K. GroosK. Groos | |||
Die Spiele der Menschen [ 2 / 2 ] Erster Abschnitt Das spielende Experimentieren I. Die spielende Betätigung der sensorischen Apparate 1. Die Berührungsempfindungen Die Reizbarkeit für Berührungen ist schon beim Neugeborenen vorhanden. Man kann neugeborenen Kindern, sobald sie zum ersten Mal still und ruhig geworden sind, sofort wieder Schreilaute und Bewegungen entlocken, wenn man ihnen die Haut kneipt oder den Oberschenkel schlägt. (1) Für das Experimentieren kommen dabei vor allem der Mund und die Hand in Betracht, die sich auch schon von Anfang an sehr empfindlich zeigen. In den ersten Wochen fährt das Kind wohl rein automatisch viel mit den Händen umher und berührt dabei häufig das Gesicht. Gerät es auch solche Weise an die Lippen, so reagieren diese leicht mit Saugbewegungen, woraus dann später das spielende Saugen an den Fingern entsteht. Von wann an derartige Bewegungen von Bewußtsein begleitet sind (2), von wann an vollends sie um des Tastreizes willens vollzogen werden, ist natürlich schwer zu sagen. Nach PEREZ kann man annehmen, daß ein Kind von zwei Monaten, das sanft gestreichelt wird, schon Lust über die Berührung empfindet. (3) Von diesem Moment an wäre dann die Möglichkeit gegeben, daß es sich den Berührungsreiz durch seine Bewegungen zu verschaffen sucht und damit beginnt das Spiel: "Schon nach drei Monaten beginnt das Kind, die Hand zu spannen, um Dinge zu erfassen, es tastet unerfahren seinen Körper ab und prüft suchend, wie sich seine taktilen Muskelgefühle von Tag zu Tag mehr entwickeln." a) Betrachten wir zuerst das Greifen mit den Händen, soweit es sich dabei um eine Befriedigung des Tastbedürfnisses handelt. Die bloß instinktive Greifbewegung, die schon in den ersten Lebenstagen auftritt, wird vom zweiten Vierteljahr ab mehr und mehr durch erworbene Anpassungen ersetzt und ergänzt. Das Kind beginnt, alle Gegenstände, deren es habhaft werden kann, sowie den eigenen Körper, besonders die Füße und auch seine Hand mit der anderen zu betasten. (4) Daß dabei in der Tat nicht nur das motorische Element, von dem wir noch später zu sprechen haben, sondern auch der sensorische Reiz Gegenstand des Interesses ist, scheint eine Beobachtung PREYERs zu beweisen: "In der 18. Woche werden bei den Greifversuchen, gerade wenn sie mißlingen, die eigenen Finger aufmerksam betrachtet. Wahrscheinlich hat das Kind die Berührung erwartet und wenn sie nicht stattfand, sich über das Ausbleiben des Tastgefühls gewundert" (5). Bei diesen Greifübungen macht die Opposition des Daumens, die sich erst am Ende des ersten Vierteljahres zu zeigen pflegt und damit die Verfeinerung des Tastsinns allmählich immer größere Fortschritte. Mit acht Monaten machte es STRÜMPELLs Töchterchen, ein besonderes Vergnügen, ganz kleine Körper, wie Brotkrümel oder eine Perle, zu erfassen. (6) Hierbei zeigt sich also bereits die sehr allgemeine Erscheinung, daß das Spiel vom Leichten zum Schwierigen weitergeht: wenn das Leichteres schon ohne Mühe beherrscht wird, verschafft nur noch die geschickte Bewältigung des Schwierigeren die Freude am Erfolg. - Zugleich werden die Erforschungsreisen am eigenen Körper, durch die beständige "Lokalzeichen" eingesammelt werden, weiter ausgedehnt. "Neulich entdeckte sie gleichsam ihr Ohr", berichtet STRÜMPELL von seiner 10 Monate alten Tochter: "sie faßte oft daran herum und wollte es abreißen oder abwischen. (7) - Marie G. fand im dritten Lebensjahr an der Rückseite ihrer Ohrmuscheln zwei kleine Vorsprünge der Knorpelmasse, die sie mit größtem Interesse erfüllten; sie bezeichnete sie als "Kügele" und forderte auch andere Personen auf, daran zu rühren.