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MORITZ SCHLICK
Allgemeine Erkenntnislehre
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"Jedes Urteil hat nur Sinn im Zusammenhang mit anderen Urteilen, denn damit ein Satz Bedeutung hat, müssen ja außer ihm selbst mindestens noch die Definitionen der Begriffe gegeben sein, die in ihm auftreten. Bei Urteilen über Realitäten führen nun die Definitionen in letzter Linie immer irgendwie auf anschaulich Gegebenes zurück, und zwar in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften meist auf sinnlich Wahrgenommenes. Es läßt sich deshalb jede Realbehauptung durch eine Kette von Urteilen so mit unmittelbar gegegeben Daten in Verbindung setzen, daß sie an ihnen geprüft werden kann."

"Die Verifikation läuft immer auf die Feststellung der Identität zweier Urteile hinaus. In dem Augenblick, wo sich herausstellt, daß wir bei der Bezeichnung einer wahrgenommenen Tatsache zu demselben Urteil gelangen, das wir schon vorher auf logischem Weg für diese Tatsache abgeleitet hatten, sind wir von der Wahrheit des erprobten Satzes überzeugt; und es gibt keinen anderen Weg zu einer solchen Überzeugung, weil eben das Wesen der Eindeutigkeit es mit sich bringt, daß sie schließlich immer auf die geschilderte Weise zum Ausdruck kommt."

"Wo immer eine Wahrheit uns evident erscheint, wo immer wir gleichsam zu uns sprechen: es stimmt, so und nicht anders, da findet stets ein Identitätserlebnis statt. Und andererseits kündigt sich alles Falsche durch ein Ungleichheitserlebnis an. Wie sollte es auch anders sein, da doch die Wahrheit das schlechthin Konstante, ewig Unabänderliche, Eindeutige ist, während sich uns das Falsche, das Vieldeutige, immer in Unstimmigkeiten, Differenzen und Abweichungen zeigt."

Da wir das Vorhandensein eines spezifischen Erlebnisses der "Evidenz" verneinten, das uns die Wahrheit eines wahren Satzes untrüglich anzeigt, taucht natürlich die Frage auf, an welchen Bewußtseinsdaten sich denn nun eigentlich die Wahrheit erkennen läßt. Welches ist das Kriterium, das uns ihrer versichert? Auf diese Frage haben wir bisher unmittelbar keine Antwort gegeben, wir sind aber im vollständigen Besitz der Daten, die zu ihrer Lösung erforderlich sind.

Denn da wir über das Wesen der Wahrheit Bescheid wissen und ihre Eigenschaften kennen, so vermögen wir auch anzugeben, wie sich die Wahrheit der Urteile für uns bemerkbar machen muß. Wahrheit kann nur da sein, wo die Merkmale des Begriffs der Wahrheit entweder selbst unmittelbar vorgefunden werden, oder solche Daten, die eine notwendige Folge des Vorhandenseins dieser Merkmale sind. Nun ist aber die Wahrheit durch ein einziges, höchst einfaches Merkmal definiert: es ist die Eindeutigkeit der Zuordnung der Urteile zu den Tatsachen. Ein Kriterium der Wahrheit ist daher jedes Anzeichen, welches festzustellen gestattet, ob eine solche Eindeutigkeit besteht oder nicht. Für das Stattfinden der Eindeutigkeit gibt es aber wiederum zunächst nur ein unmittelbares Kennzeichen: daß sich nämlich nur eine einzige Tatsache finden läßt, die dem untersuchten Urteil zugeordnet ist, nach den feststehenden Regeln der Bezeichnung.

Die Wissenschaften haben längst besondere Methoden entwickelt, um die Eindeutigkeit der Bezeichnung von Tatsachen durch Urteile zu kontrollieren; es sind die Methoden der  Verifikation.  Sie spielen in den Realwissenschaften eine gewaltige Rolle, denn diese Disziplinen bauen sich in der Weise auf, daß sie ihre Urteile zuerst als Hypothesen aufstellen und dann durch Verifikation erproben, ob durch sie eine eindeutige Bezeichnung erreicht wird. Ist dies der Fall, so gilt die Hypothese als ein wahrer Satz.

