cr-2RechtLogik für JuristenSprachkritik als Aufgabe der Rechtstheorie    
 
DIETRICH BUSSE
Der Stellenwert der Sprachtheorie
in der juristischen Methodenlehre

- I I -

Die klassische Auslegungslehre
"Die  objektive Lehre  der Hermeneutik geht davon aus, daß es für jeden Text eine einzige wahre Bedeutung gebe..."

Die Anhänger der objektiven Auslegungstheorie, die ENGISCH zufolge heute immer noch herrschende Meinung ist, glauben, so jedenfalls LARENZ, "das Gesetz sei  vernünftiger  als seine Urheber, und, einmal in Kraft getreten, stehe es gleichsam für sich selbst. (...) als immanente Teleologie." (9) Eine "immanente Teleologie" kann - was auch immer sich die einzelnen Juristen darunter vorstellen mögen - jedenfalls dazu dienen, für die dem Gesetz (der Norm bzw. Normformulierung) durch die Auslegungstätigkeit des Rechtsanwenders zugesprochene (untergeschobene?) Zwecksetzung das Walten eines "objektiven Geistes" verantwortlich zu machen.

Löst man das Grundanliegen der "objektiven" Auslegungstheorie von der fragwürdigen Rede über "objektiven Geist" und ähnliches, dann wird als realer Kern das Grundproblem der Textinterpretation sichtbar: Ist die Bedeutung eines sprachlichen Textes in einer Bedeutungsintention des realen Autors zu suchen, oder enthält jeder Text nicht die Möglichkeit einer Sinnerfüllung in sich, die über das Meinen seines Urhebers hinausgeht? Ist das "Übersteigen" einer "ursprünglichen Sinnintention" ein Phänomen, das besonders bei zeitlichem Abstand der Textinterpretation zur Texterstellung (zum "Äußerungsakt" durch den Autor) notwendig eintritt, oder handelt es sich um eine prinzipielle, sprachtheoretisch als notwendig zu beschreibende Differenz jeglichen Textverstehens (Sprachverstehens) zu den möglichen Sinn-Intentionen eines Text-Autors (oder Sprechers)?

Dieser Gedanke der Eigenständigkeit eines sprachlich verfaßten Werks ist aus der poetisch orientierten Interpretationslehre der literaturwissenschaftlichen Philologie geläufig. Er korrespondiert mit einer traditionellen Bedeutungsauffassung, derzufolge Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke (und damit auch der "Sinn" eines Satzes oder gar Textes) objektive Entitäten sind, welche vom Autor in jeweils unterschiedlicher Weise (kontextgebunden) mit seinem Äußerungsakt "realisiert" werden. Die  objektive Lehre  der Hermeneutik geht davon aus, daß es für jeden Text eine einzige wahre Bedeutung gebe, der man sich durch die Tätigkeit der Interpretation annähern und die man möglicherweise auch objektiv "feststellen" könne.

Dieser objektive Inhalt eines Textes sei vom Meinen seines Autors unabhängig, und einzig von der (objektiven) Bedeutung der sprachlichen Formulierung abhängig. Juristisch gewendet:
"Das Werk ist (...) der  mögliche und wirkliche Inhalt der Gesetzesworte.  Dieser dem Gesetz immanente Gedanken- und Willensinhalt ist fürderhin allein maßgeblich. Denn er allein ist verfassungsmäßig in Erscheinung getreten und legalisiert." legalisiert." (10)
Wer von einem "wirklichen" Inhalt redet, setzt voraus, daß es für jede sprachliche Äußerung (mündlich oder schriftlich) eine einzige richtige Bedeutung (und damit Interpretation) gebe. Wer für einen Text aber "mögliche" Inhalte offenhält, der eröffnet einen Interpretationsspielraum, innerhalb dessen verschiedene konkurrierende Deutungen existieren können; er müßte auf den Anspruch, daß es  eine  richtige Bedeutung gibt, verzichten. Wer aber zugleich von "möglichem und wirklichem" Inhalt redet, der gibt zu erkennen, daß er einer bestimmten unter vielen möglichen Deutungen den Charakter - und damit Legitimität und wissenschaftliche "Härte" - des "wirklichen" Inhalts zusprechen möchte.

