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Versuch über den Wahrheitsbegriff [mit besonderer Berücksichtigung von Rickert, Husserl und Vaihinger) [1/3]
Der erkenntnistheoretische Nihilismus Der kritische Verstand hat nun zunächst die Forderungen, die schon der naive Verstand an Aussagen stellt, die den Anspruch auf Wahrheit erheben, schlechterdings übernommen. Aber nach dem Grundsatz von DESCARTES "de omnibus dubitandum est" [Alles muß bezweifelt werden. - wp] mußte allmählich auch die Sonde des Zweifels an die Voraussetzuung jeder wahren Erkenntnis gelegt und die Frage geprüft werden, ob es überhaupt gültige Urteile, ob es überhaupt Wahrheit geben kann. Diese Prüfung schien um so dringender, als radikale Relativisten teils direkt behaupteten: "Es gibt keine Wahrheit" - teils in ihren relativistischen Theorien die Folgerung dieses Satzes offen ließen. Und wenn auch die radikalsten skeptischen Thesen nie eine triftigere Argumentation fanden als überzeugtes Pathos und Temperament, so war es doch Aufgabe der Wissenschaft, auch diesen Schein des Rechts, der den radikal relativistischen Sätzen ihre Wichtigkeit verlieh, zu zerstören. Je kritischer eine Theorie der Erkenntnis ist, desto energischer verwahrt sie sich gegen den Relativismus, und um möglichst drastisch zu demonstrieren, wie haltlos und unmöglich er ist, wird gerade der Satz: "Es gibt keine Wahrheit" einer heftigen Kritik unterzogen. Der Gedankengang ist dabei meistens folgender: Der Satz "Es gibt keine Wahrheit" ist ein Urteil, das, obwohl es die Wahrheit leugnet, offenbar selbst Anspruch auf Geltung, Anspruch auf Wahrheit erhebt. Wenn dieses Urteil nun auch die Möglichkeit jeder anderen Wahrheit bestreitet, so kann es doch nur einen Sinn haben, wenn es für sich selbst eine Ausnahme macht. Und diese eine Ausnahme kann nicht einmal die sonstige Regel bestätigen, da ja sonst auch der Satz "Die Ausnahme bestätigt die Regel" eine Ausnahme mit dem Anspruch auf Gültigkeit sein müßte (welcher Ausnahme wieder eine Ausnahme zugrunde liegen müßte in infinitum, bis also auf diese Weise aus keiner Wahrheit unendlich viele geworden wären). Jedenfalls aber kann das Urteil "Es gibt keine Wahrheit" keinen Augenblick gelten, denn sobald es gelten würde, wäre die in ihm ausgesprochene "Wahrheit" ein vollendeter Widerspruch. Der radikale Relativismus hebt sich also von selbst auf. Dagegen ist jedoch eingewendet worden, daß diese Widerlegung zwar formal richtig ist, d. h. dem logisch richtigen Denken entspricht, daß aber dieses logisch richtige Denken offenbar von dem Satz "Es gibt keine Wahrheit" mit betroffen wird. Das radikale relativistische Urteil sei darum der Kritik des Satzes vom Widerspruch nicht zugänglich, sondern werde nur durch die praktische und wissenschaftliche Erfahrung, "durch die tatsächlichen Befunde des Lebens und der Erkenntnis" widerlegt. Dagegen ist jedoch einzuwenden, daß, wenn der radikale Relativismus tatsächlich alle Folgerungen des logisch richtigen Denkens aus dem Satz "Es gibt keine Wahrheit" verneint, er doch jedenfalls auch nicht "die tatsächlichen Befunde des Lebens und der Erkenntnis" als eine zureichende Widerlegung anerkennen kann. Denn wie könnten diese Befunde der Erkenntnis