Wir haben es in diesem Abschnitt allein mit Sätzen über Begriffe zu tun, denn nur die von ihnen handelnden Fragen können ganz zu den Denkproblemen gerechnet werden. Wir wollen aber die Frage der Verifikation der Urteile über Wirklichkeiten gleich hier erledigen, weil dazu gar keine Voraussetzungen über die Natur des Wirklichen nötig sind, die uns erst im folgenden Abschnitt beschäftigen soll, und weil es umständlich sein würde, die Frage später noch einmal abzuhandeln.

Jedes Urteil hat nur Sinn im Zusammenhang mit anderen Urteilen, denn damit ein Satz Bedeutung hat, müssen ja außer ihm selbst mindestens noch die Definitionen der Begriffe gegeben sein, die in ihm auftreten. Bei Urteilen über Realitäten führen nun die Definitionen in letzter Linie immer irgendwie auf anschaulich Gegebenes zurück, und zwar in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften meist auf sinnlich Wahrgenommenes. Es läßt sich deshalb jede Realbehauptung durch eine Kette von Urteilen so mit unmittelbar gegegeben Daten in Verbindung setzen, daß sie an ihnen geprüft werden kann. Es kann nämlich so eingerichtet werden, daß das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Daten das Kriterium für die Wahrheit oder Falschheit des Urteils abgibt. Und das geschieht in folgender Weise:

Nehmen wir an, es sei eine beliebige Realbehauptung  U  zu verifizieren. Man kann dann aus  U  ein neues Urteil  U1  ableiten, indem man ein anderes Urteil  V  hinzufügt, welches so gewählt ist, daß  U  und  V  zusammen als Prämissen eines Syllogismus dienen, dessen Konklusion dann eben  U1  ist. Dieses  V  kann nun erstens wiederum eine Realbehauptung sein, oder zweitens eine Definition, oder drittens ein rein begrifflicher Satz, von dem wir einstweilen annehmen, daß seine Wahrheit bereits absolut feststeht. Aus  U1  kann nun mit Hilfe eines neu hinzugefügten Urteils  Y  ein weiteres,  U2 abgeleitet werden, wobei für den Charakter von  Y  dieselben drei Möglichkeiten bestehen wie für  V.  Aus  U2  und einem neuen Urteil  X  ergibt sich ein  U3 und so kann es fortgehen, bis man schließlich zu einem Urteil  Un  gelangt, welches ungefähr die Form hat: Zu der und der Zeit, an dem und dem Ort wird unter den und den Umständen das und das beobachtet oder erlebt." Man begibt sich zur bestimmten Zeit an den bestimmten Ort, realisiert die bestimmten Umstände und beschreibt, d. h. bezeichnet die dabei gemachten Beobachtungen oder Erlebnisse durch ein Urteil  W (Wahrnehmungsurteil), indem man das Beobachtete oder Erlebte aufgrund von Wiedererkennungsakten unter die zugehörigen Begriffe bringt und mit den dafür gebräuchlichen Worten benennt. Ist nun  W  mit  Un  identisch, so bedeutet dies die Verifikation von  Un  und damit auch vom ursprünglichen  U.

Man findet nämlich, obwohl man Urteil und Tatsache auf zwei völlig verschiedenen Wegen einander zugeordnet hat, daß doch ein und dasselbe Urteil beide Male ein und dieselbe Tatsache bezeichnet; die Zuordnung ist also eindeutig, das Urteil wahr. Da nun das letzte Glied der Urteilskette zu einer eindeutigen Bezeichnung führte, so erblickt man darin ein Anzeichen dafür, daß auch die übrigen Glieder mithin der Anfang und Ausgangspunkt  U  die Bedingung der Wahrheit erfüllen und läßt den ganzen Prozeß auch als eine Verifikation des letzteren Urteils gelten.