Eine ähnliche Zweideutigkeit enthält das Zitat in der Dualität von "Gedankeninhalt" und "Willensinhalt"; kann man "Gedankeninhalt" wohlwollend noch mit "Bedeutung des Normtextes" wiedergeben, wobei noch nicht vorentschieden ist, ob man die (subjektive) Autor-Bedeutung oder einen (objektiven) "Gedanken" meint, so verweist "Willensinhalt" auf eine Teleologie, deren Status erst noch geklärt werden muß. Der Willens-Begriff verweist auf den sprachpragmatischen Begriff der Autor-Intention, welcher (für die Bedeutungsseite eines sprachlichen Ausdrucks) gleichfalls den Aspekt einer Zweckbestimmung enthält.

Es ist in der neueren pragmatischen Semantik (seit GRICE) aber außerordentlich umstritten, ob man den Begriff der Autor-Intention im Sinne einer realen, personengebundenen Absicht verstehen kann, oder ob er nicht vielmehr ein analytischer Begriff ist, der eine  Struktur  sprachgebundener Kommunikation beschreibt, in der sich die Kommunikationspartner (Sprecher/Schreiber, wie Hörer/Leser) verhalten,  als ob  eine rekonstruierbare Autor-Intention vorläge. Dabei ist von der Seite des Text-Interpreten her stets nicht mehr möglich als das (an den eigenen Handlungs-, Sprach- und Lebenserfahrungen orientierte)  Unterstellen  einer Autor-Intention; dieses Unterstelen ist aber aufgeladen mit den eigenen Erfahrungen, aber auch Intentionen des Interpreten: "Objektivität" (im strengen Sinne) wird dabei nicht erzielt.

Unterstellt man einem Gesetzestext einen objektiv feststellbaren "Willensinhalt", so verdeckt man dabei den subjektiven Charakter jeder Interpretation (11); ist Subjektivität bei rein sprachlichem Bedeutungsverstehen noch durch die Macht von Verständigung erst ermöglichenden Konventionen gestützt, so entfernt sich die Auffassung von im Gesetzestext enthaltenen "Willensinhalten" (qua Regelungsziele) doch schon um einiges vom "Wortlaut" im engeren Sinne.

Verstandene "Wortlaute" (die, wie gezeigt, als Interpretations -Resultate selbst schon den Charakter von Unterstellungen tragen) können die Unterstellung weitergehender Absichten stützen - mehr nicht (insbesondere nicht eine wie auch imer geartete "Objektivität" begründen). Nicht der "Gedanken- und Willensinhalt" eines Gesetzestextes ist "verfassungsmäßig in Erscheinung getreten und legalisiert", sondern allein der Normtext ist, als Buchstaben- und damit sprachliche Zeichenfolge, schriftlich fixiert und durch Verabschiedungs-Akt kanonisiert worden und damit "allein maßgeblich".

Wie wenig es den Vertretern der "objektvien Auslegungslehre" um die  wirkliche  Bedeutung des Gesetzestextes geht, zeigt die Darstellung ENGISCHs, wenn er fortfährt:
"Der dem Gesetz einverleibte Sinn kann auch reicher sein als alles das, was sich die Gesetzesverfasser bei ihrer Arbeit gedacht haben. (...) Das Gesetz selbst und sein inneren Gehalt ist auch nicht statisch wie alles historisch Vergangene (...), sondern lebendig und wandelbar und daher anassungsfähig. Der Sinn des Gesetzes wandelt sich schon deshalb, weil das Gesetz Bestandteil der gesamten Rechtsordnung ist und daher an deren ständiger Umbildung Kraft der Einheit der Rechtsordnung teilnimmt. Neu hinzukommende Bestimmungen strahlen ihre Sinnkraft auf ältere aus und gestalten sie um." (12)
Diese - möglicherweise aus juristischen Notwendigkeiten geborene - Einschätzung der Fuktion von Texten entspricht erstaunlich genau der poetologischen Position der hermeneutischen Literaturwissenschaft - und doch könnten Zwecke und Aufgaben beider Interpretationslehren auf den ersten Blick nicht verschiedener sein. Bei näherem Betrachten ergibt sich allerdings eine erstaunliche Strukturverwandtschaft; beiden Bereichen kommt es bei der Interpratation von Texten auf eine den puren Verständigungsbedarf der Alltagssprache übersteigende "höhere" Form der Bedeutungserfüllung an: den Literaturwissenschaftlern auf eine ästhetisch-poetische "Wahrheit", welche jenseits allfälliger "Sinnintentionen" des Autors und deren situativen, kontextuellen und historischen Beschränkungen liegt; der Jurisprudenz auf einen "Regelungszweck", der auf neue rechtliche Rahmenbedingungen ebenso wie auf neue technische, wirtschaftliche, soziale, politische, kulturelle und moralische Phänomene eingestellt werden muß, die der historische Gesetzgeber nicht vorausahnen konnte.