ausgesprochen oder auch nur gedacht werden, wenn nicht in Urteilen, die Anspruch auf Gültigkeit, auf Wahrheit erheben? Wie ist überhaupt Erkenntnis möglich ohne Urteile, und was soll unter den "tatsächlichen Befunden des Lebens" verstanden werden? Sind mit diesen Befunden elementare Sinneseindrücke gemeint, so vermögen sie natürlich nichts gegen ein relativistisches Urteil zu beweisen. Denn wenn jemand den Himmel betrachtet und den Eindruck "blau" hat, und der Relativist behauptet "Das ist nicht wahr" - so läßt sich durch nichts, weder durch eine Majorität von Meinungen, noch durch physikalische, chemische oder physiologische Argumente etwas dagegen beweisen. Denn abgesehen davon, daß all diese Argumente Urteile und Schlüsse sind, die in ausgiebigstem Maß den Anspruch auf Wahrheit erheben, ist es überhaupt nicht denkbar, daß jemand sich des Eindrucks "blau" bewußt wird, ohne "blau" zu sehen oder vorzustellen und damit ein Geltung beanspruchendes Urteil zu fällen: "Dieser Gegenstand, diese Farbe ist blau." Die Befunde des Lebens müßten also jenseits des Bewußtseins liegen, denn sobald sie bewußt und logisch sind, können sie nicht anders als in wahrheitsgültigen Urteilen gedacht werden. Von dieser Seite aus läßt sich also der erkenntnistheoretische Relativismus nicht widerlegen, ohne weit mehr die Existenz der Wahrheit vorauszusetzen. Da jedoch zugegeben werden muß, daß der Satz "Es gibt keine Wahrheit" tatsächlich auch den Satz vom Widerspruch trifft, so bleibt nur noch der einzige Ausweg, daß das relativistische Endurteil überhaupt nicht aufgestellt werden kann. Es können zwar die Worte "Es gibt keine Wahrheit" nebeneinandergesetzt, gesprochen und geschrieben werden, aber sie dürfen durchaus nicht gedacht werden. Ein Satz, ein Gedanke muß eben gedacht werden und "denken" heißt eben: richtig denken, woraus erst das "falsche" Denken expliziert werden kann. Der radikale Relativismus kann also schlechterdings keinen Satz aufstellen, weil jeder Satz einen Gedanken voraussetzt. Das Äußerste, was ein radikaler Relativismus vielleicht aufzustellen vermöchte, wären beliebige Buchstaben nebeneinander, die nichts besagen soll und können. Der radikale Relativismus ist also gleichbedeutend mit einem absoluten Nihilismus und nur denkbar als ein Subjekt aus Nichts gegenüber einem Objekt aus Nichts. Einen Satz, der die Wahrheit leugnet, kann er also in keinem Fall aufstellen. Hierher gehört auch, ob der Relativismus mit der Antwort "Nein" auf die Frage "Gibt es eine Wahrheit?" sich aus dem Widerspruch zu ziehen vermag. Ja oder Nein haben doch nur in Bezug auf eine Frage (oder als Affirmation [Zustimmung - wp]) irgendeine Bedeutung. Und es kommt dabei gar nicht in Betracht, ob nach dem Ja oder Nein der Inhalt der Frage affirmativ hinzugesetzt wird, oder nicht, denn ohne die Frage gäbe Ja oder Nein gar keinen Sinn. Ja und Nein sind daher als abgekürzte Form eines bejahenden oder verneinenden Urteils zu deuten. Die gleiche Argumentation wie oben müßte daher auch einsetzen, wenn der Relativismus das die Wahrheit voraussetzende Urteil durch die Fragefrom zu umgehen versucht. Der Satz "Es gibt keine Wahrheit" gehört zu einer beschränkten Reihe von Sätzen, die überhaupt nicht gedacht oder