Streng genommen ist dieser Schluß freilich nur dann einwandfrei, wenn die Wahrheit jener hinzugefügten Urteile  V, Y ...  bereits für sich feststeht. Dies wiederum ist von vornherein nur der Fall, wenn die  V  Definitionen oder Begriffssätze sind, denn diese gewährleisten ja durch ihre Entstehung selbst schon die Eindeutigkeit. Sind es dagegen Realbehauptungen, deren Wahrheit nicht über allen Zweifel erhaben ist, so beweist die Eindeutigkeit, wenn man am Ende des Verifikationsprozesses richtig zu ihr geführt wird (also die Wahrheit von  Un),  streng genommen noch nicht die Wahrheit von  U,  denn durch Zufall kann es bekanntlich eintreten, daß ein Schlußsatz richtig ist, obgleich unter den Prämissen, aus denen er gewonnen wurde, sie eine oder mehrere falsche befinden. Da aber eine rein zufällige Bestätigung im allgemeinen sehr unwahrscheinlich wäre, so verliert die Verifikation doch nicht ihren Wert. Sie bietet zwar keinen absolut strengen Beweis für die Wahrheit von  U,  sondern macht sie nur wahrscheinlich; dafür bedeutet sie aber zugleich eine Verifikation für die sämtlichen Hilfssätze  V, Y ...,  denn auch die Wahrheit dieser Urteile macht sie wahrscheinliche, und zwar aus denselben Gründen, die für  U  gelten, denn jene stehen ja prinzipiell zu  Un  in ganz demselben Verhältnis wie  U.  Jeder einzelne von diesen Hilfssätzen wird in der Praxis oder der Wissenschaft meist noch durch zahlreiche andere Urteilsketten verifiziert; so stützen sich die einzelnen Ergebnisse gegenseitig, und die Eindeutigkeit der Zuordnung wird für jedes Glied des ganzen Systems immer mehr sichergestellt.

An jedem beliebigen Beispiel aus den Wissenschaften läßt sich das Gesagte veranschaulichen. Nehmen wir an, der Historiker (1) wolle sich überzeugen, ob es wahr ist, daß irgendein bestimmtes Ereignis sich in der überlieferten Weise abgespielt hat. Da werden ihm zunächst irgendwelche Angaben eines Geschichtswerkes, sodann vielleicht gedruckte oder geschriebene Berichte oder dokumentarische Aufzeichnungen über das Geschehnis vorliegen, und diese müssen von Zeugen stammen, die auf mehr oder weniger direktem Weg, oft durch viele Mittelspersonen hindurch, von der Begebenheit Kenntnis erlangten. Der Forscher kann nun vielleicht aus den vorliegenden Daten den Schluß ziehen, daß unter den Aufzeichnungen eines bestimmten Mannes, dessen die Quellen Erwähnung tun, oder in der Chronik einer bestimmten Stadt, wahrscheinlich eine Bemerkung über den fraglichen Vorgang zu finden sei, und er wird versuchsweise den Satz  (Un aufstellen: "In dem und dem Archiv befindet sich eine Urkunde mit den und den Angaben über jenes Ereignis". Wird nun in dem Archiv eine solche Urkunde wirklich entdeckt, so kann genau das gleiche Urteil (als  W)  aufgrund der anschaulichen Wahrnehmung dieses Schriftstückes aufgestellt werden: dem gleichen Tatbestand entspricht beide Male dasselbe Urteil, und alle Urteile der ganzen Schlußkette gelten damit als verifiziert.

