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WERNER HEISENBERG
Kausalgesetz
und Quantenmechanik


Philosophie und Quantentheorie
Kopenhagener Deutung der QT
Diskussionen über die Sprache
Sprache und Wirklichkeit
Ich möchte da vor allem darauf hinweisen, daß die menschliche Sprache stets gestattet, Sätze oder Begriffe zu bilden, die völlig inhaltsleer sind, obwohl sie in unserer Phantasie ein anschauliches Bild erzeugen.

Meine Damen und Herren! Die Frage nach der Gültigkeit des Kausalgesetzes ist in der letzten Zeit vielfach Gegenstand eingehender Diskussionen gewesen, und manchmal schien es sogar, als ob es sich hier nicht um eine wissenschaftliche Frage, sondern um einen Glaubenssatz handelte. Ich möchte als Vorbemerkung für das Folgende betonen, daß ich nicht glaube, daß sich die genannte Frage so einfach mit Ja oder Nein beantworten läßt. Das Entscheidende ist vielmehr, daß durch die neuere Entwicklung der Atomtheorie eine neue Situation geschaffen worden ist, die eine Revision unseres Kausalitäts  begriffes  fordert. Die bisherigen Formulierungen des Kausalgesetzes haben keinen rechten Sinn mehr, wenn man die neueste Entwicklung der Physik in Betracht zieht.

Zum Vergleich möchte ich die Physiker unter Ihnen daran erinner, daß vor der Auffindung der MAXWELLschen Lichttheorie lange Zeit ein heftiger Streit zwischen den bedeutendsten Physikern über die Frage geführt wurde, ob der Lichtvektor parallel oder senkrecht zur Polarisationsebene schwingt. Diese Frage verlor ihren Sinn mit der Entdeckung der MAXWELLschen Theorie, es war eine neue Situation geschaffen; nachträglich konnte jede der beiden Parteien behaupten, sie habe recht gehabt. In Wirklichkeit aber hatte man etwas Neues gelernt, an das man vorher nicht gedacht hatte.

Ganz ähnlich steht es jetzt mit der Frage nach der Gültigkeit des Kausalgesetzes. Es wird also zunächst unsere Aufgabe sein, zu untersuchen, wie weit die bisher gebräuchlichen Formulierungen des Kausalgesetzes überhaupt noch einen klaren Sinn besitzen. Ich will dann die neue Situation schildern, in die uns die Quantentheorie versetzt hat und schließlich verschiedene Formulierungen des Ursachprinzips besprechen, die der neuen Situation angepaßt scheinen.

Wenn wir irgendeinen unserer Bekannten fragen, ob er wisse, was man unter dem Kausalgesetz verstehe, so behauptet er meistens, daß ihm dieses Gesetz durchaus klar sei. Er formuliert es etwa so: "Keine Wirkung ohne Ursache." Daß hierbei die Begriffe "Ursache" und "Wirkung" jedoch nicht scharf definiert sind, geht schon daraus hervor, daß der Bekannte auch ruhig zugeben würde, daß eine Wirkung mehrere Ursachen haben könne. Erst die Naturwissenschaftler haben versucht, einen eindeutigen Zusammenhang von beobachtbaren Ereignissen unter dem Namen des Kausalgesetzes zu postulieren.

Dieser eindeutige Zusammenhang beherrscht zweifellos das ganze Gebiet unserer täglichen Erfahrung; wir beobachten immer wieder, daß zwei Vorgänge, die unter ähnlichen Bedingungen aus einem ähnlichen Anfangszustande hervorgehen, auch ähnlich ablaufen. Wenn die beiden Vorgänge doch ausnahmsweise einmal verschieden ablaufen, so nehmen wir an, daß etwa der eine der beiden Vorgänge durch eine der Beobachtung entgangene Ursache gestört worden sei. Aus der Regelmäßigkeit der Abläufe in der Welt unserer Erfahrung schließen wir also auf ein allgemeines Gesetz, das wir freilich nur durch recht weitgehende Extrapolation (1) aus der Erfahrung rechtfertigen können. Bevor wir dazu übergehen, zu fragen, wie dieses durch Extrapolation aus der Erfahrung gewonnene Gesetz etwa zu formulieren sei, müssen wir uns genau überlegen, welchen Sinn eine Extrapolation unserer Erfahrung überhaupt haben kann.