Dabei sind dür die Grundfrage nach der Textbedeutung ("Autorintention" oder "objektiver Inhalt") zwei Aspekte zu unterscheiden: Juristen, die der "objektiven Lehre" anhängen, verweisen stets auf den systematischen Zusammenhang der Gesetzesnormen, womit unter der Forderung nach der Geschlossenheit und "Einheit der Rechtsordnung" sämtliche gültige Gesetze zu einem imaginären "Gesamttext" hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] werden. Dieser Gesamttext wird - ähnlich einem System kommunizierender Röhren - dergestalt als ein systematischer Zusammenhang begriffen, daß eine Veränderung an  einer  Stelle vielfältige Auswirkungen ("Ausstrahlen") auf  andere  Stellen haben kann.

Richterliche Rechtsfortbildung kann dann legitimiert werden als notwendige "Füllung von Lücken", die durch von anderen Normen geschaffene Regelungen entstanden sind. Sprachtheoretisch wäre dieses Phänomen (wenn es denn unumstritten eines sein sollte) nur schwer zu fassen. Die Linguistik hat sich lange Zeit allenfalls noch mit  Sätzen  beschäftigt; die Kategorie "Text" kommt erst in allerletzter Zeit ins Blickfeld. Selbst unter den weitesten denkbaren Definitionen von "Text" würde es schwerfallen, die gesamte Rechtsordnung als solchen zu bezeichnen. Selbst bei einem geschlossenen Text (wie es etwa eine Erzählung, ein Roman, ein wissenschaftlicher Aufsatz sind) wäre es problematisch, die Interpretation einzelner Formulierungen systematisch und  notwendig  mit weit entfernten Textstellen zu begründen. Der Text als Ganzer könnte allenfalls als  ein  Kontextphänomen unter anderen aufgefaßt werden. Allerdings geht die literaturwisschenschaftliche Interpretationslehre durchaus so vor, doch zielt sie nicht in erster Linie auf Sprachdaten im engeren Sinne, sondern auf die Konstitution einer höheren, poetischen "Bedeutung.

Sprachwissenschaftlich wäre also zu klären, welche Rolle  Kontexte  für Produktion, Kommunikation und Rezeption von sprachvermitteltem Sinn spielen können. Während hier der Kontext der Interpretations- Tätigkeit  bzw. der Interpreten; unter Literaturwissenschaftlern ist dieser Aspekt als "Rezeptionsästhetik" bekannt: Jede Interpretation geschieht in einem aktuellen geistigen (und damit auch semantischem) Umfeld ( der Begriff "Öffentlichkeit" z.B. kann heute nicht mehr dasselbe bedeuten wie Anfang des letzten Jahrhunderts). In diesem Sinne kann eine Textinterpretation die Intentionen des Autors notwendig überschreiten, weil in der Lebenswirklichkeit Momente eingetreten sind, die er gar nicht voraussehen konnte.

Dieser Aspekt ist charakteristisch für das Grundproblem der Jurisprudenz (und jeder auf kanonischen Texten beruhenden Disziplin): Texte, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt verabschiedet worden sind, sollen über einen langen, unbestimmten Zeitraum hinweg normativ wirken. Der ständigen Veränderung der als Interpretationshorizont fungierenden Alltagswirklichkeit könnte auf zweierlei Weise Rechnung getragen werden. Zum einen könnten alle Gesetze von Zeit zu Zeit in ihren Formulierungen letzte Fassung werden. Das ist aus vielerlei Gründen unpraktikabel (so spricht nicht nur die nicht mehr überschaubare Fülle von Gesetzestexten dagegen, sondern auch die Probleme, die dann entstehen, wenn man mühsam errungene Formulierungs-Konsense ständig wieder politisch zur Disposition stellt).