ausgesprochen werden können, ohne sich selbst aufzuheben, und die nur der Inkonsequenz eines absoluten intellektuellen Nihilismus entsprungen sein können. Dazu gehört z. B. der Satz "Es gibt keine Begriffe" oder "Es gibt keine artikulierten Laute" oder "Es gibt überhaupt keine Gedanken", d. h. weder wahre noch falsche. Gerade dieser letzte Satz müßte sogar viel folgerichtiger als der "Es gibt keine Wahrheit" die ultima ratio [das Ende der Fahnenstange - wp] des radikalen Relativismus sein. An ihm läßt sich auch viel deutlicher nachweisen, nicht daß er widerlegt werden, sondern daß er überhaupt aufgestellt werden kann. Denn wenn damit auch alle wahren oder falschen, man könnte sagen "wahr-falschen" Folgerungen geleugnet sind, kann dieser Satz doch nicht sinnvoll ausgesprochen werden, ohne die Unterscheidung "wahre" und "falsche" Gedanken, ohne selbst einen Gedanken ausdrücken zu wollen, ohne überhaupt das sinnvolle Denken mit auszusprechen. Von diesen Sätzen kann mit Recht gesagt werden, daß sie in der Luft hängen und vom Nichts leben. Widerlegt können solche Sätze nicht werden, denn sie leugnen die Möglichkeit einer logischen Widerlegung, aber sinnvoll ausgesprochen oder gedacht werden können sie noch weniger, indem sie mit ihrem Gedacht- oder Ausgesprochenwerden sich selbst aufheben. In welchem Sinn sich ein erkenntnistheoretischer Relativismus dennoch denken läßt, aber unter Ausschluß der nihilistischen Konsequenz, soll am Schluß dieser Arbeit dargestellt werden. Vielleicht wird es sich herausstellen, daß der Relativismus nicht unbedingt identisch ist mit jener Theorie, die den Satz "Es gibt keine Wahrheit" aufstellt oder offen läßt, und die hier als erkenntnistheoretischer Nihilismus bezeichnet wurde. ![]() Rickerts Wahrheit als Wert Vorstellen und Urteilen Um den relativistischen Standpunkt plausibel zu machen und ihm seit seinen ersten aphoristischen Ansätzen bei den griechischen Skeptikern immer wieder einen hervorragenden Platz in der Erkenntnistheorie einzuräumen, hat offenbar der Umstand viel dazu beigetragen, daß Urteilen und Vorstellen im aktuellen Denken unzertrennlich miteinander verbunden sind. SIGWART sagt über diese wesentlich vorstellungsmäßige Eigenart des Urteils:
Es ist sehr leicht verständlich, daß aus dieser Eigenart der Urteile, aus ihrer engen Verwandtschaft mit den Vorstellungen, der Schluß gezogen wurde, daß die Wahrheit der Urteile ebenso relativ ist, wie die Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen sein können. Und wer sich auf die Relativität der Vorstellungen versteift und zugleich das Wesen des Urteils als ein nur vorstellungsmäßiges erkannt haben will, muß in der Tat zu dieser Folgerung gelangen. Der nächste Schritt aber führt dazu, daß es überhaupt nur relativ wahre Urteile gibt, und man könnte schließlich wirklich zu der von RICKERT drastisch formulierten Konsequenz kommen:
Um diese Aufgabe zu lösen, hat die Erkenntnistheorie zwei Wege: Entweder widerlegt sie den Relativismus, der die Sicherheit der im Urteil enthaltenen vorstellungsmäßigen Elemente gefährdet, oder aber sie weist nach, daß die Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen gar nicht zum Wesen des Urteils gehören, sondern daß sie vielmehr in einem spezifisch urteilsmäßigen, vorderhnd noch nicht näher bekannten Element zu suchen ist. Sie müßte also in der Lage sein, ein Urteilsideal aufzustellen, das von allen vorstellungsmäßigen Elementen befreit ist. Diesen letzteren Weg hat RICKERT eingeschlagen, und es soll nun im Nachfolgenden versucht werden, darzustellen, wie weit ihm dies gelungen ist. Schon bei FICHTE finden sich Ansätze zu einer Theorie, daß die vorstellungsmäßigen Gebilde nicht das eigentlich Wesentliche im Urteil sind (3). SIGWART (4) beschränkt sich darauf, daß es sich im negativen Urteil nicht allein um die bloße vorgestellte Beziehung eines Subjekts zu seinem verneinenden Prädikat handelt, sondern daß die Verneinung als etwas nicht rein Vorstellungsmäßiges zu betrachten ist. LOTZE (5) bleibt zwar dabei, daß die vorstellungsmäßigen Elemente für das Urteil von wesentlicher Bedeutung sind, daß aber im positiven wie im negativen Urteil durch ein "Nebenurteil" über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Subjekts- mit Prädikatsvorstellungen etschieden wird. Nach ihnen haben besonders noch BERGMANN, RIEHL, WINDELBAND und JONAS COHN das Problem des rein urteilsmäßigen Elementes untersucht; am radikalsten hat jedoch HEINRICH RICKERT die Theorie vom nicht vorstellungsmäßigen Wesen der Urteile vertreten und sie seiner Bestimmung des Wahrheitsbegriffs zugrunde gelegt. RICKERT will die quaestio juris [Frage der Rechtfertigung - wp] völlig von der quaestio facti [Frage der Tatsachen - wp] trennen und nur nach dem logischen Sinn, nicht nach dem psychischen Sein der Urteile fragen. Er sucht das urteilsmäßige Element den vorstellungsmäßigen Elementen, die in jedem wirklichen Urteil enthalten sind, gegenüberzustellen und ein logisches Urteilsideal aufzustellen, dessen nicht vorstellungsmäßiges Wesen, also dessen Wahrheit unzweifelhaft ist (6). Dieses Urteilsmäßige nun kann natürlich nicht in den vorstellungsmäßigen Bestandteilen des Urteils enthalten sein, sondern muß gewissermaßen über ihnen stehen und darüber entscheiden, ob diese Vorstellungsverbindungen zu Recht oder zu Unrecht bestehen, wenn wirklich - was als ausgesprochene Voraussetzung gelten muß - das Wort Urteil "für alle Denkgebilde, auf welche die prädikate wahr oder falsch angewendet werden können" (7), gebraucht wird. RICKERT löst darum das Urteil in eine eindeutige, alle vorstellungsmäßigen Elemente umfassende Frage, und in ihre Bejahung oder Verneinung auf. Jedes wirkliche Urteils kann in diese beiden Komponenten zerlegt werden, weil es in der Tat nichts anderes ist, als die eine Aussage gefaßte Entscheidung einer Frage. Wenn also auch - was RICKERT ausdrücklich berücksichtigt (8) - die Aussage (das Urteil) psychologisch oder zeitlich früher als die Frage, mit der äußerlichen Prätention, als sei sie gar keine Antwort, auftritt, so läßt sich doch die Aussage in Frage und Antwort zerlegen, und muß logischerweise so zerlegt werden, da das Problem (die Frage) stets der Problemlösung (Entscheidung) vorausgeht. Und da in der eindeutigen Frage tatsächlich alle vorstellungsmäßigen Elemente enthalten sind, läßt sich eine andere Antwort als Ja oder Nein denken. In der Bejahung oder Verneinung aber, konzentriert sich das rein Urteilsmäßige (9).
