür, daß die Seele die sittliche Selbstbestimmung, an welche sich ihr wertvolles Selbstgefühl knüpft, gegen die Störung ihrer Ordnung durch unrechtes Handeln aufrechthält. Ist dieses richtig, so zeigt sich, daß der Wille gerade sehr stark am Gewissen beteiligt ist, freilich nicht als einzelner Akt, aber umso mehr als die sittliche Selbstbestimmung im Ganzen. Diese erreicht ihre Erscheinung freilich immer in einzelnen Akten. Als solche darf man aber nicht bloß Absichten, Vorsätze, Entschlüsse, Handlungen in Anschlag bringen, sondern auch das rügende Gewissensurteil, dessen aktive einschneidende Macht mit der Art des bestimmten Willensaktes verglichen werden durfte. Also wenn die Selbstbesimmung in Richtung auf etwas Unrechtes ausgeübt worden ist, und dieses Unrecht nicht unmittelbar durch einen Willensakt zum Guten aufgehoben und gut gemacht werden kann, so bewährt sich die allgemeine Selbstbestimmung des Willens zum Guten oder die Freiheit desselben durch die Gewissensrüge. Die Präzision, mit welcher dieselbe sich dem Bewußtsein aufdrängt, ist die Folge davon, daß die Freiheit in der angegebenen Bedeutung zugleich die Wertbestimmung des in der sittlichen Gesellschaft einheimischen Selbstgefühls ist. Es ist jedoch daran zu erinnern, daß die Gewissensrüge noch keine Reue ist, daß sie die Krankheit aufzeigt, aber nicht heilt, daß ihre Präzision durch einen fortgesetzten bösen Willen gelähmt, daß ihr Wahrheitsgehalt durch eine sophistische Rechtfertigung des Unrechts undeutlich und unwirksam gemacht werden kann, endlich daß die Freiheit zum Guten, die das Gewissen anzeigt, in einem permanenten bösen Gewissen oder in der unaufhaltsamen Verstocktheit unwiederbringlich und endgültig verloren geht. Das sind die beiden Formen der ewigen Verdammnis. |