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WERNER HEISENBERG
Diskussionen über die Sprache
- I I -

Philosophie und Quantentheorie
Die Kopenhagener Deutung der QT
Kausalgesetz und QT
Sprache und Wirklichkeit
Mit dem Geschirrwaschen ist es doch genau wie mit der Sprache. Wir haben schmutziges Spülwasser und schmutzige Küchentücher, und doch gelingt es, damit die Teller und Gläser schließlich sauberzumachen.

"Die Kritik der Positivisten", setzte ich das Gespräch fort, "richtet sich doch vor allem gegen die sogenannte Schulphilosophie und hier erst in erster Linie gegen die Metaphysik in ihrer Verbindung mit Fragen der Religion. Dort wird, so meinen die Positivisten, vielfach über Scheinprobleme geredet, die sich, wenn man sie sprachlich sauber analysieren wollte, als nichtexistent erweisen würden. In welchem Umfang hältst du diese Kritik für berechtigt?"

"Sicher enthält auch eine solche Kritik einen erheblichen Teil Wahrheit", antwortete Niels, "und man kann viel daraus lernen. Mein Einwand gegen den Positivismus rührt nicht davon her, daß ich an dieser Stelle weniger skeptisch wäre, sondern davon, daß ich umgekehrt fürchte, es könnte in der Naturwissenschaft grundsätzlich gar nicht viel besser sein. Um es überspitzt zu formulieren: In der Religion verzichtet man von vornherein darauf, den Worten einen eindeutigen Sinn zu geben, während man in der Naturwissenschaft von der Hoffnung - oder auch von der Illusion - ausgeht, daß es in viel späterer Zeit einmal möglich sein könnte, den Wörtern einen eindeutigen Sinn zu geben.

Aber um es noch nochmal zu wiederholen, man kann aus dieser Kritik der Positivisten viel lernen. Zum Beispiel kann ich nicht sehen, was es bedeuten soll, wenn vom  Sinn des Lebens  gesprochen wird. Das Wort  Sinn  soll doch immer eine Verbindung herstellen zwischen dem, um dessen Sinn es sich handelt, und etwas anderem, etwa einer Absicht, einer Vorstellung, einem Plan. Aber das Leben - damit ist hier doch das Ganze gemeint, auch die Welt, die wir erleben, und da gibt es ja gar nichts anderes, mit dem wir es verbinden könnten."
    "Aber wir wissen doch, was wir meinen", erwiderte ich, "wenn wir vom Sinn des Lebens sprechen. Natürlich hängt der Sinn des Lebens von uns selber ab. Man bezeichnet damit, so würde ich denken, die Gestaltung unseres eigenen Lebens, mit der wir uns in den großen Zusammenhang einordnen; vielleicht nur ein Bild, ein Vorsatz, ein Vertrauen, aber insofern doch etwas, das wir gut verstehen können."
Niels schwieg nachdenklich und sagte dann: "Nein, der Sinn des Lebens besteht darin, daß es keinen Sinn hat zu sagen, daß das Leben keinen Sinn hat. So bodenlos ist eben dieses ganze Streben nach Erkenntnis."

"Aber bist du damit nicht doch zu streng mit der Sprache? Du weißt, daß bei den alten chinesischen Weisen der Begriff  Tao  an der Spitze der Philosophie stand, und  Tao  wird doch oft mit  Sinn  übersetzt. Die chinesischen Weisen hätten wohl gegen eine Verbindung der Wörter  Tao  und  Leben  nichts einzuwenden gehabt."
    "Wenn man das Wort  Sinn  so allgemein verwendet, mag es wieder anders aussehen. Und keiner von uns kann sicher sagen, was das Wort  Tao  eigentlich bedeutet. Aber wenn du von den chinesischen Philosophen und vom Leben sprichst, dann liegt mir eine der alten Legenden noch näher. Es wird da von drei Philosophen erzählt, die eine Schluck Essig probierten; und man muß wissen, daß Essig in China "Lebenswasser" genannt wird. Der erste Philosoph sagte: "Es ist sauer", der zweite: "Es ist bitter", der dritte aber, das war wohl Lao-Tse, rief aus: "Es ist frisch."
Carl Friedrich kam in die Küche und erkundigte sich, ob ich mit dem Essen immer noch nicht fertig wäre. Zum Glück konnte ich ihm sagen, er solle die anderen hereinrufen und die Aluminiumteller und Bestecke holen, dann würde es gleich zu essen geben. Wir setzten uns zu Tisch, und der alte Spruch "Hunger ist der beste Koch" bewährte sich zu meiner Beruhigung aufs beste. Nach dem Essen ergab sich bei der Verteilung der Pflichten, daß Niels Geschirr waschen wollte, während ich den Herd saubermachte, andere Holz hackten oder sonst Ordnung schafften. Daß in einer solche Almküche die hygienischen Anforderungen nicht denen der Stadt entsprechen können, bedarf keiner Erwähnung. Niels kommentierte diesen Sachverhalt, indem er sagte:
    "Mit dem Geschirrwaschen ist es doch genau wie mit der Sprache. Wir haben schmutziges Spülwasser und schmutzige Küchentücher, und doch gelingt es, damit die Teller und Gläser schließlich sauberzumachen. So haben wir in der Sprache unklare Begriffe und eine in ihrem Anwendungsbereich in unbekannter Weise eingeschränkte Logik, und doch gelingt es, damit Klarheit in unser Verständnis der Natur zu bringen."
In den nächsten Tagen gab es wechselndes Wetter und verschiedene größere und kleinere Unternehmungen; einen Aufstieg auf das Trainsjoch und Ski-Exerzitien auf dem Übungshang bei der Unterberger-Alm. Noch einmal wurden unsere Diskussionen auf das Problem der Sprache gelenkt, als Carl Friedrich und ich eines Nachmittags versucht hatten, einem Rudel Gemsen, die sich am steilen Hang des Traithen Futter suchten, mit unseren Photokameras aufzulauern.