Ich möchte da vor allem darauf hinweisen, daß die menschliche Sprache stets gestattet, Sätze oder Begriffe zu bilden, aus denen gar keine Konsequenzen gezogen werden können, die also völlig inhaltsleer sind, obwohl sie in unserer Phantasie ein anschauliches Bild erzeugen. Als Beispiel sei die Behauptung erwähnt, daß es neben unserer Welt noch eine zweite gebe, mit der jedoch  prinzipiell  keinerlei Verbindung hergestellt werden könne. Sie werden zugeben, daß ein solcher Satz weder bewiesen noch widerlegt werden kann, weil er absolut  nichts  aussagt; daß er aber trotzdem in unserer Phantasie ein Bild erzeugt. Dies liegt daran, daß wir zunächst vergessen, daß mit jener zweiten Welt keinerlei Verbindung möglich sein soll. Wir malen uns aus, was wir sehen  würden,  wenn eine solche Verbindung möglich  wäre. 

In ähnlicher Weise verwenden wir häufig Begriffe unserer alltäglichen Welt auch dort, wo sie keinen Sinn mehr haben und mißbrauchen sie zu inhaltsleeren Sätzen. Wenn wir also durch Extrapolation von der Welt der täglichen Erfahrung auf einen allgemeinen Satz schließen wollen, so kommen wir dabei in die größte Gefahr, inhaltsleere Sätze auszusprechen und leere Begriffe zu bilden. Es ist auch nicht einfach so, daß leere Begriffe als nutzlos und uninteressant völlig zu verwerfen seien. Um ein Beispiel zu nennen, das auch von BERGMANN in seiner Schrift über das Kausalgesetz zitiert wurde:

Der Begriff der "absoluten Gleichzeitigkeit" ist nach der Relativitätstheorie leer, er ist prinzipiell nicht realisierbar, da Signale sich nie schneller als mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen können. Trotzdem is die absolute Gleichzeitigkeit ein für das Verständnis der klassischen Mechanik sehr nützlicher Begriff. Nur wenn wir konkrete Behauptungen über das Verhalten der Außenwelt aufzustellen wünschen, dann sind solche inhaltsleeren Begriffe oder Sätze nicht zu brauchen.

Ein anderer Begriff solcher Art, bei dem seine Unbrauchbarkeit sofort einleuchtet, wäre z.B. "die Farbe des Elektrons". Der Physiker kann sich nicht für solche Begriffe interessieren; wohl aber sind sie eventuell pädagogisch oder psychologisch von Interesse. Man muß hier daran denken, daß z.B. die Poesie oft absichtlich Wörter benutzt, die keine ganz präzise Bedeutung haben und die deshalb der Phantasie des Hörers weiten Spielraum lassen; für solche Wörter kann sich auch die Philosophie mit Recht interessieren. Nur die Naturwissenschaft basiert auf der Annahme, daß ihren Begriffen wenigstens im Laufe der Zeit ein präziser Sinn gegeben werden könne.

Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich die bisherigen Formulierungen des Kausalgesetzes kurz besprechen, ehe ich zu der durch die Quantenmechanik geschaffenen neuen Situation übergehe. Sie haben sicher aus dem Vorhergehenden schon erkannt, daß es ein Leichtes ist, das Kausalgesetz so zu formulieren, daß es nicht widerlegt werden kann.

Die einfachste derartige Formulierung hat mir Herr BOHR gelegentlich im Scherz erzählt: "Alles, was geschieht, das mußte auch geschehen." Sie sehen sofort, daß dieser Satz nicht das geringste über den Ablauf der Ereignisse aussagt. Denn, was geschehen  muß,  das erfahren wir nach diesem Satz erst daraus, daß es geschieht; nachträglich ist nichts mehr zu ändern. Also eine solche Formulierung ist nicht zu widerlegen, weil sie nichts behauptet.

