ra-4 Ernst Topitsch

Perspektiven
WERNER STARK

 
Wenn zwei Geologen, von denen einer sich auf die Gesteinskunde, der andere auf die Hydrographie [Gewässervermessung - wp] spezialisiert hat, denselben Berg ins Auge fassen, so wird ihr gedankliches Bild von ihm nicht das gleiche sein. Die Eindrücke des ersteren werden von der harten Oberfläche der Abhänge beherrscht sein, die Eindrücke des letzteren von den Rinnsalen, die ins Tal fließen. Beide bauen wahrheitsgemäßes Wissen auf; die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit wird über jeden Zweifel erhaben sein. Trotzdem ist es möglich, um nicht zu sagen wahrscheinlich, daß das Areal der Übereinstimmung zwischen ihnen nur begrenzt ist; ja, es kann sehr wohl so eng bemessen sein, daß eine sinnvolle Unterhaltung zwischen ihnen unmöglich scheint. Ob solch eine Unterhaltung zustande kommen kann, wird davon abhängen, zu welchem Grad ihr Denken von der umfassenden Wissenschaft der Geologie durchdrungen ist, welcher sowohl Gesteinskunde als auch Hydrographie als Teile angehören.

Genau das gleiche kann im Prinzip von der Art und Weise gesagt werden, in der einer gemeinsamen Rahmengesellschaft angehörige Klassen die Welt (insbesondere die gesellschaftlich-geschichtliche Welt) anschauen und ihre Eindrücke zu einem zusammenhängenden System des Wissens gestalten. Eine untere Klasse, die im Aufstieg begriffen ist, wird ihre Aufmerksamkeit spontan auf jene Züge der Wirklichkeit konzentrieren, die dynamische und progressive Prozesse durchblicken lassen, z. B. auf Handel und Industrie. Eine obere Klasse wird in ebenso natürlicherweise nach den statischen Aspekten der Wirklichkeit Ausschau halten und vielleicht die Landwirtschaft in die Mitte ihres Bildes der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt stellen, weil in ihr Wiederholung und Beharrung die Regel sind und nicht die Veränderung. Oder eine Unterklasse mag die Dysteleologien [Lehre von der Unzweckmäßigkeit - wp] des Lebens und die unschönen Ereignisse der Geschichte ausforschen, während eine Oberklasse eher bestrebt sein wird, die Teleologie des bestehenden Gesellschaftssystems und die glorreichen Geschehnisse in Gegenwart und Vergangenheit herauszufinden und zu beschreiben. Da die Wirklichkeit sowohl statische Bedingungen als auch Fortschrittsphänomene, sowohl Gutes und Schlechtes, sowohl Angepaßtheit als auch Widerspruch in sich trägt, werden beide Forschungsrichtungen stets genug Rohmaterial zu ihrer Verfügung haben, und beide werden ganz wissenschaftlich zu Werke gehen können. Ihr Wissen wird absolut gültig sein, solange sie sich an die Tatsachen halten. Natürlich, es wird ein partielles, ja selbst ein einseitiges Wissen sein - aber alles Wissen ist ja partiell und einseitig, selbst das Wissen unserer wissenschaftlichen Geologen.


LITERATUR, Werner Stark - Die Wissenssoziologie, Stuttgart 1960