Diese Urteilsreihe ist in Wirklichkeit unübersehbar lang, kaum in aller Vollständigkeit auszusprechen und hinzuschreiben. Eine gewaltige Anzahl von Hilfssätzen  V, Y ...  ist in ihr enthalten, und die meisten von ihnen werden niemals explizit erwähnt, weil man ihre Wahrheit nicht bezweifelt, weil sie im Leben und Denken zu jeder Stund von uns vorausgesetzt und ebensooft bestätigt werden. Zu ihnen gehören z. B. die Annahmen - um nur näher liegende zu nennen -, daß nicht sämtliche Zeugen durch Halluzinationen getäuscht wurden, daß Pergament und Papier die Schriftzüge unverändert erhalten und nicht etwa mit der Zeit in andere mit anderem Sinn verwandeln, und dgl. mehr. Sätze dieser Art gehen ausnahmslos in jeden Verifikationsprozeß ein. Und weil sie sich in jedem Fall bestätigen, hegen wir einen so unerschütterlichen Glauben an ihre Wahrheit.

Die Erkenntnistheorie des Pragmatismus, der vor einiger Zeit nicht unbeträchtliches Aufsehen in der philosophischen Welt erregte, rückte diese Verifikationsprozesse in das Zentrum der Betrachtungen und behauptete, daß in ihnen überhaupt das ganze  Wesen  der Wahrheit besteht. Daß dieser Satz gänzlich unrichtig ist, wissen wir aus den Betrachtungen des ersten Teils. Aber die Pragmatisten (PEIRCE, JAMES, DEWEY in Amerika, F. C. S. SCHILLER in England u. a.) erwarben sich doch dadurch ein echtes Verdienst, daß sie ausdrücklich darauf hinwiesen, daß es (zunächst für Realbehauptungen) überhaupt keinen anderen Weg zur  Konstatierung  der Wahrheit  gibt,  außer der Verifikation. Dies ist in der Tat von großer Wichtigkeit. Wir fügen noch das gleichfalls wichtige Ergebnis hinzu, daß die Verifikation immer auf die Feststellung der Identität zweier Urteile hinausläuft. In dem Augenblick, wo sich herausstellt, daß wir bei der Bezeichnung einer wahrgenommenen Tatsache zu demselben Urteil gelangen, das wir schon vorher auf logischem Weg für diese Tatsache abgeleitet hatten, sind wir von der Wahrheit des erprobten Satzes überzeugt; und es gibt keinen anderen Weg zu einer solchen Überzeugung, weil eben das Wesen der Eindeutigkeit es mit sich bringt, daß sie schließlich immer auf die geschilderte Weise zum Ausdruck kommt.

Aber wie steht es nun mit rein begrifflichen, d. h. analytischen Sätzen? Sämtliche Betrachtungen, die wir hier als "Denkprobleme" abgehandelt haben, beschäftigen sich mit dieser Art von Urteilen. Wir wissen, daß sie  a priori  gültig sind, weil sie ja nur aussagen, was in den Begriffen bereits definitionsgemäß enthalten ist und daher keiner Bestätigung durch die Erfahrung bedürfen, um als wahr erkannt zu werden. Eine Verifikation von der Art, wie wir sie eben für die Wirklichkeitssätze beschrieben haben, scheint also für die Begriffssätze nicht erforderlich zu sein, ihre Wahrheit bedarf dergleichen nicht zu ihrer Offenbarung. Wir wissen auch schon, daß die Flüchtigkeit und Kontinuität der psychischen Prozesse kein Hindernis für uns bildet, analytische Urteile und Schlüsse richtig zu vollziehen und zu erkennen, daß sie richtig vollzogen sind. Wir haben uns aber noch nicht im einzelnen vergegenwärtigt, durch welche Bewußtseinsakte dies geschieht, und müssen es nun nachholen, um die durch Ablehnung der Evidenztheorie leer gewordene Stelle auszufüllen.

