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FRITZ MAUTHNER
Unbewußte Analogie
II-09

"Wir können gar nicht abmessen wie viel der Zufall bei diesen scheinbar so philosophischen Kategorien der Sprache mitgewirkt hat."

Das Verhältnis der Schriftsprache zur lebendigen Sprache oder das Verhältnis der Grammatik zur Sprachentwicklung ergibt sich aus dem Eifer der Sprachgelehrten, aus Überlegung, also mit vollem Bewußtsein dasselbe zu tun, was die sprechende Menschheit seit jeher unbewußt getan hat. Man könnte nicht nur die Lehren unglücklicher Sprachreiniger, sondern sogar vielfach die Wissenschaft verständiger Grammatiker als eine Übertreibung, als eine Parodie auf das unbewußte Walten der Analogie betrachten. Und wir werden geneigt sein, in ein erlösendes Gelächter auszubrechen, wenn wir erkannt haben, daß alle die Gleichmäßigkeiten, welche die Sprachentwicklung allmählich aus Gründen der Nachlässigkeit und Bequemlichkeit in Stoff und Form der Sprache hineingetragen hat, nachträglich die Grundlage geworden sind für die sogenannte Logik, und daß nun diese auf der unbewußten Analogie beruhende Logik wieder zu den Forderungen der bewußten Analogie geführt hat. Die Griechen und Römer, die von einer unbewußten Geistestätigkeit noch nichts ahnten, mußten freilich vor Freude aus dem Häuschen geraten, als sie in der Sprache überhaupt Analogien entdeckten; so ist es ihnen weiter nicht übel zu nehmen, daß sie sich aus ihnen eine Logik konstruierten, wie die ersten Beobachtungen von Gleichmäßigkeiten in der Natur anstatt zu unbewußten Naturgesetzen zu der Aufstellung von bewußten Gottheiten führten.

Wir aber, die wir in den Naturgesetzen überall nur eine neue Mythologie erkennen, wir werden auch mißtrauisch sein selbst gegen die Gesetze, welche aus unbewußten Analogiebildungen der Sprache hervorgehen. Daß der Einfluß unbewußter Analogie die ganze Sprachentwicklung beherrscht, ja daß wir den Einfluß der Analogie bis in die unzugänglichen Urzeiten der Sprache zurück annehmen müssen, das ist gewiß. Wieder aber müssen wir uns davor hüten, Gleichmäßigkeiten darum für Gesetze zu erklären, weil jeder dieser Vorgänge für sich genommen bis ins Kleinste hinein psychologisch oder selbst mechanisch notwendig ist. Ich wiederhole das Bild von den Wagenspuren, der Straße. Wenn eine Reihe von Wagen in näheren oder weiteren Abständen hintereinander über eine frisch geschotterte Straße fährt, so wird der zweite Wagen mit psychologischer, das heißt von Kutscher und Pferden ausgeübter, und ebenso mit mechanischer Notwendigkeit ungefähr in die Spur des ersten Wagens einlenken, der dritte noch genauer in die Spur des zweiten Wagens usw.; je tiefer, breiter und bequemer die Spur geworden ist, desto notwendiger wird für die Wagen ein analoges Fahren werden. Nicht leicht aber wird ein Philosoph unter den Fuhrleuten diese Analogie ein Naturgesetz nennen. Es wird immer unruhige Pferde, betrunkene Kutscher und zufällige Steine geben, welche die Analogie aufheben.

Wenn wir bedenken, daß es hoch entwickelte Sprachen gibt, welche heute noch gewisse formale Analogiebildungen wie unsere verschiedenen Redeteile nicht kennen, daß ein Wort im Chinesischen zugleich die Funktion des Verbums, des Nomens und des Adjektivs haben kann, so werden wir um so leichter begreifen, daß diejenigen analogischen Gruppen, welche uns als die grammatischen Formen so geläufig sind, in den Uranfängen der Sprache gar nicht bekannt oder auch gar nicht vorhanden waren. Aus solchen formalen Analogiebildungen ist die Trennung der Redeteile, in den einzelnen Redeteilen die weitere Gruppenbildung hervorgegangen. Das Verbum teilte sich nach Zeiten, nach Personen, nach Ein- und Mehrzahl, das Substantiv teilte sich in Gruppen nach Ein- und Mehrzahl und später nach den Kasusformen, das Adjektiv schuf sich analoge Gruppen nach der Steigerung. Wir können gar nicht abmessen und unter dem Banne unserer Sprachgewohnheit uns auch beinahe nicht vorstellen, wie viel der Zufall bei diesen scheinbar so philosophischen Kategorien der Sprache mitgewirkt hat. Ich will mir ein einziges Beispiel anführen, das ich allerdings wieder nur als eine phantastische Möglichkeit gebe.