Zum anderen könnte die Hauptlast der Rechtsetzung den Rechtsanwendern zugestanden werden, die auf nur wenigen Grundnormen und Verfahrensrichtlinien aufbauen; dies ist im angelsächsischen "case law" der Fall und widerspricht fundamental dem System des positivierten (gesetzten) Rechts bei uns. Das Problem ist also in einem positivistisch gedeuteten Rechtssystem "hausgemacht". Die Rechtsprechungspraxis zeigt, daß in der Gesetzesanwendung ein gerüttelt Maß an Rechtssetzung  und Rechtsfortbildung  steckt. Da die Setzung von Recht in unserem Rechtssystem aber dem Gesetzgeber vorbehalten ist, ergeben sich für die Praxis der Jurisprudenz erhebliche Legitimations -Probleme und -Zwänge.

Bei dieser Problemlage wird der erbitterte juristische Methodenstreit über die Abgrenzung der Rechtsanwendung  von der Rechtsfortbildung,  der den Grund für die Auseinandersetzung zwischen "subjektiver" und "objektiver" Interpretations -Theorie bildet, verständlich. Es sind letztlich verfassungstheoretische Motive, die ihren Motor bilden.

Für Linguisten und Literaturwissenschaftler ist die Tatsache, daß Interpretation von Texten immer von subjektiven Sprachkenntnisse, Kommunikationserfahrungen, Sinnhorizonten und vielleicht auch Bedeutungsintentionen der Interpreten geprägt wenn nicht sogar bestimmt ist, kein gewichtiges Problem. Zwar zielt auch die Theorie und Methodik dieser Disziplinen auf die Erreichung eines möglichst großen Grades an Objektivität bei Bedeutungsdefinitionen und Textauslegung, doch ist die Erkenntnis herrschend, daß "objektive" Auslegung im strengen Sinne (also die Freilegung einer "wirklichen Bedeutung") nicht zu erreichen ist.

Ob der Sinn eines Textes im Zuge seiner Interpretation "fortgebildet" wird (also den veränderten Deutungshorizonten und Sprachgebräuchen der Jetztzeit der Interpreten angepaßt wird) ist ein Problem allenfalls für historisch interessierte Forscher; zumendes besteht nicht das Bedürfnis, zwischen der Interpretation des "wirklichen historischen Textsinns" und "abweichender rezeptionsbedingter Sinnkonstitution" eine scharfe Grenze zu ziehen. Dieses Bedürfnis ist aber - wie gesehen aus positivistischen Gründen - in der juristischen Methodenlehre Grundlage aller Auseinandersetzungen.

Da die Setzung des Rechts Aufgabe allein des Gesetzgebers ist, wurde die tatsächlich stattfindende richterliche Rechtsetzung als "Rechtsfortbildung" bezeichnet, um dadurch auszudrücken, daß Richter stets nur dann den vorhandenen gesetzlichen Regelungen Neues hinzufügen, wenn das bestehende Recht "Lücken" oder Unklarheiten aufweise. Die Rede von den "Gesetzeslücken" soll suggerieren, daß die richterliche Rechtsfortbildung quasi notwendig etwas ergänze, was vom System zwar vorgesehen gewesen sei, was der Gesetzgeber aber "vergessen" oder "übersehen" habe.

Diese Zulässigkeit dieses "Richterrechts" ist heftig umstritten. Anhänger der "subjektiven Lehre", die als Auslegungsziel den tatsächlichen Regelungswillen des konkrteten historischen Gesetzgebers herausfinden wollen, begründen ihre Position stets mit dem Gesetzesbindungspostulat. Indes kann dieses verfassungsrechtliche Gebot nur dann als Argument für die subjektive Theorie dienen, wenn man an die Feststellbarkeit der historischen Textbedeutung glaubt. Anhänger der subjektiven Lehre tun also (aus linguistischer Sicht) das Richtige (Betonung des Gesetzesbindungspostulats, Infragestellung der richterlichen Rechtsfortbildung) mit den falschen Mitteln.

Daraus folgt nun aber nicht, daß Anhänger der objektiven Lehre das Falsche (ungehemmtes Richterrecht) mit den richtigen Mitteln täten. Konsequent wäre es, als Gegenposition zur  autorbezogen "subjektiven" Lehre, eine  interpretenbezogen subjektive Lehre zu formulieren. Eine solche Auslegungstheorie müßte dem Umstand Rechnung tragen, daß Textauslegung stets den subjektiven Bedeutungsintentionen der Interpreten ausgesetzt ist, und unter diesen Voraussetzungen das Postulat der Gesetzesbindung neu formulieren.