Aber es ist immer noch fraglich, ob das "bejahende oder verneinende Subjekt" nicht doch ein vorstellendes Subjekt ist. Denn wenn die Bejahung oder Verneinung nur in Bezug auf Vorstellungsmäßiges gedacht werden kann, ist sie vielleicht gar nichts anderes, als das Gefühl der Übereinstimmung von Vorstellungen. Wenn ich z. B. frage: "Ist der Himmel blau?" so richtet sich mein Ja oder Nein danach, daß ich eine allgemeine Vorstellung "Himmel" und "Blau" habe, und daß ich diese Vorstellung in dem Augenblick, da die Frage gestellt wird, mit dem Sinneseindruck vergleiche, den ich von der Farbe des Himmels habe. Ich vergleiche also den Eindruck mit einer Vorstellung und gelange zu einem Gefühl der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung. Damit, daß man aus dem Urteil die Bejahung oder Verneinung herausschält, wäre also gar nichts weiter gewonnen, denn es käme doch wieder im Urteil auf ein Vergleichen von Vorstellungen an und wahr und falsch würden sich in einem Gefühl der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung äußern. Dieses Gefühl aber könnte nimmermehr als ein von den Vorstellungen unabhängiges angesehen werden. - Jedoch gerade dieser Konsequenz galt es auszuweichen und sie durch eine Herausarbeitung des in der Bejahung oder Verneinung sich ausdrückenden logischen Urteilsideals zu überwinden. Dieser verhängnisvollen Eventualität sucht nun RICKERT vorzubeugen mit einer für seine Auffassung vom Wesen der Erkenntnis wesentlichen Unterscheidung. Er stellt nämlich den in der Bejahung oder Verneinung zum voll entwickelten Ausdruck gelangten alternativen Charakter des Urteils dem indifferenten des Vorstellens gegenüber und rückt damit das Urteil aus seiner gewohnten Verwandtschaft mit dem Vorstellen in nähere Beziehung zum Fühlen und Wollen.
Dabei ist jedoch immerhin eine Voraussetzung gemacht, die von einer rein sensualistischen Psychologie nicht unbedingt anerkannt zu werden braucht. Die Voraussetzung nämlich, daß das dem Wollen, Fühlen und Urteilen als wesentlich zugesprochene Charakteristikum des "Entweder-Oder" sich auch bei genauerer psychologischer Analyse als nicht vorstellungsmäßig erweist. Auch RICKERT hat diese Möglichkeit wenigstens insofern beachtet, als er auf MÜNSTERBERGs Versuche (16) hinweist, nach denen sich z. B. Elemente, die sich der oberflächlichen Betrachtung als nicht vorstellungsmäßig darstellen, als Spannungsempfindungen in unseren Muskeln entdecken. - Da es jedoch der Psychologie noch nicht gelungen ist, das dem Fühlen und Wollen eigentümliche alternative Element auf Vorstellungen oder Empfindungskomplexe zurückzuführen, kann von diesem Einwand Abstand genommen werden, umsomehr, als es RICKERT vorläufig nur darauf ankommt, festzustellen,
Diese Frage aber kann erst entschieden werden, wenn dargestellt worden ist, was RICKERT unter Urteilsnotwendigkeit versteht. bei Rickert Ehe ich nun auf RICKERTs Lösungsversuch des erkenntnistheoretischen Zentralproblems eingehe, soll noch einmal kurz zusammengefaßt werden, wie RICKERT seine Bestimmung des Wahrheitsbegriffs vorzubereiten sucht: Zunächst geht RICKERT von dem Satz aus:
Das wäre natürlich reichlich voraussetzungsvoll. Denn wenn auch Lust oder Unlust die Erkenntnis leiten, so könnte von einer durch das Kriterium dieser Gefühle erwiesenen objektiven Wahrheit nur dann die Rede sein, wenn schon von vornherein feststünde, daß es überhaupt eine objektive Wahrheit gibt und daß in besonderen Fällen die mit dem Gefühl der Gültigkeit ausgesprochene Bejahung oder Verneinung auch wirklich, d. h. objektiv gültig ist. Mit anderen Worten: Wahre Urteile unterschieden sich von falschen Urteilen dadurch, daß bei den einen das Gefühl der objektiven Gültigkeit richtig, bei den anderen aber falsch ist. Das würde aber auf einen Pleonasmus [Doppelmoppel - wp] hinauslaufen: Wahre Urteile sind wahr, weil sie wahr sind; falsche Urteile sind falsch, weil sie falsch sind. - Auf diesem Weg also ist eine Lösung des Wahrheitsproblems nicht möglich, zumindest führt sie nicht über den Relativismus hinaus. Auch RICKERT hat natürlich die Gefahr, die in diesem Stadium seiner Untersuchung deutlich zutage tritt, erkannt und versucht, ihr auszuweichen. Er scheidet das im Urteil die Anerkennung oder Verwerfung eines Wertes leitende Gefühl der Lust bzw. Unlust, das ich der Einfachheit halber kritisches Lustgefühl nennen will, von einem sinnlichen Lustgefühl, das mit einer Vorstellung verknüpft ist und dem wir nur solange Bedeutung beilegen, als wir es fühlen (22). Natürlich kann zunächst bei dieser Unterscheidung von einer quaestio juris, also von der Frage nach dem logischen Sinn des Urteils, nicht mehr die Rede sein, was RICKERT auch zugibt. Denn hier handelt es sich nicht mehr darum, mit welchem Recht wir ein Urteil für wahr halten, sondern wir setzen, was eigentlich erst zu beweisen wäre, mit Bestimmtheit voraus: daß das ein wahres Urteil ist, das von einem Lustgefühl der Zustimmung begleitet wird. Während aber das sinnliche Lustgefühl durchaus an den Augenblick und an die inviduelle Disposition gebunden ist, während es mit dem Augenblick und der individuellen Disposition verschwinden oder ins Gegenteil umschlagen kann, ist das kritische Lustgefühl unabhängig von Stimmung, Augenblick und jeder individuellen Disposition. Dem von diesem Evidenzgefühl begleiteten Urteil schreiben wir eine für alle Zeiten und Individuen verbürgte Gültigkeit zu.
Es kommt natürlich alles darauf an, die Subjektivität des "in der Urteilsnotwendigkeit unmittelbar erfahrenen Sollens" zu umgehen, und RICKERT versucht das, indem er das Sollen als ein transzendentes, von jedem erkennenden Subjekt unabhängiges hinstellt. Es erhebt sich also die Frage: Mit welchem Recht wird die Transzendenz des Sollens behauptet? RICKERT konstruiert da einen künstlichen Gegensatz, indem er sagt:
"Wir heben hervor, daß die Urteilsnotwendigkeit als Richtschnur des Urteilens uns bindet, insofern der Sinn jedes Urteils in der Anerkennung des mit ihr verbundenen Wertes besteht, und wir drücken das am Besten dadurch aus, daß wir sie als eine Notwendigkeit des Sollens bezeichnen." (29) -
Es soll hier jedoch, wiewohl das nicht im Sinn RICKERTs sein wird, angedeutet werden, inwiefern sich dennoch das Sollen als ein kategorisches denken läßt, ohne eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] zu sein. Es wurde oben erwähnt, daß RICKERT unter einem Sollen einen Imperativ versteht, "den wir gewissermaßen in unseren Willen aufnehmen". Dieses "gewissermaßen" kennzeichnet die Unklarheit der Situation, das Vergleichsweise, wie Subjekt und Objekt im Urteil durcheinander geschoben gedacht werden müssen, um dann dennoch eine gewissermaßen objektive Wahrheit herausbringen zu können. Faßt man die Urteilsnotwendigkeit als ein kategorisches Sollen auf, das - obwohl es RICKERT vermeidet, sich auf KANT zu berufen - ganz analog dem kategorischen Imperativ der kantischen Ethik interpretiert werden muß, so klärt sich vielleicht das Problem, das durch RICKERTs Auffassung von der Transzendenz des Sollens in die Wahrheitsfrage gebracht wurde. Wenn wir nämlich die Urteilsnotwendigkeit als eine Notwendigkeit des Sollens auffassen, so