Es liegt, wie wir sahen, im Wesen der Analyse oder der Deduktion, daß der Inhalt des Schlußsatzes bereits vollständig in den Prämissen enthalten ist. Er sagt nur scheinbar etwas Neues; Zeichenkombinationen, die scheinbar verschieden sind, stellen sich als gleichbedeutend heraus, sobald man auf die in den Prämissen vollzogenen Setzungen zurückgeht. Ist daher der Schluß richtig gezogen, so muß sich die Eindeutigkeit der Zuordnung der Begriffe zueinander dadurch offenbaren, daß man zu einer reinen  Identität  gelangt, wenn man die Substitutionen ausführt, die kraft der in den Prämissen niedergelegten Begriffsbeziehungen erlaubt sind oder erfordert werden. Dies also ist das logische Fundament des Weges, auf welchem die Richtigkeit der Analyse, d. h. die Wahrheit des Schlußsatzes konstatiert wird. Am deutlichsten läßt sich das aufweisen an den durchsichtigsten Methoden der Analysis, die wir überhaupt besitzen: denen der Mathematik, besonders der Algebra. Um die Richtigkeit einer beliebigen Relation festzustellen, sagen wir z. B. in der Gleichung  eix = cos x + i sin x,  setzt man auf beiden Seiten für die Rechnungssymbole ihre Bedeutung ein, in unserem Beispiel also die Reihen, durch welche die Funktionen definiert sind, und man erhält sofort eine Identität. Und ebenso kann in jedem anderen Fall die Richtigkeit eines Resultates verifiziert werden. Aber auch jeder andere deduktiv abgeleitete Satz läßt sich in analoger Weise prüfen. Nehmen wir etwa das Schulbeispiel von der Sterblichkeit des  Caius,  so können wir den Schlußsatz gemäß den Anweisungen der Prämissen in eine reine Identität verwandeln. Denn wenn wir ihm für  Caius  "ein Mensch" substituieren (nach dem Untersatz), und für "ein Mensch" (nach dem Obersatz) "ein Sterbliches", so geht er über in die Tautologie "ein Sterbliches ist sterblich"; die Eindeutigkeit dokumentiert sich in dieser Identität.

Die Aufweisung einer Identität dient uns also auch hier, wie bei den Realbehauptungen, als Kriterium der Wahrheit. Sie geschieht im Bewußtsein natürlich durch mehr oder weniger anschauliche Vorgänge, durch welche die diskontinuierlichen Begriffsverhältnisse gleichsam nachgeahmt werden - ein Vorgang, von dessen Möglichkeit wir uns durch die Entwicklungen des § 17. Überzeugt haben. Um die Wahrheit irgendeines allgemeinen Satzes einzusehen, muß ich ihn zunächst "verstehen", ich muß mir die Bedeutung der Worte klar machen und mir seinen Sinn vergegenwärtigen. Wir können dies ausdrücken, indem wir sagen, ein allgemeiner Satz wird dadurch zum Verständnis gebracht, daß wir ihn geschwind auf ein anschauliches Beispiel anwenden. Und ebenso geschieht die Einsicht in seine Wahrheit, die eben in irgendeinem Identitätserlebnis abschließt, durch welches gewisse Vorstellungen oder Akte sich als ein und dieselben dokumentieren. Die gleichen logischen Verhältnisse können auf die verschiedenste Art repräsentiert werden; ein und denselben geometrischen Satz kann ich mir an unendlich vielen Figuren klar machen, die Gültigkeit eines Schlußmodus mit Hilfe der verschiedensten Beispiele illustrieren. Ganz unabhängig von der Natur der illustrierenden Bilder muß aber (vorausgesetzt natürlich, daß die "Bilder" den logischen Beziehungen wirklich parallel gehen) am Schluß das Identitätserlebnis auftreten. Und dieses Erlebnis ist es nun ohne Zweifel, welches man gemeinhein als "Evidenzgefühl" anzusprechen pflegt. Was für Urteile man auch betrachten möge: wo immer eine Wahrheit uns evident erscheint, wo immer wir gleichsam zu uns sprechen: "es stimmt", "so und nicht anders", da findet stets ein solches Identitätserlebnis statt. Und andererseits kündigt sich alles Falsche durch ein Ungleichheitserlebnis an. Wie sollte es auch anders sein, da doch die Wahrheit das schlechthin Konstante, ewig Unabänderliche, Eindeutige ist, während sich uns das Falsche, das Vieldeutige, immer in Unstimmigkeiten, Differenzen und Abweichungen zeigt.