Stattdessen wird weiterhin die "objektive" Lehre vertreten, welche die subjektiven "Beigaben" der Interpreten zu negieren sucht, indem sie das Phantom der "objektiven Textbedeutung" kreiert; mit diesem Kniff gelingt es, Gerichtsentscheidungen, welche de facto über den Gesetzestext hinausgehen, als "Auslegungen" auszugeben, aus naheliegenden Gründen:
"Die Vorgehensweise, materielle Rechtsfortbildungen als bloße Auslegung firmieren zu lassen, entbindet den Interpreten von der Aufgabe, seine Befugnis zur Rechtsfortbildung darzutun und den Vorschlag zur allgemeinen Diskussion zu stellen." (13)
Der Vorwurf der Verschleierung wird denn auch nicht selten erhoben.

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Auseinandersetzung um Rechtsauslegung und -fortbildung dort von besonderem Interesse, wo die Grenze zwischen ihnen mit linguistischen (oder auch für Linguisten interessanten) Begriffen bestimmt werden soll.
"Die herrschende Meinung in der Methodenlehre macht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Auslegung und Analogie (Rechtsfortbildung). Abgrenzungskriterium ist die Grenze des möglichen Wortsinns. Die Schwierigkeiten, diese Grenze zu bestimmen, werden erklärt durch die Lehre vom Begriffskern und Begriffshof." (14)
Der Begriff der  Analogie,  der bisher in der Sprachwissenschaft - im Gegensatz zu ihren Anfängen im 18. Jahrhundert - noch kaum eine Rolle spielt, wird dort von Interesse, wo das Befolgen von Regeln es Sprachgebrauchs (d.h. auch von Bedeutungsregeln) als das Handeln nach Analogien beschrieben werden kann. Im Zentrum steht allerdings der Begriff der "Wortlautgrenze" und damit die für Sprachwissenschaftler ungewöhnliche Behauptung, es könne eine solche Grenze (gegenüber den Text "übersteigenden" Interpretationen) auch tatsächlich und trennscharf gezogen werden.

Der Terminus "Wortlautgrenze" ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen würde das Feststellen einer "Grenze des möglichen Wortsinns", die ja als "Grenze der Auslegung", die nicht überschritten werden darf, fungieren soll, selbst bereits die Kenntnis des festgestellten Wortsinns voraussetzen; was erst herausgefunden werden soll, die Bedeutung in ihren "Grenzen", würde also implizit bereits vorausgesetzt, was eine logische Unmöglichkeit darstellt. Hier wird selbst schon im Grundbegriff der Position, welche die Einwirkungen der Interpretation auf das zu Interpretierende gerade negieren will, deutlich, daß Vor-Urteile, Vor-Meinen stets schon in die "Feststellung des Wortsinns" eingehen.

Zum anderen fehlt es aus linguistischer Sicht an eindeutigen Kriterien, nach denen beurteilt werden könnte, wo eine "Grenze des Wortsinns" gezogen werden müßte; d.h. die eindeutige Feststellbarkeit des Wortsinns, wenigstens aber die Möglichkeit einer starren Grenzziehung, steht in Zweifel. Es verwundert deshalb nicht, daß Rechtstheoretiker, die an die Feststellbarkeit des Wortsinns glauben, weniger auf linguistische als vielmehr auf logisch orientierte Sprachtheorien zurückgreifen, welche den Anschein vermitteln, bessere Abgrenzungskriterien bereitstellen zu können.