- Auch die Nase wird häufig "erforscht". Obwohl sie selten groß genug ist, um ergriffen werden zu können, sagt STANLEY HALL, wird sie doch mit deutlichen Zeichen von Wißbegier betastet und manchmal auch "in einer investigativem Art und Weise" gezupft und gerieben. (8) - Wie wichtig der Tastsinn für die erste geistige Entwicklung ist, beweist der Umstand, daß das kleine Kind als ein ungläubiger THOMAS seinem Tastsinn mehr vertraut als dem Auge. "Beim Tee", erzählt SIKORSKI: "wende ich mich an meine elfmonatige Kleine, zeige auf die ihr wohlbekannte Biskuitbüchse und bitte sie, mir eins zu geben. Ich öffne die leere Büchse, das Kind betrachtet sie, aber damit nicht zufrieden, steckt es seine Hand hinein und untersucht sie. Die Augen haben ihm nicht gereicht, um sich von der Abwesenheit des gesuchten Objektes zu überzeugen. (9) Und im WOLFDIETRICH (A. 103) heißt es:
Der Knabe war noch töricht und zagt vor Feinden nicht. Er ging zu einem jeden und griff ihm mit der Hand, Wo er die lichten Augen in ihren Köpfen fand. (10) b) Der Mund, besonders die Lippen und die Zunge, ist natürlich beim Säugling von Anfang an für Tastreize empfindlich. Als PREYER einem schreienden Kind, dessen Kopf allein erst geboren war, ein Elfenbeinstiftchen in den Mund steckte, fing es an zu saugen, riß die Augen auf und schien der Physiognomie nach "auf das angenehmste berührt" zu sein. (16) Sehr bald gelangen auch durch automatische Armbewegungen die Finger rein zufällig an den Mund und rufen Saugbewegungen hervor. Daraus entwickelt sich dann allmählich das willkürliche Saugen an den Fingern, sowie die Gewohnheit, alle möglichen anderen Dinge an den Mund zu führen. COMPAYRE hebt, wie ich glaube, mit Recht hervor, daß es sich dabei nicht nur um eine "illusion de gourmandise dupée" [trügerische Gefräßigkeitsillusion - wp](PREYER) handelt: "das Kind hat einfach eine Freude an der Berührung, es macht ihm Vergnügen, alles mit seinen Lippen zu betasten, was ihm Gelegenheit gibt, zugleich seine Nerven und seine Muskeln zu üben". (17) - Im späteren Leben finden wir gleichfalls sehr viele Personen, denen es ein Bedürfnis ist, mit den Fingern oder einem Federhalter, Bleistift etc. an den Lippen herumzuspielen. Manche haben, obwohl ihnen das geliebte "Daumenlutschen" abgewöhnt worden ist, doch noch das Bedürfnis, beim Einschlafen oder beim halbwachen Dahindämmern vor dem Aufstehen einen Finger leicht an die Lippen zu legen. (18) Beim Genuß des Rauchens fällt ein - vielleicht beträchtlicher - Teil der Lust den Berührungsempfindungen zu. Auch die so sehr verbreitete Gewohnheit, einen abgebrochen Zweig, ein Blatt oder einen Grashalm in den Mund zu nehmen, darf hier, soweit es sich nicht um Kauübungen handelt, in Betracht gezogen werden. In K. E. EDLERs Roman "Die neue Herrin", (Berlin 1897, Seite 137) werden die Porträts einer jung gestorbenen Frau geschildert. Dabei heißt es: "Die Lippen hielten diesmal eine Zigarette fest, während sie auf anderen Darstellungen einen Rosenstiel, den Knopf einer Reitgerte oder sonst einen Gegenstand, den eigenen kleinen Finger nicht ausgenommen, umfaßten oder doch berührten. Es war ersichtlich, daß auch der Mund jederzeit etwas zu tun haben mußte, wie die Hände, die Füße, die Augen, der ganze Körper." Endlich muß betont werden, daß ein sehr wichtiger Teil der Lust an der Feinschmeckerei dem Tastsinn anheimfällt. Wenn das Kind oder der Erwachsene gewisse Speisen auch ohne Hunger verzehrt, weil sie "so schön glatt heruntergehen", so haben wir ein Spielen mit Berührungsempfindungen vor uns. Man braucht nur an die Leidenschaft für Austern zu erinnern. Ähnlich verhält es sich mit dem Reiz prickelnder Getränke. "Das smeckt wie eingeslafene Füße", sagte ein kleines Mädchen, dem man Sekt zu kosten gegeben hatte - ein Zeichen, wie stark Berührungsempfindungen