Natürlich ist das Auftreten dieses "Evidenzgefühls", wie wir nunmehr in Übereinstimmung mit dem früher Gesagten sehen, kein untrügliches Kriterium der Wahrheit. Denn es kann wirklich eine Identität der entscheidenden Bewußtseinsdaten vorhanden sein, ohne daß das Urteil, bei dessen Durchdenken sie auftreten, richtig zu sein braucht. Dies kann nämlich dann eintreten, wenn die Korrespondenz zwischen den Begriffen oder Urteilen und ihren anschaulichen Repräsentationen mangelhaft ist, d. h. wenn in der Kontinuität der Bewußtseinsprozesse jenes Moment der Diskretion nicht hervortritt, welches wir oben (§ 17) als die notwendige Bedingung alles exakten Denkens erkannt haben. Dann kann es geschehen, daß durch so ein Abgleiten ein und dasselbe Bewußtseinsdatum zum Repräsentanten verschiedener Begriffe wird, und damit entsteht ein Identitätserlebnis am unrechten Ort. Die  quaternio terminorum [der Mittelbegriff ist nicht der gleiche - wp] ist ein Beispiel für einen solchen Fall. Der Fehler kann entdeckt werden durch ein nochmaliges Durchdenken der Analyse, denn da die Bewegung der Bewußtseinsvorgänge von zufälligen Umständen beeinflußt wurde, so ist es wahrscheinlich, daß sie ein zweites Mal nicht in derselben Weise erfolgt (besonders, wenn sie gar durch ein anderes Individuum vollzogen wird), und daß sich so die Diskrepanz enthüllt.

Es gibt freilich keine psychologische Vorschrift, wie solche Diskrepanzen in jedem Fall zu vermeiden sind, um das Evidenzgefühl immer nur am richtigen Ort auftreten zu lassen, keine Garantie dafür, daß einem bestimmten Bewußtsein die Richtigkeit einer bestimmten Deduktion jederzeit zur Evidenz gebracht werden könnte. Aber das wäre auch zuviel verlangt. Es hängt von den Bedingungen ab, die wir nicht auf Wunsch restlos erfüllen können. Zur Begründung einer unanfechtbaren Erkenntnis genügt es, daß unter Umständen diese Bedingungen wirklich erfüllt  sind;  daß dies aber der Fall ist, steht als Tatsache über allem Zweifel fest.


Von Realbehauptungen und von Begriffswahrheiten gilt also gleichermaßen, daß ihre Wahrheit durch ein Identitätserlebnis festgestellt wird, welches den Abschluß eines Verifikationsprozesses bildet. Es ist aber von der allerhöchsten Bedeutung, neben dieser Übereinstimmung nicht den Unterschied aus dem Auge zu verlieren, der diese beiden Klassen von Urteilen durch einen Abgrund voneinander trennt, den keine Logik und Erkenntnistheorie überbrücken kann.