Gehen wir aber nun zu einer ernsthaften Formulierung über, etwa zu der, die über ein Jahrhundert als die Grundlage aller Physik angesehen wurde. "Wenn der gegenwärtige Zustand eines isolierten Systems in allen Bestimmungsstücken genau bekannt ist, so läßt sich der zukünftige Zustand des Systems daraus berechnen." Dieser Satz bildet die Basis für den grandiosen Versuch einer objektiven Naturwissenschaft, der im vergangenen Jahrhundert von den Physikern unternommen wurde. Es liegt diesem Satz die Hypothese zugrunde, daß es prinzipiell möglich sei, ein  isoliertes  System in allen wesentlichen Bestimmungsstücken zu kennen. Es wird also angenommen, daß die Wirkungen, die das Objekt mit dem beobachteten Subjekt verbinden und die dem Beobachter erst erlauben, über das System eine Aussage zu machen, so klein gemacht werden können, daß sie für den Ablauf der Geschehnisse unwesentlich werden. Erst diese Hypothese berechtigt dazu, die Systeme "an sich", d.h. unabhängig von ihrer Beobachtungsmöglichkeit, physikalisch zu behandeln.

In der neueren Quantentheorie stellt sich nun eben die genannte Hypothese als unrichtig heraus, wie ich später besprechen werde. Es ist prinzipiell nicht möglich, alle zur Berechnung der Zukunft notwendigen Bestimmungsstücke eines isolierten Systems zu ermitteln. Damit ist natürlich die vorhin zitierte Fassung des Kausalgesetzes nicht als unrichtig nachgewiesen, sondern nur als inhaltsleer; sie hat keinen Gültigkeites- oder Anwendungsbereich mehr und ist deshalb auch für den Physiker nicht von Interesse.

Sie werden mir vorwerfen, daß ich hier doch etwas vorschnell das Urteil über das Kausalgesetz der klassischen Physik gefällt habe. Denn, so werden Sie sagen, dieses Prinzip ist als die  Grundlage  aller Naturwissenschaft doch unentbehrlich, selbst wenn es physikalisch nicht bewiesen werden kann. Man kann etwa argumentieren, wie KANT es in der "Kritik der reinen Vernunft" tut; erlauben Sie, daß ich ein paar Sätze aus diesem Werk zitiere:
"Man setze, es gehe vor einer Begebenheit nichts vorher, worauf dieselbe nach einer Regel folgen müßte, so wäre alle Folge der Wahrnehmung lediglich subjektiv, aber dadurch gar nicht objektiv bestimmt, welches eigentlich das Vorhergehende und welches das Nachfolgende der Wahrnehmungen sein müßte. - Wenn wir also erfahren, daß etwas geschieht, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorhergehe, worauf es nach einer Regel folgt. Denn ohne dieses würde ich nicht vom Objekt sagen, daß es folge. - Also geschieht es stets in Rücksicht auf eine Regel, nach welcher die Erscheinungen in ihrer Folge bestimmt sind, daß ich meine subjektive Synthesis objektiv mache, und nur lediglich unter dieser Voraussetzung allein ist die Erfahrung von etwas, das geschieht, möglich."
KANT hebt hier mit Recht hervor, daß eben die Möglichkeit einer Objektivierung unserer Wahrnehmungen an das Postulat eines Kausalzusammenhanges geknüpft ist. Bei KANT ist also das Prinzip von Ursache und Wirkung nicht ein an der Erfahrung prüfbarer Satz, sondern eine Denkform, ein "synthetisches Urteil a priori", das für ihn die Grundlage der Naturwissenschaft bildet. Wenn an irgendeiner Stelle das physikalische Geschehen nicht determiniert erscheint, so ist dies nach der KANTschen Formulierung des Kausalgesetzes nur ein Zeichen für das Vorhandensein einer noch ungelösten Aufgabe.