kann das, nachdem nicht die Transzendenz des Sollens, wohl aber die Transzendenz des anzuerkennenden Wertes als Voraussetzung genommen werden kann, heißen: Ein Urteil muß gefällt werden, als ob der vom urteilenden Subjekt unabhängige Wert anerkannt werden sollte. Analog der Interpretation, die VAIHINGER dem kategorischen Imperativ KANTs gibt: "Handle so, als ob deine Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung zugrunde gelegt werden sollte." (32) Denn dieser unabhängige transzendente Wert ist uns ja nicht unmittelbar gegeben, sondern nur durch das Gefühl, daß wir ihn als zweckmäßig anerkennen sollen. Indem wir einen Imperativ in unseren Willen aufnehmen und danach urteilen, bejahen oder verneinen wir nur, als sollten wir in unserem Urteil einen transzendenten Wert anerkennen oder abweisen. - Auf welche Weise aber der durch die Partikelverknüpfung "als ob" involvierte logische Widerspruch wieder korrigiert wird und wie der Wahrheitsbegriff von der scheinbaren Relativität, der er durch diese Interpretation verfällt, bis zu einem gewissen Grad befreit werden kann, soll erst im Kapitel über VAIHINGERs Fiktionstheorie und besonders im Kapitel über den perspektivischen Wahrheitsbegriff dargestellt werden. Nach dieser, außerhalb des Rahmens von RICKERTs Werttheorie liegenden Abschweifung soll nun zu einigen Konsequenzen, die RICKERT aus seiner Werttheorie ableitet, übergegangen werden. Während nach der geläufigen Anschauung jedes Urteil sich auf etwas Gegebenes, eine Tatsache, einen Bewußtseinsbefund gründet, und die Wahrheit einer Aussage oder eines Urteils sich an der Wirklichkeit des ausgesagten oder beurteilten Tatbestandes erweist, folgt aus RICKERTs Standpunkt, nach dem
Diese Umkehrung der geläufigen Anschauungen begründet RICKERT folgendermaßen:
Daß das Sollen nicht dem Sein vorausgehen kann, ist auch daraus zu ersehen, daß die Bejahung oder Verneinung nur nach einer Frage Sinn hat. Wie schon oben gezeigt, können die Worte Ja oder Nein nur als Antwort auf eine eindeutige Frage gedacht werden. Ich bejahe oder verneine etwas, heißt: ich stimme einem mir unmittelbar gegebenen Bewußtseinsinhalt zu oder weise ihn ab. Das, was ich beurteile, muß mir zuerst gegeben sein, ich muß seiner inne geworden sein, ich muß darum wissen. Ginge das Sollen dem Sein voraus, so hieße das, daß die Bejahung oder Verneinung der Frage vorausginge, denn erst die Bejahung oder Verneinung wird von dem alternativen Lustgefühl, das ich kritisches Lustgefühl nannte und mit welchem erst das Sollen auftritt, geleitet. RICKERTs Theorie, daß das Sollen dem Sein vorausgeht, erscheint mir aber aus den hier angeführten Gründen unhaltbar. Eine weitere Konsequenz, die RICKERT aus seiner Werttheorie zieht, soll hier noch angeführt werden.
Zusammenfassung: RICKERTs Wahrheitstheorie gipfelt darin, daß diejenigen Urteile wahr sind, die gefällt werden sollen. "Die Wahrheit eines Urteils ist nichts anderes, als die Anerkennung des Sollens." (39) Dieses Sollen ist jedoch kein subjektives Gefühl, sondern es ist ein Imperativ, den wir gewissermaßen in unseren Willen aufnehmen. Der Wert, den wir mit der Bejahung im Urteil anerkennen, ist von uns unabhängig, und das Sollen, wodurch wir im Urteil geleitet werden, ist transzendent. Aber eben diese Transzendenz des Sollens gilt es zu beweisen, da an der Gefühlsmäßigkeit des Sollens leicht auch auf die Subjektivität der Wahrheit weitergeschlossen werden könnte. RICKERT frägt darum, ob wir die Transzendenz des Sollens leugnen können, ohne uns in Widersprüche zu verwickeln. "Wie aber steht es mit der Leugnung des Wertes der Urteile, die ein Sollen anerkennen?" frägt RICKERT und antwortet darauf:
Durch den verfehlten Beweis der Transzendenz des Sollens wird auch die Folgerung hinfällig, daß das Sollen dem Sein vorausgeht. Außerdem beruth der Beweis RICKERTs, daß das Wissen vom Sein das Geurteilthaben voraussetzt, auf der Äquivokation des Wortes Wissen, denn Wissen über und Wissen um sind prinzipiell verschieden, und nur von Wissen "um" kann die Rede sein, wenn behauptet wird, daß das Sein dem Sollen vorhergeht. RICKERTs Beweis, der auf einer quaternio terminorum beruth, ist also ungültig. Ferner ergibt sich daraus, daß die Transzendenz des Sollens nicht bewiesen werden konnte, auch die Unrichtigkeit einer weiteren Konsequenz, die RICKERT gezogen hat: daß nämlich das Sollen der einzige Gegenstand der Erkenntnis ist. Auch mit dieser Behauptung läuft RICKERTs Unabhängigkeitstheorie auf eine Evidenztheorie hinaus. Nach RICKERTs eigenem Zeugnis kann uns das Gefühl der Urteilsnotwendigkeit, d. h. das Gefühl des Sollens, täuschen. Es käme also darauf an, andere Kriterien der Wahrheit zu finden, als das Gefühl des Sollens. Da aber solche Kriterien nach RICKERTs früheren Ausführungen unmöglich gefunden werden können, sondern für die Wahrheit eines Urteils ausdrücklich nur das unmittelbare Gefühl des Sollens als maßgebend von RICKERT anerkannt wurde, ist es offenbar, daß durch die hier dargestellte Werttheorie die Unabhängigkeit der Wahrheit weder vom Subjekt noch von der "Wirklichkeit" zureichend dargelegt wird. ![]()
1) Sigwart, Logik, Bd. 1, 1904, Seite 27. 2) Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, zweite Auflage, Seite 134. 3) vgl. Rickert, Fichtes Atheismus und die kantische Philosophie, Seite 8 4) Sigwart, a. a. O. Seite 155f, besonders 159. 5) Lotze, System der Philosophie, Bd. 1, Logik (1881), Seite 61. 6) Rickert, Gegenstand, Seite 94/95. 7) Rickert, Gegenstand, Seite 86 8) Rickert, Gegenstand, Seite 95 9) Die problematischen Urteile, bei denen die Beurteilung zwar suspendiert, aber das Urteil doch ausgesprochen wird, können hier übergangen werden, da sie zur Darstellung von Rickerts Wahrheitsbegriff nicht nötig sind. Denn es kann sich nach Rickerts Theorie der Bejahung oder Verneinung nur um Urteile handeln. 10) Rickert, Gegenstand, Seite 101 11) Rickert, Gegenstand, Seite 103 12) Rickert, Gegenstand, Seite 99 13) Rickert, Gegenstand, Seite 105 14) Rickert, Gegenstand, Seite 106 15) Rickert, Gegenstand, Seite 106 16) Hugo Münsterberg, Beiträge zur experimentellen Psychologie, Heft 3, 1890, Seite 30 und 111 passim. 17) Rickert, Gegenstand, Seite 105 18) Rickert, Gegenstand, Seite 86 19) Rickert, Gegenstand, Seite 103 20) Rickert, Gegenstand, Seite 106 21) Rickert, Gegenstand, Seite 106 22) Rickert, Gegenstand, Seite 112 23) Rickert, Gegenstand, Seite 112 24) Rickert, Gegenstand, Seite 112 25) Alois Höfler, Grundlehren der Logik, 1907 26) Rickert, Gegenstand, Seite 116 27) Rickert, Gegenstand, Seite 125 28) Rickert, Gegenstand, Seite 114 29) Rickert, Gegenstand, Seite 115 30) Rickert, Gegenstand, Seite 128 31) Rickert, Gegenstand, Seite 130 32) Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob, 1911, Seite 719, 726, 731 passim. 33) Rickert, Gegenstand, Seite 117 34) Rickert, Gegenstand, Seite 117 35) Rickert, Gegenstand, Seite 118 36) Moritz Geiger, Das Bewußtsein von Gefühlen, Münchner Philosophische Abhandlungen, 1911, Lippsfestschrift, Seite 132f 37) Rickert, Gegenstand, Seite 122 38) Rickert, Gegenstand, Seite 157 39) Rickert, Gegenstand, Seite 118 40) Rickert, Gegenstand, Seite 130 |