Wenn es gilt, eine durch irgendwelche Schlüsse gewonnene Realbehauptungen zu verifizieren - also etwa ein Urteil über den Charakter einer historischen Persönlichkeit oder über die Eigenschaften einer chemischen Verbindung -, so ist die Verifikation etwas ganz Neues gegenüber den Denkprozessen, die zur Aufstellung des Urteils führten. Sie ist eine Handlung, durch die der Mensch zur umgebenden Welt Stellung nimmt, und von der er ein bestimmtes Resultat erwartet. Von der Wirklichkeit und ihren Gesetzen hängt es ab, ob dieses Resultat erzielt wird oder nicht. Kann er je mit Bestimmtheit wissen, daß ein Urteil über Wirklichkeiten sich bestätigen muß? Es scheint zunächst, als vermöge er das in der Tat, wenn er nur die Gesetze des Wirklichen kennt. Aber nehmen wir an, er habe alle Gesetzmäßigkeiten der Natur vollkommen studiert - woher weiß er, daß sie in Zukunft denselben Gesetzen folgen und auch dann noch sein Urteil verifizieren wird? Die Erfahrung lehrt ihn darüber nichts, denn sie zeigt nur, was ist, nicht aber, was sein wird. Ein Satz ist aber natürlich nur dann wahr, wenn er sich  immer  und ausnahmslos bestätigt. Aus einer beschränkten Anzahl von Verifikationen kann man, wie schon bemerkt, streng genommen nicht auf eine absolute Wahrheit, sondern nur auf Wahrscheinlichkeit schließen, weil ja durch Zufall auch bei falschen Urteilen die Prüfung der Eindeutigkeit im Einzelfall scheinbar ein günstiges Ergebnis haben kann. Aus noch so vielen Bestätigungen läßt sich logisch nicht folgern, daß ein Urteil sich in aller Zukunft verifizieren  muß.  Um absolut sicher zu sein, daß ein Satz sich immer bestätigen wird, daß er schlechthin wahr, allgemeingültig ist, müßten wir der Wirklichkeit  befehlen  können, uns bei allen Proben eine Wahrnehmung zu liefern, die mit der erwarteten übereinstimmt. Mit anderen Worten: Um  a priori  gültige Urteile über die Natur aufzustellen, müßte unser Bewußtsein der Natur ihre Gesetze vorschreiben; sie müßte in einem gewissen Sinne als ein Werk unseres Bewußtseins angesehen werden können. Man weiß, daß KANT in der Tat glaubte, das sei möglich und verhalte sich so; die obersten Gesetze der Natur seien zugleich die Gesetze der Erkenntnis der Natur. Auf diese Weise suchte er schlechthin gültige allgemeine Naturerkenntnisse für uns zu retten und zu sichern, und so die große Frage in einem bejahenden Sinn zu entscheiden, ob eine absolut sichere Erkenntnis der wirklichen Welt überhaupt möglich ist. Im nächsten Teil müssen wir unsererseits vor dieses Problem hintreten, das wir schon mehrmals in der Ferne sich erheben sahen.

Für die Begriffssätze, die analytischen Urteile, gibt es ein derartiges Problem nicht. Bei ihnen ist der Prozeß der Verifikation nicht etwas Neues gegenüber dem Herleitungsprozeß, nicht von ihm unabhängig (wie der Mathematiker sagen würde), sondern er ruht logisch und psychologisch auf genau denselben Daten wie dieser, geht in keiner Weise über ihn hinaus in eine fremde Wirklichkeit. Die Analogie, die zwischen beiden Urteilsarten hinsichtlich der Einsicht in ihre Wahrheit besteht, geht also nicht etwa so weit (wie man zunächst denken könnte und wirklich gedacht hat), daß bei Begriffswahrheiten die Gesetze des Bewußtseinsverlaufs eine ähnliche Rolle spielten wie die Naturgesetze für die Realbehauptungen. Man könnte nämlich versucht sein, folgendermaßen zu argumentieren: wenn ich jetzt auch die Richtigkeit einer Deduktion einsehe, so ist damit die Wahrheit des Schlußsatzes doch nicht schlechthin gewiß, sondern nur wahrscheinlich gemacht; denn was bürgt mir dafür, daß ich auch in Zukunft stets dieselbe Einsicht haben werde? Könnte sich nicht die Gesetzmäßigkeit meines Bewußtseins ändern, so daß mir künftig wahr erscheinen wird, was jetzt falsch ist, oder umgekehrt?