Es ist evident, daß eine solche Auffassung des Kausalgesetzes als a priori-Postulat an der Erfahrung  nicht  widerlegt werden kann, da es über die Erfahrung nichts aussagt. Aber es wird sich herausstellen, daß seine Beibehaltung gegenüber den Tatsachen der modernen Atomphysik unzweckmäßig ist. Der Grund hierfür liegt darin, daß sich eben eine solche Objektivierung unserer Erfahrungswelt, wie sie zu KANTs Zeiten versucht worden ist, als prinzipiell unmöglich erwiesen hat.

Es geht also mit dem Kausalgesetz ähnlich wie mit der euklidischen Geometrie. Man kann sie als eine Summe von Grundsätzen a priori auffassen, die an der Erfahrung geprüft werden können; diese können dann zwar nicht widerlegt werden - denn sie sagen ja nichts mehr über die Erfahrung aus -, aber sie erweisen sich in den Gebieten der modernen Physik oft als unpraktisch.

Ich glaube, Ihnen damit eine hinreichende Übersicht über die bisherigen Formulierungen des Prinzips von Ursache und Wirkung gegeben zu haben und ich gehe damit dazu über, Ihnen die neue Situation zu schildern, die durch die Quantentheorie geschaffen worden ist.

Die Atomtheorie hat zu folgendem Dilemma geführt: Wir beschreiben einerseits Vorgänge in  Raum  und  Zeit.  Wir sprechen z.B. davon, daß ein Elektron zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort angetroffen wird, oder davon, daß an einer bestimmten Raumstelle zu einer gegebenen Zeit die elektrische Feldstärke einen gewissen Wert habe. Wir beschreiben also experimentelle Ergebnisse stets in Raum und Zeit. Andererseits bringt nach BOHR schon die Einführung eines raum-zeitlichen Bezugspunktes automatisch die Notwendigkeit mit sich, auf die Kenntnis gewisser Variabeln zu verzichten. Ich möchte ausdrücklich für die Physiker unter Ihnen betonen, daß ein solcher Verzicht immer notwendig ist, gleichgültig, ob wir Materie oder Licht als Wellenbewegung oder als Wirkung kleiner Partikeln auffassen.

Um dies klarzumachen, will ich zunächst die Partikelvorstellung, dann die Wellenvorstellung ganz kurz besprechen. Ich wiederhole hierbei nur einen vielfach diskutierten Sachverhalt. Damit der Ort, sagen wir, eines Elektrons zu einer bestimmten Zeit festgelegt werde, blenden wir etwa nach BOHR durch eine Lochblende einen Elektronenstrahl aus, wobei die Blende durch einen Schieber geöffnet und geschlossen werden kann. Wegen der de BROGLIEschen Beugung ist dann der Impuls des Elektrons nach dem Durchgang durch die Blendenöffnung bis zu einem gewissen Grade unbestimmt. Ferner ist die beim Öffnen und Schließen des Schiebers geleistete Arbeit unbestimmt um einen gewissen Betrag.

Impuls und Energie des Elektrons sind also nach der Ortsbestimmung nur ungenau bekannt, so, wie es die sogenannten "Unbestimmtheitsrelationen" fordern.

Das Hauptgewicht in dieser BOHRschen Überlegung soll darauf gelegt werden, daß man schon in dem Augenblick, in dem man einen "festen" Rahmen einführt, auf die Kenntnis der Impuls- und Energieinhalte des festen Rahmens und damit auch der zu messenden Partikel verzichtet.

Es ist vielfach behauptet worden, eine solche Unbestimmtheit trete nur auf bei Anwendung der Partikelvorstellung; eben deshalb sei es vernünftiger, nur die Wellenvorstellung zu benutzen. Ich will deshalb hervorheben, daß man zu einer analogen Unbestimmtheit kommt, wenn man vor raum-zeitlichen Wellenvorstellungen ausgeht. Wenn man z.B. die elektrische und die magnetische Feldstärke in einem kleinen Raumgebiet zu messen sucht, so kann dies nur geschehen durch die von den Feldern verursachte Ablenkung geladener Materie. Die Beugungserscheinungen an dieser Materie haben dann wieder zur Folge, daß man nur  entweder  die elektrische  oder  die magnetische Feldstärke genau messen kann.