mitsprechen. c) Nur einige wenige Beispiele mögen andeuten, was über die spielenden Tastempfindungen des übrigen Körpers zu sagen ist. Daß ein Kind von 2 Monaten wahrscheinlich schon Lustempfindungen hat, wenn es sanft gestreichelt wird, wurde schon erwähnt. Ebenso wird man annehmen dürfen, daß die Annehmlichkeit eines weichen Lagers bereits früh empfunden wird. Es fragt sich nun, ob es Fälle gibt, wo das Kind oder der Erwachsene, sich durch eigene Tätigkeit solche Berührungsempfindungen verschafft - um keines anderen Zweckes als um der Berührung willen. Vielleicht kann man in dieser Hinsicht auf das behagliche Hin- und Herdrehen im weichen Bett erinnern. Von deutlicher ausgesprochenem Spielcharakter ist es, wenn sich Kinder immer wieder in ein gut gefülltes Federbett oder in einen Heuhaufen fallen lassen, um in der elastischen Masse zu versinken. Ein viel heftigeres Berühren findet sich bei vielen Tänzen. Beim Siederstanz in Schwäbisch-Hall, den ich selbst als Gymnasiast dort gelernt habe, schlägt man sich mit den Händen auf die Schenkel. Analog, aber bedeutend wilder ist das "Haxenschlagen" bei den bayrischen Tänzen. Und das Altertum kannte das "Anfersen", das abwechselnde Anschlagen der Fußsohlen an den Hintern, das natürlich zugleich eine Bewegungsübung war: es ist ein Vers erhalten, der eine spartanische Jungfrau rühmt, weil sie öfter als irgendjemand angeferst hatte, nämlich 1000 Mal. (19) - Eine Gelegenheit zu sehr angenehmen Berührungsempfindungen gibt das Wasser. Freilich kommt beim Baden in erster Linie das Vergnügen an der Bewegung und der Temperaturreiz in Betracht. Aber das lind Umschmeichelnde des feuchten Elements darf doch auch nicht vergessen werden. Ich führe MÖRIKEs schöne Verse an:
Empfange nun, empfange Den sehnsuchtsvollen Leib einmal Und küsse Brust und Wange! Er fühlt mir schon herauf die Brust, Und jauchzendem Gesange. Es schlüpft der goldne Sonnenschein In Tropfen an mir nieder, Die Woge wieget aus und ein Die hingegebenen Glieder; Die Arme hab' ich ausgespannt, Sie kommt auf mich zugerannt, Sie faßt und läßt mich wieder." Über Temperaturempfindungen habe ich wenig zu sagen, da die Fälle, wo wir uns solche ohne ein wirkliches Bedürfnis nach Abkühlung oder Erwärmung zu verschaffen suchen, relativ selten sind. Immerhin kann auch hier einiges angeführt werden, was Spielcharakter besitzt. Am deutlichsten tritt das bei starken Reizen hervor, die um ihrer Intensität willen aufgesucht werden, weil sie uns, wie alle starken Erregungen das Gefühl "erhöhter Realität" verschaffen (LESSING). Wenn wir die prickelnde Kälte eines Wintertags genießen oder uns der Frühlingssonne aussetzen, um uns "einmal recht durchbraten" zu lassen, so ist das, wie mir scheint, ebensogut eine spielende Beschäftigung, wie etwa das Lauschen auf ein rieselndes Wasser oder das Hinaufschauen zum blauen Himmelsdom. Dasselbe gilt vom Reiz eines kalten Bades, wenn die kühle Lufttemperatur das reale Bedürfnis nach Erfrischung ausschließt, sowie umgekehrt vom Genuß warmer Bäder: neben dem realen Zweck der Reinigung oder der Heilwirkung hat das Vergnügen an der behaglichen Durchwärmung seine selbständige Bedeutung und die meisten Badenden werden sich, wenn Seife und Schwamm ihre Schuldigkeit getan haben, noch eine kleine Weile ruhig ausstrecken, um dieses Vergnügen auszukosten. - Bei der Feinschmeckerei (hierunter möchte ich alle Aufnahme von Speisen und Getränken verstehen, die nicht aus Nahrungsbedürfnis erfolgt, sondern nur um der Reize im Mund und in der Kehle willen) ist das sehr Kalte und sehr Warme gleichfalls nicht zu vergessen. Ich führe nur das Gefrorene und die Pfefferminze, den heißen Grog und die brennenden Gewürze und Spirituosen als Beispiele an. Auch die Geschmacksempfindungen