Es war uns nicht gelungen, die Gemsen zu überlisten und hinreichend nah an das Rudel heranzukommen. Wir bewunderten den Instinkt der Tiere, der es ihnen ermöglicht, die geringsten Anzeichen der Menschen, eine Spur im Schnee, ein Knicken in den Zweigen oder einen Windhauch mit der Witterung als Zeichen der Gefahr zu deuten und den richtigen Weg zu wählen. Das gab Niels Veranlassung über den Unterschied zwischen Intellekt und Instinkt zu meditieren.

"Die Gemsen sind vielleicht nur deshalb so erfolgreich gewesen, euch auszuweichen, weil sie eben nicht darüber nachdenken oder sprechen können, wie man das macht. Weil ihr ganzer Organismus darauf spezialisiert ist, im bergigen Gelände Sicherheit vor Angreifern zu finden. Eine Tierart wird infolge des Selektionsprozesses wohl in der Regel ganz bestimmte körperliche Fähigkeiten fast bis zur Vollendung entwickeln. Damit ist sie aber auch auf diese Art, den Lebenskampf zu bestehen, angewiesen. Wenn sich die äußeren Bedingungen stärk ändern, können sie sich nicht mehr umstellen und sterben aus.

Es gibt Fische, die können elektrische Schläge austeilen und sich damit ihrer Feinde erwehren. Es gibt andere, deren Aussehen so vollständig dem Meeresgrund angepaßt ist, daß sie, wenn sie sich auf den Boden des Meeres legen, nicht mehr vom Sand unterschieden werden können, und die sich dadurch vor Angreifern schützen. Nur bei den Menschen ist die Spezialisierung in einer anderen Weise erfolgt. Sein Nervensystem, das ihn zum Denken und Sprechen befähigt, kann als ein Organ betrachtet werden, mit dem der Mensch räumlich und zeitlich viel weiter ausgreifen kann als das Tier. Er kann sich daran erinnern, was gewesen ist, und kann vorausrechnen, was wahrscheinlich geschehen wird. Er kann sich vorstellen, was in einem räumlich weiten Abstand von ihm passiert, und er kann sich die Erfahrungen anderer Menschen zunutze machen. Dadurch wird er in einer gewissen Weise flexibler, anpassungsfähiger als das Tier, und man kann von einer Spezialisierung zur Flexibilität sprechen.

Aber natürlich muß durch diese bevorzugte Entwicklung von Denken und Sprechen, allgemeiner: durch das Übergewicht des Intellekts, die Fähigkeit zum zweckmäßigen instinktiven Verhalten im einzelnen eher verkümmern. Dadurch ist der Mensch an vielen Stellen dem Tier unterlegen. Er hat keine so feine Witterung, und er kann die Berge nicht so sicher hinauf- und herunterspringen wie die Gemsen. Aber er kann diese Mängel durch das Übergreifen in größere räumliche und zeitliche Bereich kompensieren. Die Entwicklung der Sprache ist dabei wohl der entscheidende Schritt. Denn das Sprechen, und damit indirekt auch das Denken, ist eine Fähigkeit, die sich - im Gegensatz zu allen anderen körperlichen Fähigkeiten - nicht im einzelnen Individuum entwickelt, sondern zwischen den Individuen. Wir lernen das Sprechen nur von anderen Menschen. Die Sprache ist gewissermaßen ein Netz, das zwischen den Menschen ausgespannt ist, und wir hängen mit unserem Denken, mit unserer Möglichkeit der Erkenntnis in diesem Netz."