Die Unbestimmtheitsrelationen zeigen fürs erste, daß eine genaue Kenntnis  der  Bestimmungsstücke, die in der klassischen Theorie zur Festlegung eines Kausalzusammenhangs notwendig sind, in der Quantentheorie unmöglich ist. Die weitere Folge der Unbestimmtheit ist, daß auch das künftige Verhalten eines derart ungenau bekannten Systems nur ungenau, d.h. nur statistisch vorhergesagt werden kann. Es ist einleuchtend, daß durch die Unbestimmtheitsrelationen die Grundlage für das präzise Kausalgesetz der klassischen Physik verlorengeht, und zwar sowohl bei Anwendung der Partikelvorstellung wie bei raum-zeitlicher Wellenvorstellung.

Es fragt sich aber, ob nicht das mathematische Schema der Quantentheorie, das in gewissem Sinne an Stelle des klassischen Kausalzuammenhanges tritt, doch wieder eine präzise Formulierung des Ursachprinzips erlaubt. Da verschiedene Physiker diese Vermutung ausgesprochen haben, möchte ich etwas ausführlicher auf das mathematische Schema der Quantenmechanik eingehen.

Wenn eine physikalische Messung so genau ausgeführt wird, wie es prinzipiell möglich ist, d.h. soweit es die Unbestimmtheitsrelationen gestatten, so konstituiert das Ergebnis der Messung einen "reinen Fall" in WEYLs Nomenklatur. Das bedeutet: Das Ergebnis kann im mathematischen Schema der Quantenmechanik eindeutig repräsentiert werden, etwa durch ein Wellenpakte von SCHRÖDINGERschen Wellen im Konfigurationsraum oder durch einen Strahl im HILBERTschen Raum. Wenn das System nach dieser ersten Messung isoliert bleibt, so läßt sich die repräsentierende Wellengruppe im Konfigurationsraum durch eine Differentialgleichung herleiten aus dem ursprünglichen Wellenpaket. Wenn man die Wellengruppe als Repräsentant des "wirklichen Geschehens" ansieht, so scheint hier ein kausal determiniertes Geschehen vorzuliegen.

Wir müssen nun untersuchen, wie weit der genannte Wellenvorgang als mathematisches Äquivalent des physikalischen Verhaltens des Systems angesehen werden kann. Zunächst kann es nach der Entwicklung der Atomphysik als sicher angesehen werden, daß dieser Wellenvorgang sämtliche Bestimmungsstücke des Systems umfaßt, d.h., daß es keine dem System zukommenden physikalischen Größen gibt, die nicht in der Wellenfunktion ausgedrückt wären. Wenn also umgekehrt durch das Verhalten der Wellenfunktion das physikalische Verhalten des Systems eindeutig bestimmt wäre, so könnte man von Determinismus genau wie in der klassischen Theorie sprechen.

Das Entscheidende ist nun, daß dies  nicht  der Fall ist. Zunächst kann der Wellenvorgang, da er sich in einem vieldimensionalen Konfigurationsraum abspielt, nicht so einfach in ein raum-zeitliches Bild übersetzt und mit dem Verhalten des Systems identifiziert werden. Die raum-zeitliche Beschreibungsweise wird erst möglich, wenn wir die physikalische Frage stellen: Was beobachten wir, wenn wir bestimmte Experimente mit dem gegebenen System anstellen?