wollen wir nur kurz behandeln, obwohl sich sehr viel darüber sagen ließe. - Das Kind hat zwar nach KUSSMAULs Untersuchungen (20) der Regel nach schon gleich nach der Geburt eine Vorliebe für das Süße, während es das Bittere, Salzige oder Saure zurückweist. Ehe aber der erst später deutlich hervortretende Geruchssinn genügend ausgebildet ist, kommt es auch nicht zu feineren Unterscheidungen beim Essen und Trinken. - Im Ganzen finden wir bei den Kindern die Feinschmeckerei noch nicht zu so großer Mannigfaltigkeit entwickelt wie beim Erwachsenen; der süße Geschmack von Zuckerwaren und der sauersüße des Obstes bildet den hauptsächlichen Anlaß zu spielender Betätigung des Geschmackssinnes. Dafür ist aber die Intensität der so gewonnenen Lustempfindungen außerordentlich groß. Ich erinnere mich noch auf das Lebhafteste der Geburtstagsfest unseres liebenswürdigen Vorschuldirektors ANTHONY in Heidelberg, der bei dieser Gelegenheit die ganze Schule zu Kaffee und Obstkuchen einzuladen pflegte. Welch ungeheure Quantitäten wurden da von den sechs- bis neunjährigen Kindern vertilgt, ganz gewiß nicht bloß aus Hunger, sondern aus Lust an der Geschmacksempfindung als solcher! - Übrigens findet man auch bereits beim Kind, daß die Freude am Schmecken sich ebensowenig auf das wirklich Angenehme beschränkt, wie die Freud am ästhetischen Genießen auf das Schöne. Marie G. zeigte schon von ungefähr drei Jahren an eine auffallende Vorliebe für allerlei pikante Geschmacksreize, die ihr manchmal sichtlich eher unangenehm als angenehm waren, die sie aber um des Reizes willen immer wieder erproben wollte. - Beim Erwachsenen ist neben den eigentlich angenehmen Geschmacksempfindungen die Vorliebe für saure, salzige, ja selbst für nicht allzu bittere Reize zu größerer Mannigfaltigkeit entwickelt als beim Kind. Ich würde mich ins Endlose verlieren, wollte ich den Tafelfreuden der verschiedenen Zeiten und Völker eine nähere Betrachtung widmen; es sei, um wenigstens ein Beispiel aus der Vergangenheit zu nennen, auf die berühmteste aller Schilderungen von schwelgerischen Gastmählern hingewiesen, die W. A. BECKER in seinem "Gallus" verwertet hat. - Ein charakteristisches ethnologisches Beispiel für die Freude an recht zweifelhaften Geschmäcken ist folgendes. Auf Java liefert der Durian-Baum grüne, stachelbedeckte Früchte, die größer als Kokosnüsse sind und deren Genuß nach WALLACE "eine neue Art von Empfindung" verschafft, "die eine Reise nach dem Orient lohnt". Der Geruch ist eigentlich entsetzlich; er erinnert an Bisam und Zwiebeln, erweckt dabei aber auch die Vorstellung des Fauligen, Zersetzten - wie unsere "reifen" Käsesorten. Der Geschmack ist würzig, buttrig, mandelartig und erinnert zugleich an Rahmkäse, Zwiebelsauce und braunen Sherry. Es ist verpönt, die Frucht ins Hotel zu bringen, weil ihr Geruch gleich alle Räume durchdringt. Trotzdem wird sie leidenschaftlich gern gegessen. "Mit diesen Früchten", sagt SEMON, "geht es wie mit unseren stark riechenden Käsen; wer sie nicht liebt, verabscheut sie." (21) Wie sehr bei solchen Genüssen allerlei Assoziationen mitspielen, zeigen die Weinpreislisten; ich habe mir aus einer solchen einige Ausdrücke notiert: kräftig, feurig, zart, frisch, lieblich, schneidig, elegant, stahlig, gewürzig, fruchtig, mollig. - Ein pathologisches Beispiel für das Spiel mit Wohlgeschmäcken und die sich dabei einstellende Assoziationstätigkeit bietet HUYSMANS in seinem Roman "A rebours". Da wird vom nervenkranken Des ESSEINTES, der nach dem Leben gezeichnet ist, Folgendes erzählt: "In seinem Speisezimmer befand sich ein Schrank, in dem kleine Tönnchen auf zierlichen Faßlagern von Sandelholz nebeneinandergereiht waren, jedes mit einem silbernen Hahn versehen. Des