Diese Argumentation verkennt die dem analytischen Verfahren zugrunde liegenden Tatbestände. Ein Bewußtsein, welches fähig ist, bestimmte Definitionen aufzustellen, ist auch fähig, die daraus folgenden analytischen Sätze immer in derselben Weise einzusehen. Denn beides ist im Prinzip derselbe Prozeß; das Urteil geht ja in keiner Weise über das hinaus, was in seine Begriffe schon hineingelegt, in ihnen schon gedacht ist. Die Frage, ob ein Urteil wahr ist, hat nur Sinn für ein Bewußtsein, das die Definitionen der darin vorkommenden Begriffe vollziehen und verstehen kann. Für ein solches ist sie aber eben damit auch schon beantwortet. Ich kann freilich geisteskrank werden, die Gesetzmäßigkeit meiner Bewußtseinsvorgänge kann sich so ändern, daß ich unfähig werde, die Wahrheit z. B. des Einmaleins zu begreifen. Gewiß, aber dann bin ich eben gar nicht mehr imstande, den Sinn der einzelnen Zahlworte überhaupt richtig zu verstehen, dann kann ich einen sinnvollen Satz über die Zahlen gar nicht denken, und die Frage nach der Richtigkeit eines solchen Satzes wird für mich gegenstandslos, ich kann sie gar nicht aufwerfen. Ein Bewußtsein, das einen analytischen Satz überhaupt verstehen kann, hat eben damit  eo ipso [schlechthin - wp] die Fähigkeit, seine Wahrheit einzusehen, zu verifizieren, denn beides geschieht durch dieselben Prozesse. Und das gilt unabhängig davon, welcher Art die Gesetzmäßigkeit des denkenden Bewußtsein im übrigen sein mag. Sie fällt in diesem Ergebnis wieder heraus, wird gleichsam eliminiert. Wenn ich in ein anderes Wesen mit anderen Sinnen und einer völlig verschiedenen Psyche verwandelt würde, das aber in seiner Art eine entsprechend hohe Intelligenz besitzt, so würden die Bewußtseinsvorgänge und ihre Gesetze, durch die ich etwa den Satz  2 x 2 = 4  denke, mit meinen jetzigen nicht die geringste Ähnlichkeit haben, und doch würde ich auf jenem gänzlich differenten Weg die Wahrheit des Satzes einsehen können. Sonst nämlich könnte ich ihn gar nicht verstehen, was gegen die Voraussetzung wäre (2).

Das heißt nun aber, bei analytischen Urteilen ist mir ihre absolute Wahrheit verbürgt; ich habe die Gewißheit, daß sie sich stets verifizieren müssen. (Stets: das bedeutet, so oft ich die Urteile überhaupt denke. Wenn ich sie nicht denke oder nicht denken kann, so wird die Frage sinnlos.) Mit vollem Recht bezeichnet daher LEIBNIZ die Begriffswahrheiten als  vérités éternelles [ewige Wahrheiten - wp].

Bei den Realbehauptungen dagegen, den  vérités de fait [Tatsachenwahrheiten - wp], ist es sehr wohl möglich, daß ich sie verstehen und denken kann, sie auch in einer Reihe von Fällen bestätigt gefunden habe, daß sie sich aber in der Zukunft doch nicht verifizieren, also nicht wahr sind. Denn was bei ihnen zum Verifikationsprozeß erforderlich ist, ist nicht schon mit dem Verständnis des Urteils gegeben, sondern ich muß darüber hinaus die Wirklichkeit in der Welt befragen.

Die analytischen Urteile, die Begriffssätze, sind damit für uns erledigt. Sie sind kein Problem und geben zu keinem Problem mehr Anlaß.

Aber das Problem der synthetischen Urteile, welches alle Wirklichkeitsprobleme in sich birgt, harrt unserer noch in seiner ganzen Größe.
LITERATUR - Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918
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    Anmerkungen
    1) An einer anderen Stelle ("Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 34, 1910, Seite 437f) hatte ich zur Illustration ein Beispiel aus den Naturwissenschaften gewählt.
    2) Hiernach vermag ich meine frühere Behandlung der Frage ("Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik II, 5, 6. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosopohie, Bd. 34) nicht mehr als befriedigend anzuerkennen.