Die klassische Theorie liefert für den Ausgang jedes solche Experimentes eine  eindeutige  Vorhersage, wenn sämtliche Bestimmungsstücke des Systems bekannt sind. Die Quantentheorie liefert aber im allgemeinen nur  statistische  Aussagen, selbst wenn sämtliche Bestimmungsstücke (nämlich die Wellenfunktion) gegeben sind. Allerdings kann man stets Experimente angeben, für die auch die Quantenmechanik noch eindeutige Vorhersagen gestattet. Für die meisten Experimente läßt sich aber nur die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Resultates berechnen.

Um ein Beispiel zu nennen: Es sei irgendwie festgestellt, daß sich ein Atom im "Normal"-Zustand befindet. Wenn wir mit diesem Atom einen STERN-GERLACHschen Ablenkungsversuch vornehmen, so läßt sich das Resultat des Versuches exakt vorhersagen. Wenn wir jedoch durch ein Mikroskop den Elektronenort zu messen suchen, so läßt sich nur die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Resultat dieses Experiments angeben. Der entscheidende Unterschied zwischen der klassischen Theorie und der Quantenmechanik ist also der: Wenn von einem abgeschlossenen System durch vorhergegangene Messung sämtliche Bestimmungsstücke bekannt sind, so ist
  • in der klassischen Theorie das Verhalten des Systems bei irgendeiner weiteren Beobachtung völlig bestimmt,
  • jedoch in der Quantentheorie das Verhalten des Systems bei neuen Experimenten im allgemeinen nur statistisch angebbar. Nur für geeignet gewählte Experimente gestattet auch die Quantentheorie eine eindeutige Vorhersage.
Als Grund für diese prinzipielle Unbestimmtheit kann man die schon in der ersten Messung auftretende Ungenauigkeit ansehen, die durch die Unbestimmtheitsrelationen verursacht ist. Oder man kann die Störungen, die durch die Meßinstrumente bei der Beobachtung das System beeinflußt hatten, für die Unbestimmtheit verantwortlich machen. Wesentlich ist nur, daß der Ausgang eines Experiments prinzipiell nicht exakt vorhergesagt werden kann.

Die Tatsache, daß sämtliche Bestimmungsstücke eines abgeschlossenen Systems durch eine Differentialgleichung im zeitlichen Ablauf determiniert sind, und daß nur die Reaktion des Systems mit dem Beobachter oder seinen Apparaten unbestimmt wird, legt folgenden Ausweg nahe: Man fasse das System und den Beobachter (ob Mensch oder Apparat, ist gleichgültig) in  ein  System zusammen, das wieder durch eine Wellenfunktion vollständig repräsentiert wird. Auch für diese Wellenfunktion gibt es eine Differentialgleichung, ihr Verhalten in der Zeit ist also determiniert.

Die Schwierigkeit ist aber wieder, daß diese Wellenfunktion gar keine raum-zeitliche Beschreibung liefert von dem, was geschieht. Sie ist in keinerlei Weise zu brauchen, es sei denn, daß man das ganze System wieder beobachtet und fragt, was bei einer solchen Beobachtung sich ergeben wird. Auf diese Frage aber gibt die Wellenfunktion natürlich wieder nur eine statistische Antwort.

Dies ist die neue Situation, die durch die Quantenmechanik geschaffen wurde. Wir haben uns jetzt zu überlegen, wie weit wir den bisherigen Kausalbegriff in dieser Situation noch brauchen können.

Die klassische Physik hat das Kausalgesetz so formuliert:
"Wenn von einem abgeschlossenen System alle Bestimmungsstücke zu einer gegebenen Zeit genau bekannt sind, so läßt sich für die Zukunft das physikalische Verhalten des Systems daraus eindeutig berechnen."
Wenn man in der Atomtheorie als Bestimmungsstücke eines Systems die der raum-zeitlichen Beschreibung entnommenen Größen (z.B. Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons oder Wellenamplitude an einem bestimmten Raumpunkt) betrachtet, so ist diese Formulierung nicht anwendbar, d.h. inhaltsleer, da der Vordersatz nicht erfüllt ist, die Bestimmungsstücke sind nie genau bekannt wegen der Unbestimmheitsrelationen. In diesem Fall hat das klassische Kausalgesetz also keinen Gültigkeitsbereich.