Wie wir bei der Erläuterung der "grammatischen Methode" gesehen haben, ist dieser Glaube an die eindeutige Feststellbarkeit sprachlicher Bedeutungen auch in neueren Methodiken noch vorhanden; so z.B. bei KOCH und RÜSSMANN, für die es "nur zwei Alternativen der Interpretation gesetzlicher Ausdrücke" gibt: "In Betracht kommt entweder eine empirische Feststellung  des eingespielten Sprachgebrauchs, oder eine Festsetzung  der Bedeutung." (15) Allerdings geht KOCH zwar von der prinzipiellen Feststellbarkeit von Wortbedeutungen aus, rechnet aber damit, daß dies in vielen Fällen aufgrund der Vagheit (Mehrdeutigkeit etc.) von Gesetzesformulierungen nicht gelingen könne:
"Da die Richter trotz der mit Vagheit und Porosität verbundenen Probleme keine Fälle als unentscheidbar zurückweisen, entscheiden sie in den semantisch gesehen unentscheidbaren Fällen nicht in Bindung an das Gesetz; sie setzen vielmehr die Bedeutung des Gesetzes, dem entsprechend sie dann entscheiden, allererst fest." (16)
Ob diese Entgegensetzung von Bedeutungsfeststellung und Bedeutungsfestsetzung so aufrechterhalten werden kann, wäre linguistisch noch näher zu untersuchen; festzuhalten bleibt an dieser Stelle, daß aus Sicht einiger juristischer Methodiker Gesetzesauslegung zwar notwendig Bedeutungsinterpretation voraussetzt, aber sich auch nicht darin erschöpft.

Wenn Juristen wie KOCH also die Semantik zu Rate ziehen, so tun sie dies, um zu unterstreichen, daß Aussagen über den "Wortlaut" von Gesetzestexten semantische Argumente voraussetzen; damit richten sie sich gegen diejenigen Kollegen, die das Erschließen des "Wortsinns" als unproblematisch voraussetzen, indem sie ohne semantische Begründungen im echten Sinne von einer vorgängigen Verständlichkeit des Normtextes ausgehen, hinter der sich lediglich das persönliche Sprachverständnis der Auslegenden verbirgt. (Für diese Juristen ist eine Norm eigentlich, wenn die "Auslegung", immer schon verstanden; Rechtsanwendung hat dann nichts mehr mit "Interpretation" zu tun.)

Semantik würde in dieser Konzeption zu einem wichtigen Teil des juristischen Geschäfts, ja, Rechtsauslegung unterschiede sich kaum von linguistischer Forschung, wenn die Tätigkeit der Juristen so beschrieben wird:
"Der Richter sucht nach den semantischen Regeln, welche die im gesetzlichen Tatbestand und in der Sachverhaltsschilderung verwendeten sprachlichen Ausdrücke (Prädikate) so miteinander verbinden, daß die Rechtsfolge eine logische Folge aus Gesetzen, semantischen Regeln und der Sachverhaltsbeschreibung ist. Die Juristen pflegen diese Suche als Auslegung zu bezeichnen." (17)
Ganz abgesehen von der noch unentschiedenen Frage, ob semantische Aussagen (Aussagen über Bedeutungsregeln) überhaupt in der Eindeutigkeit zu treffen sind, daß aus ihnen die "Rechtsfolge logisch folgt", wird hier an dem Subsumtionsautomatismus des Rechtspositivismus und der "objektiven Auslegung" festgehalten, der von anderen Autoren gerade mit semantischen Argumenten erschüttert wird. Die Rolle der Semantik in der juristischen Auslegungspraxis ist also noch durchaus unklar und wird erst nach ausführlicher Analyse der linguistisch argumentierenden Arbeiten zur Auslegungsmethodik näher einzuschätzen sein. Daß bei den Juristen selbst noch keine volle Klarheit über die Aufgaben linguistischer Argumente im Methodenstreit besteht, wird z.B. klar, wenn selbst der Autorenkollege des zuletzt zitierten Autors die Grenzen semantischer Verfahren im Akt der Rechtsanwendung betont:
"Die Feststellung des Bedeutungsgehalts des Gesetzes läßt grundsätzlich keine Prognose über zukünftigers richterliches Entscheiden zu." (18)
Wenn also der Aspekt der Bedeutungsfeststellung  zwar das Interesse des Linguisten erregt, sein Stellenwert für die Juristen aber durchaus noch ungeklärt ist, ist der Gesichtspunkt der Bedeutungsfestsetzung  bei Juristen unumstritten, für den Linguisten aber durchaus neu bzw. linguistisch wenig erforscht. Zwar ist in der politischen Semantik schon viel über semantische Kämpfe und Durchsetzungsgefechte von Begriffsbedeutungen in der Politik nachgedacht und geschrieben worden, noch kaum aber auf die jruistischen Bedeutungsfestsetzungen eingegangen worden, die für Juristen anscheinend selbstverständlich sind:
"Gleichgültig ob der Richter mehr feststellt oder festsetzt, ihm steht die Definitionsmacht zu, also die Kompetenz, die Bedeutung der Gesetzesausdrücke verbindlich festzulegen." (19)
Von dieser Kompetenz wird, so scheint es, fleißig und selbstbewußt Gebrauch gemacht.