ESSEINTES nannte diese Sammlung von Liqueurfäßchen seine Mundorgel. Ein Stab konnte alle Hähne in Verbindung bringen und sie mit einer einzigen Bewegung aufdrehen, ... sodaß es genügte, auf einen im Holzwerke verborgenen Knopf zu drücken, um alle unter den Hähnen befindlichen Becherchen zu füllen. Die Orgel war gerade offen. Die Register mit den Aufschriften "Flöte", "weiche Streicher", "alphorn" waren herausgezogen, alles zur Benützung bereit. Des ESSEINTES schlürfte da und dort einen Tropfen, spielte sich innere Symphonien vor und verschaffte seinem Gaumen ähnliche Genüsse wie sie die Musik dem Ohr bietet". (22) Die Unterscheidung guter und schlechter Gerüche scheint beim Kind erst später als die der Geschmacksreize aufzutreten; wenigstens gilt das für die Freude an guten Gerüchen. Unter Kindern von verschiedenem Alter, die PEREZ untersucht hat, zeigte eines von 10 Monaten entschiedene Vorliebe für den Duft von Rosen; (23) man wird aber annehmen dürfen, daß bei vielen Kindern, die für Gerüche allein noch wenig empfänglich sind, immerhin die Vermischung von Geschmacksreizen mit Wohlgerüchen, z. B. beim Essen von Schokolade eine große Rolle spielt. Die Freude an isolierten Geruchsempfindungen ist im Ganzen bei Mädchen wohl häufiger zu finden als bei Knaben; doch erzählt z. B. JEAN-MARIE GUYAU, er erinnere sich genau an die "emotion penetrante", die er empfand, als er, noch ein kleiner Knabe, zum erstenmal den Duft einer Lilie einatmete. (24) - Gehen wir von hier aus zum Erwachsenen über, so mögen zuerst die Worte desselben Schriftstellers angeführt sein: "unser Geruchssinn spielt trotz seiner relativen Unvollkommenheit eine beträchtliche Rolle bei allen angeschauten oder geschilderten Landschaften; man kann sich weder Italien vorstellen, ohne den durch laue Lüfte zu uns getragenen Duft seiner Orangen, noch die Bretagne oder Gascogne ohne die herbe Seeluft, die VICTOR HUGO so oft besungen hat, noch die Heidelandschaften ohne den erfrischenden Geruch der Fichten." (25) - "Die Leidenschaften für die Zigarre", sagt PILO (und ich führe dieses Beispiel an, um zu zeigen, wie kompliziert oft scheinbar recht einfache Genüsse sind), "ist so allgemein, weil sie in harmonischer Weise fast allen Sinnen zugleich schmeichelt: der Visceral, - Muskel- und Tastempfindung durch die Übung der Lungen, der Lippen, der Zunge, der Zähne, der Speicheldrüsen, durch Druck, Kälte und Wärme; dem Geschmacks- und Geruchssinn durch den pikanten, aromatischen Geschmack und Geruch; dem Gehör in sehr diskreter, intimer Weise durch das Knistern des Blattes und das rhythmische Ausstoßen der in den Mund gedrungenen Luft; endlich dem Gesichtssinn durch den Glanz des glühenden Endes im Dunkeln oder durch das Anwachsen der weißen Asche bei Licht und durch den grauen, bläulichen, gekräuselten Dampf, der sich in phantastischen Spiralen dreht und windet, während das narkotisierte Gehirn eine von Träumen und Visionen erfüllte Ruhe genießt". (26) So vollständig diese Aufzählung zu sein scheint, so fehlt doch noch ein Gesichtspunkt: die Saugbewegung, die uns wie durch eine leise Erinnerung an die ersten Lebensmonate mit einem behaglichen Gefühl erfüllt. - Der schon einmal erwähnte Des ESSEINTES in HUYSMANS' Roman, der in seiner pathologischen Weise die Lehre GUYAUs zu verwirklichen sucht, wonach auch die niederen Sinne ästhetische Genüsse gewähren können, (27) sei auch hier wieder aufgeführt. "Jetzt wollte er in einer überraschenden und abwechslungsreichen Landschaft umherschweifen und er begann mit einem vollen, sonoren Satz, der plötzlich die Aussicht auf unermeßliche Gefilde eröffnete. Durch seine Vaporisatoren erfüllte er das Zimmer mit einer Essenz aus Ambrosienkraut, Lavendel von Mitcham, Pois de senteur