Wenn man als Bestimmungsstücke jedoch die Eigenschaften der Wellenfunktion im Konfigurationsraum oder des Vektors im HILBERTschen Raum ansieht, so ist in der genannten Formulierung das Ursachprinzip zwar der Vordersatz erfüllbar, aber der Nachsatz falsch. Das physikalische Verhalten des Systems ist nicht eindeutig aus der vollständigen Angabe aller Bestimmungsstücke berechenbar. Es können also wohl die Bestimmungsstücke auch für die Zukunft eindeutig berechnet werden; aber die Bestimmungsstücke legen das physikalische Verhalten nur in Spezialfällen fest.

In diesen Spezialfällen ist übrigens das Ergebnis zukünftiger Experimente exakt berechenbar und daraus folgt, daß ein gewisser "Grad von Determinismus" - wenn ich so sagen darf - auch in der Atomtheorie gewahrt bleibt. Wenn man also Bestimmungsstücke die durch den Vektor im HILBERTschen Raum charakterisierten Größen ansieht, so kann man ein eingeschränktes Kausalgesetz formulieren, das auch in der Atomphysik präzis richtig und sinnvoll bleibt:
"Wenn die Bestimmungsstücke eines isolierten Systems zu einer gegebenen Zeit genau bekannt sind, so gibt es zu jeder späteren Zeit Experimente an diesem System, deren Resultat genau determiniert sind und vorausberechnet werden können, wenn das System keinen Störungen ausgesetzt ist, außer denen, die durch das genannte Experiment verursacht werden."
Diese Formulierung ist freilich etwas umständlich, aber sie gibt genau die Grenzen an, innerhalb deren die Quantenmechanik als kausale Theorie bezeichnet werden kann. Ob man die eben angeführte Formulierung noch als Kausalgesetz bezeichnen will oder nicht, ist natürlich eine reine Geschmacksfrage.

Nachdem wir uns so mit der realistischen Auffassung des klassischen Kausalprinzips auseinandergesetzt haben, bleibt noch die KANTsche Formulierung zu besprechen, nach der das Ursachprinzip kein an der Erfahrung prüfbarer Satz, sondern ein Postulat darstellt, mit dem wir an die Natur herantreten. Wir fragen zunächst, wie es überhaupt möglich ist, ein solches Postulat aufrechtzuerhalten, wenn die Vorgänge, die wir beobachten, nicht determiniert scheinen.

Zum Vergleich will ich Sie an die vor einigen Jahren vielfach diskutierte Frage nach der Gültigkeit der euklidischen Geometrie in der allegemeinen Relativitätstheorie erinnern. Bei KANT wird ja auch die Euklidische Geometrie zu den synthetischen Urteilen a priori gerechnet, sie kann also postuliert werden und auf diese Möglichkeit haben verschiedene Philosophen großen Wert gelegt. Wie dies möglich ist, sei an einem einfachen Beispiel erläutert:

In einem Gravitationsfeld ist nach EINSTEIN die Winkelsumme im Dreieck  nicht  180 Grad. Wenn wir also mit einem an den Enden zusammengeknüpften Faden ein Dreieck ausspannen und durch immer stärkeres Spannen dafür sorgen, daß die Dreiecksseiten sich geraden Linien immer weiter nähern, so nähert sich die Winkelsumme (die etwa so ausmessen, daß wir die am Faden auftretenden Winkel aus Blech ausschneiden und aneinanderlegen) einem von 180 Grad verschiedenen Wert. So würde bei hinreichend genauer Messung nach EINSTEIN das Experiment ablaufen.

Für die Deutung kann man aber, wenn man will, die euklidische Geometrie beibehalten, wenn man annimmt, daß die Kräfte des Gravitationsfeldes die Fäden in irgendeiner Weise hindertn, sich in die kürzeste Verbindungslinie einzustellen, oder wenn man annimmt, daß die zur Winkelmessung verwendeten Bleche sich unter Einfluß des Gravitationsfeldes deformieren. Sie sehen also, man  kann  wirklich die euklidische Geometrie retten. Nur hat man damit nichts gewonnen, weil man dann aufgeben muß, sie in direkte Verbindung mit der Erfahrung zu bringen.