Wenn unsere Überlegungen über die Rolle der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre eine erstaunliche Fülle von Berührungspunkten entweder in der Sache oder dort, wo Juristen selbst diese Überschneidungen behaupten, ergeben haben, so zeigt dies zur Genüge, daß die Jurisprudenz als Ganze und die juristische Methodenlehre im Besonderen es wert sind, die Aufmerksamkeit der Linguistik zu finden. Dieses Ergebnis erscheint auf den ersten Blick für die Linguisten schmeichelhaft, können sie doch mit ihren Arbeitsergebnissen und ihrem begrifflichen Instrumentarium einer Disziplin zur Seite treten, in der nicht nur mit und an Sprache gearbeitet wird, sondern in der auch sprachliche Fakten gesetzt werden.

Doch sei vor einer vorschnellen Euphorie gewarnt; noch ist nämlich in der juristischen Methodenlehre keineswegs ausgemacht, ob sprachbezogene Argumente überhaupt den Kernbereich juristischer Rechtsanwendung ausmachen können:
"Unter  Methoden  des Verfassungsrechts werden bis heute nicht die tatsächlichen Arbeitsweisen verfassungsrechtlicher Normkonkretisierung im umfassenden Sinn verstanden, sondern allein die überlieferten Kunstregeln der Normtextinterpretation. Methodik gilt als Methodik der Auslegung von Sprachtexten. Doch ist eine Rechtsnorm  mehr  als ihr Wortlaut." (20)
Wenn also in dieser Arbeit sprachtheoretische (d.h. vor allem semantische) Argumente im juristischen Methodenstreit als linguistischer Sicht auf ihre korrekte Anwendung und Haltbarkeit geprüft werden, dann darf dieses "mehr" nicht aus dem Blick geraten; nur dann kann linguistische "Hilfestellung" den juristischen Auslegungsproblemen wirklich gerecht werden und als solche auch von der Rechtswissenschaft angenommen werden.
LITERATUR - Dietrich Busse, Juristische Semantik, Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, Berlin 1993
    Anmerkungen
    9) LARENZ, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1979, Seite 35f - "Mit dem Akt der Gesetzgebung, so sagen die Objektivisten, löst sich das Gesetz von seinem Urheber los und wird in ein objektives Dasein erhoben. Der Urheber hat seine Rolle ausgespielt, er tritt hinter seinem Werk zurück."
    10) Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart/Berlin /Köln/Mainz 1956, Seite 89.
    11) So spricht Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984, Seite 48 von der "Allgegenwart von Interpretation in der Jurisprudenz (...), sei sie unreflektiert, verschwiegen oder in den rationalen Begründungszusammenhang eingeführt" und fordert: "Auch die Methodik (...) muß die Tatsache widerspiegeln, daß Interpretation im Recht nicht nur okkasionell als Kunstgriff in besonders schwierigen Fällen aufgefaßt werden kann. Die überwiegende Meinung in Lehre und Praxis steht anscheinend auf diesem Standpunkt. Als Aufgabe von Interpretation wird die Beseitigung von Unklarheiten angesehen."
    12) Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart/Berlin /Köln/Mainz 1956, Seite 90
    13) Eberhard Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozess, Baden-Baden 1977, Seite 17
    14) Peter Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, Seite 36 - Vgl. auch Jürgen Baumann, Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im Strafrecht, in Monatsschrift für deutsches Recht 12, 1958, Seite 395: "Auch wenn man sich zur Grenze der natürlichen Wortbedeutung bekannt hat, ist noch nicht klar, wie diese Grenze näher zu bestimmen ist."
    15) Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, Seite 163
    16) Hans-Joachim Koch, Das Postulat der Gesetzesbindung im Lichte sprachphilosophischer Überlegungen, in Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 61, Seite 41
    17) Helmut Rüßmann, Sprache und Recht, in Jörg Zimmermann (Hrsg.) Sprache und Welterfahrung, München 1978, Seite 222
    18) Hans-Joachim Koch, Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in ders. (Hrsg.) Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, Ffm 1977, Seite 56
    19) Rolf Wank, Die juristische Begriffsbildung, München 1985, Seite 66
    20) Friedrich Müller, Juristische Methodik, Berlin 1990, Seite 73f