und Bouquet, einer Essenz, die, von Künstlerhand hergestellt, ihren Namen extrait de pré fleuri wohl verdient; dann führte er in diese Wiese eine bestimmte Mischung von Tuberose, Orangeblüte und Mandelgeruch ein und sofort sproßen künstliche Syringen hervor, während zugleich Linden ihre blassen Düfte aushauchten, die der Extrait du tilia von London nachahmte. Nach Vollendung dieses Hintergrundes, der sich vor seinen geschlossenen Augen in großen Linien unabsehbar ausdehnte, hauchte er einen leichten Regen menschlicher Essenzen darüber ..., welche die gepuderte und geschminkte Dame ankündigten, Stephaniotis, Ayapana, Opoponax, Chypre, Champaka, Sarkanthus; auch fügte er noch ein klein wenig Seringa dazu, um diesem künstlichen Leben eine natürliche Blume des Lachens im Schweiße der Freuden in vollen Sonnenglut zu verleihen. Dann ließ er durch einen Ventilator die duftenden Wellen hinausströmen und behielt nur den Feldgeruch zurück, den er durch eine verstärkte Dosis wiederzukehren zwang wie ein Ritornell in der Poesie. Die Frauen waren allmählich verschwunden, die Landschaft einsam geworden; jetzt erhoben sich am Horizont Hüttenwerke, deren mächtige Kamine in der Höhe erglühten. Ein Hauch der Fabrik, der chemischen Produktion verbreitete sich nun in dem Luftzug, den er durch Fächer verursachte und doch drangen noch die süßen Düfte der Natur durch diese verdorbene Atmosphäre hindurch." (28)
1) WILHELM PREYER, Die Seele des Kindes, 4. Auflage, Leipzig 1895, Seite 64 2) Über die große Bedeutung der Wiederholung für die Entwicklung des Seelenlebens vgl. die später noch häufig anzuführenden Schriften J. MARK BALDWINs. 3) B. PEREZ, Les trois premieres années de l'enfant", 5. Ed., Paris 1892, Seite 38f 4) Genaueres hierüber findet man bei G. STANLEY HALL, Some aspects of the carly Sense of Self, American Journal of Psychology, Vol IX, Nr. 3, 1898 5) WILHELM PREYER, Die Seele des Kindes, Seite 162 6) L. STRÜMPELL, Psychologische Pädagogik, Leipzig 1880, Seite 359 7) STRÜMPELL, a. a. O., Seite 360 8) STRÜMPELL, a. a. O., Seite 357 9) Dr. SIKORSKI, L'evolution psychique de l'enfant, Revue philosophique XIX, 1885, Seite 418 10) J. V. ZINGERLE, Das deutsche Kinderspiel, 2. Auflage, Innsbruck 1873, Seite 51 11) G. COMPAYRE, L'evolution intellectuelle et morale de l'enfant, Paris 1893 12) H. WÖLFFLIN, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1886, Seite 47 13) W. JOEST, Allerlei Spielzeug, Internationales Archiv für Ethnographie, Bd. VI, 1893 14) P. REICHARD, Deutsche Kolonialzeitung, 1889, Nr. 11 15) WILHELM PREYER, Die Seele des Kindes, Seite 162 16) D. HACK TUKE, Zwangsvorstellungen ohne Wahnideen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 2, Leipzig 1891, Seite 100f 17) PEREZ, a. a. O., Seite 87 18) KORBINIAN BRODMANN, Zur Methodik der hypnotischen Behandlung, Zeitschrift für Hypnose, Bd. VI, 1897 19) LORENZ GRASBERGER, a. a. O., Seite 35. Eine bildliche Darstellung dieser Bewegung bietet MAURICE EMMANUELs Buch "La Danse Greeque antique", Paris 1896. 20) A. KUSSMAUL, Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen Menschen, Leipzig und Heidelberg 1859, Seite 16f 21) R. SEMON, Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres, Leipzig 1896, Seite 512f 22) J. K. HUYMANS, A rebours, Paris 1894, Seite 156f 23) PEREZ. a. a. O., Seite 18f 24) JEAN-MARIE GUYAU, Les Problemes de l'esthetique contemporaine, Seite 66 25) GUYAU, a. a. O., Seite 66 26) MARIO PILO, La psychologie du beau et de l'aut, Paris 1895, Seite 15 27) Dabei ist es charakteristisch, daß der höhere ästhetische Genuß nur durch Assoziation mit visuellen und akustischen Bildern zustande kommt, also durch Anlehnung an die eigentlich ästhetischen Sinne. 28) HUYSMANS, a. a. O. Seite 156f |