In genau analoger Weise kann man nach KANT auch das strenge Kausalgesetz retten, denn es bleibt immer unbenommen, an den Stellen, an denen die Vorgänge unserer Erfahrung undeterminiert sind, zu sagen: wir kennen die Ursache noch nicht. Eine solche erfolgreiche Verteidigung des Kausalprinzips ist allerdings ein Pyrrhussieg, denn das Kausalgesetz, das man gerettet hat, ist zu Aussagen über die Wirklichkeit nicht mehr zu brauchen.

Es scheint mir sehr unzweckmäßig, in der Atomtheorie z.B. zu sagen: Wir kennen nur die Ursachen noch nicht, die das Atom etwa in einem angeregten Zustand veranlassen, in einen bestimmten tieferen Zustand überzugehen. Denn wir wissen aus vielen Argumenten, daß das Atom keine weiteren Bestimmungsstücke besitzt, als die, die in der Wellenfunktion ausgedrückt sind. Es ist ja auch sozusagen gar nicht die Schuld des Atoms, daß seine Strahlungsübergänge statistisch stattfinden, sondern dies kommt durch die Unbestimmtheit der Wechselwirkung des Atoms mit dem benutzten Beobachtungsmittel: "Strahlung" zustande.

Wenn KANT gezeigt hat, daß für eine objektive Naturwissenschaft das Kausalpostulat die Voraussetzung sei, so ist dem entgegenzuhalten, daß eben eine in dem Sinn "objektive" Physik, d.h. eine ganz scharfe Trennung der Welt in Subjekt und Objekt, nicht mehr möglich ist. Während früher die raum-zeitlichee Beschreibung auch für einen isolierten Gegenstand möglich war, ist sie jetzt wesentlich geknüpft an die Wechselwirkung des Gegenstandes mit dem Beobachter oder seinen Apparaten; der völlig isolierte Gegenstand hat prinzipiell keine beschreibbaren Eigenschaften mehr. Die moderne Atomphysik handelt also nicht vom Wesen und Bau der Atome, sondern von den Vorgängen, die wir beim Beobachten des Atoms wahrnehmen; das Gewicht liegt als stets auf dem Begriff: "Beobachtungsprozess". Der Beobachtungsprozeß kann dabei nicht mehr einfach objektiviert, sein Resultat nicht unmittelbar zum realen Gegenstand gemacht werden.

Ich hoffe, Ihnen durch die vorgetragenen Betrachtungen verständlich gemacht zu haben, daß die durch die Atomphysik geschaffene Situation wirklich eine erneute Diskussion des Kausalbegriffes notwendig macht. Als Resultat der Diskussion möchte ich zusammenfassen:

Daß erstens die klassische Formulierung des Kausalgesetzes sich als leer und physikalisch unanwendbar erwiesen hat. Daß jedoch ein teilweiser Determinismus auch in der Atomphysik bestehen bleibt, den man etwa in dieser Weise formulieren kann: "Wenn zu einer Zeit ein System in allen Bestimmungsstücken bekannt ist, so gibt es auch zu jeder späteren Zeit Experimente an dem System, deren Resultat präzis vorhergesagt werden kann." Ob man ein solches Verhalten noch kausal nennen soll oder nicht, scheint mir keine interessante Frage. Vielmehr sollen wir uns freuen, daß die Natur uns durch die Atomphänomene in der Frage nach den Grundprinzipien der Naturwissenschaft etwas Neues gelehrt hat.
LITERATUR - Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hg), Erkenntnis, Band 2/1931, Amsterdam 1967
    Anmerkungen
  1. Extrapolation = Schluß auf einen Sachverhalt, der außerhalb eines experimentell zugänglichen Bereiches liegt.