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Politisches und ökonomisches Kommando
HERMANN HELLER

Das ganze Mittelalter hindurch und noch in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit besaßen die grundbesitzenden Stände und neben ihnen das geldbesitzende Stadtbürgertum auch die politischen Kommandogewalten. Der Absolutismus, der durch die Merkantilpolitik den Staat zum stärksten kapitalistchen Wirtschaftssubjekt machte, monopolisierte zwar die politischen Herrschaftsmittel für den Staat und beraubte die Stände ihrer öffentlichen Herrschaftsprivilegien, er beließ aber nicht nur den Feudalherren die agrarische Kapitalmacht, sondern förderte, was bald zugleich wichtiger wurde, das Entstehen einer gewaltigen bürgerlichen Wirtschaftsmacht in Gestalt des mobilen Industrie-, Handels- und Finanzkapitals. Ihr gewährte der liberale Staat fast völlige Aktionsfreiheit.

Die sich immer stärker konzentrierende Kapitalmacht verfügt grundsätzlich frei über eine immer wachsende Zahl von Wirtschaftsmitteln. Nicht entfernt im gleichen Maß verfügt sie aber über die politischen Herrschaftsmittel der demokratischen Staatsgewalt. Sicherlich disponieren die Wirtschaftsleiter auch in der politischen Demokratie nicht nur über den Umfang an politischer Macht, den ihnen ihr Stimmzettel zuteilt. Oft genug vermögen sie eine beherrschende politische Stellung zu gewinnen. Ihre Kapitalmacht gestattet es ihnen auf dem Umweg über die Parteikassen, über die Zeitungen, das Kino, Radio und eine große Zahl von sonstigen Mitteln der Massenbeeinflussung, die öffentliche Meinung zu dirigieren und so indirekt eine enorme poltische Macht zu entwickeln. Aber auch direkt durch ihr der Staatsgewalt gegenüber betätigtes wirtschaftliches Schwergewicht, unter anderem durch eine Finanzierung der direkten Aktion politisch-militärischer Stoßtrupps, ferner durch ihren ökonomisch-technischen Sachverstand und Überblick, welcher der Bürokratie überlegen ist, und schließlich durch ihre starken internationalen Beziehungen vermögen sie ausschlaggebenden politischen Einfluß zu entfalten.

Trotzdem bleibt dort, wo eine durch Tradition in ihre Ehrbegriffen gefestigte und der Korruption nicht nicht leicht zugängliche Bürokratie und eine Arbeitnehmerschaft vorhanden ist, die durch kraftvolle politische Organisation und eigene Zeitungen geistig widerstandsfähig ist, die Tatsache bestehen, daß der politische Einfluß der Wirtschaftsleiter nicht entfernt heranreicht an ihre ökonomische Macht; noch viel weniger vermögen aber die politischen Leiter das Maß an politischer Macht den Wirtschaftsmächten gegenüber anzuwenden, das ihnen dem Recht nach zukommt.

Diese Trennung des politischen und ökonomischen Kommandos erzeugt den für die gegenwärtige Situation der kapitalistischen Demokratie charakteristischen Spannungszustand. Denn einerseits wollen die großen Massen ihrer politischen Entscheidung auch die Wirtschaft unterstellen und besitzen in der demokratischen Gesetzgebung die dazu nötige legale Handhabe. Sie kämpfen, wie die treffende Formulierung des Görlitzer Programms der deutschen Sozialdemokratie lautet, "um die Herrschaft des im freien Volksstaat organisierten Volkswillens über die Wirtschaft". Umgekehrt erklären die Wirtschaftsleiter den demokratisch-politischen Einfluß in der Wirtschaft für unerträglich und wollen zu ihrem ökonomischen auch noch das direktere politische Kommando erobern. Auf die Dauer genügen die indirekten und anonymen politischen Einflüsse den Wirtschaftsleitern nicht. Sind sie doch ständig in ihrer Wirkung bedroht durch die Dispositionen des demokratisch kontrollierten Gesetzgebers. Dieses Auseinanderklaffen von politischer und gesellschaftlich-wirtschaftlicher Macht ist ein Zustand, dem Dauer nicht besichieden sein kann. Entweder muß die Staatsgewalt durch eine eigene ökonomische Machtfundierung die Möglichkeit bekommen, sich gegenüber den privaten Wirtschaftseinflüssen politisch zu verselbständigen oder der Kampf der Wirtschaftsleiter muß den zumindest vorläufigen Erfolg haben, daß sie die demokratische Gesetzgebung zu ihren Gunsten beseitigen.


LITERATUR - Hermann Heller, Geschichtliche Voraussetzungen des heutigen Staates in Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976