"Wenn man die Positivisten oder die Logiker über die Sprache reden hört", fügte ich ein, "so gewinnt man den Eindruck, daß dabei die Formen und Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache ganz unabhängig von der Selektion, vom vorhergegangenen biologischen Geschehen betrachtet und analysiert werden. Wenn man aber Intellekt und Instinkt so vergleicht, wie du es eben getan hast, so könnte man sich vorstellen, daß in verschiedenen Gebieten der Erde ganz verschiedene Formen des Intellekts und der Sprache entstanden sind. Tatsächlich sind ja auch die Grammatiken verschiedener Sprachen sehr verschieden, und vielleicht könnten Unterschiede in der Grammatik auch zu Unterschieden in der Logik führen."
    "Natürlich kann es dabei verschiedene Formen des Sprechens und Denkens geben", antwortete Niels, "ebenso wie es verschiedene Rassen oder verschiedene Arten von Organismen gibt. Aber ähnlich wie alle diese Organismen doch nach den gleichen Naturgesetzen konstruiert sind, sind zum großen Teil auch mit fast den gleichen chemischen Verbindungen, so werden auch den verschiedenen Möglichkeiten der Logik gewisse fundamentale Formen zugrunde liegen, die nicht vom Menschen gemacht sind und die ganz unabhängig von uns zur Wirklichkeit gehören. Diese Formen spielen dann in dem Selektionsprozess, der die Sprache entwickelt, eine entscheidende Rolle, aber sie werden nicht etwa durch diesen Prozeß erst hervorgebracht."
"Um noch einmal auf den Unterschied zwischen den Gemsen und uns zurückzukommen", setzte Carl Friedrich die Diskussion fort. "Vorhin schien deine Ansicht zu sein, daß Intellekt und Instinkt sich gegenseitig ausschließen. Meinst du das nur in dem Sinn, daß durch den Selektionsprozeß entweder die eine oder die andere Fähigkeit zu einer hohen Vollendung entwickelt wird, daß aber die gleichzeitige Entwicklung von beiden nicht erwartet werden könnte? Oder denkst du an ein echtes Verhältnis von Komplementarität, so daß die eine Möglichkeit die andere vollständig ausschließt?"
    "Ich meine nur, daß die beiden Arten, sich in der Welt zurechtzufinden, radikal verschieden sind. Aber natürlich sind auch viele unserer Handlungen noch durch den Instinkt bestimmt. Ich könnte mir zum Beispiel denken, daß bei der Beurteilung eines anderen Menschen, wenn wir etwa aus seinem Aussehen und seinen Gesichtszügen erraten wollen, ob er intelligent ist, ob wir mit ihm gut sprechen können, nicht nur Erfahrung sondern auch Instinkt eine Rolle spielt."
Während dieses Gesprächs waren einige von uns schon damit beschäftigt, die Hütte aufzuräumen, und da wir daran denken mußten, daß in einigen Tagen die Ferienzeit zu Ende ging, hatte Niels sich daran gemacht, sich zu rasieren. Bis dahin hatte er fast wie ein alter norwegischer Holzfäller ausgesehen, der viele Wochen ohne alle Zivilisatione im Wald verbracht hat; jetzt bewunderte Niels, wie er sich im Spiegel während des Rasierens wieder in einen Professor der Physik zurückverwandelte. Aus seiner Meditation darüber entsprang der Satz: "Ob eine Katze wohl auch intelligent aussähe, wenn man sie rasieren würde?"

Am Abend wurde wieder Poker gespielt, und da bei unserer Art des Spielens die Sprache, nämlich die Anpreisung der behaupteten Kartenkombination eine so große Rolle spielte, schlug Niels vor, es einmal ganz ohne Karten zu versuchen. Wahrscheinlich würden Felix und Christian dann gewinnen, meinte er, weil es sich gegen deren Überredungskunst sicher nicht durchsetzen könne. Der Versuch wurde unternommen, führte aber nicht zu einem brauchbaren Spiel, und Niels kommentierte:
    "Dieser Vorschlag war wohl eine Überschätzung der Sprache; denn die Sprache ist auf die Verbindung mit der Wirklichkeit angewiesen. Beim richtigen Poker liegen immerhin einige Karten auf dem Tisch. Die Sprache wird dazu benützt, diesen wirklichen Teil eines Bildes mit möglichst viel Optimismus und Überzeugunskraft zu ergänzen. Aber wenn man von gar keiner Wirklichkeit ausgeht, kann niemand mehr glaubhaft suggerieren."
Als die Ferientage zu Ende waren, fuhren wir mit unserem Gepäck auf der kürzeren westlichen Abstiegsroute in Tal zwischen Bayrischzell und Landl ab. Es war ein warmer sonniger Tag, und unten, wo der Schnee aufhörte, blühten die Leberblümchen zwischen den Bäumen, und die Wiesen waren übersät mit gelben Himmelsschlüsseln. Da unser Gepäck schwer war, ließen wir beim  Zipfelwirt  zwei Pferde vor einen alten offenen Bauernwagen spannen. Noch einmal vergaßen wir, daß wir in eine Welt voll politischen Unglücks zurückkehren mußten. Der Himmel war so hell wie die Gesichter der beiden jungen Menschen Carl Friedrich und Christian, die mit uns auf dem Wagen saßen, und so fuhren wir in den bayrischen Frühling hinab.
LITERATUR - Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze - Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1981