Ich denke mir also, daß zu irgendeiner frühen Zeit der indoeuropäischen Sprachen, als sie noch nicht feste Formen der Deklination und Komparation besaßen, aber schon in Redeteilen auseinander gingen, daß damals durch eine zufällige Geistesrichtung die Komparation der Adjektive und die Zahlbezeichnung der Substantive ganz wohl hätte zusammenfallen können. Es ist doch unzweifelhaft eine Analogie vorhanden zwischen dem Positiv, dem Komparativ und dem Superlativ einerseits, dem Singular, dem Dual und dem Plural anderseits. Ein einzelner Mensch kann groß sein, nur unter zwei Menschen kann einer größer sein, nur unter einer Mehrzahl von Menschen kann einer der größte sein. Ich phantasiere also, daß damals eine Analogiebildung, welche Singular und Positiv, Dual und Komparativ, Plural und Superlativ, und dann dieses Ganze wieder in eine besondere grammatische Kategorie zusammenfasste, recht wohl möglich gewesen wäre. Wir haben in unserer Grammatik allgemein bekannte Analogiebildungen, welche nicht zwingender sind. Die Funktionen der Frage oder der Bedingungspartikel umfassen analogisch größere Gegensätze, als der zwischen Steigerung der Adjektive und Zahlbezeichnung der Substantive ist. Wäre meine Phantasie Wirklichkeit, so würde sie jedem selbstverständlich scheinen.

Daß aber in alten Zeiten die Begriffe noch weniger analogisch gebildet wurden als heute, das sieht man aus einer Menge gerade der gebräuchlichsten Worte. Und es ist kein Zufall, daß gerade die gebräuchlichsten Worte in vielen Sprachen den alten Zustand erhalten haben. Sie waren den redenden Menschen immer zu geläufig, um sich der Analogie zu fügen. Man achte auf das Hilfszeitwort sein. Der Infinitiv lautet "sein", der Indikativ der Gegenwart "ich bin", das Imperfektum "ich war". Diese Worte werden so oft gebraucht, selbst schon von kleinen Kindern, daß die Analogiebildung  ich seie  und  ich seinte  oder ähnlich niemals festen Fuß fassen konnte. Man halte dagegen ein Verbum, das selten gebraucht wird, wie z.B. pflücken. Es hat vielleicht kein einziger von uns sämtliche Formen, die nach dem grammatischen Paradigma von "pflücken" abgeleitet werden können, also alle Formen von "ich pflücke" angefangen bis "ich würde gepflückt gehabt haben" schon gebraucht. Kommen wir aber im Zusammenhang der Rede dazu, irgend eine noch niemals von uns gebrauchte Ableitungsform von  pflücken  anzuwenden, so steht uns fast unbewußt das Paradigma zu Gebote, das heißt wir bilden das Wort nach Analogie anderer Zeitwörter, insbesondere nach der Analogie der schwachen transitiven Verben.

Es scheint mir ganz einleuchtend, daß von den Uranfängen der Sprache an solche Analogiebildungen wirksam waren. Ein vollständiges Wörterbuch müßte auch alle Neubildungen von jedem Verbum mitenthalten. Wir stehen aber so unbedingt unter dem Banne der Analogie, daß wir "pflücke, pflückte, gepflückt" gar nicht als selbständige Worte empfinden, was sie doch ebenso gut sind wie die abgeleiteten Substantive und Adjektive, daß wir sie vielmehr als gelegentliche Lautveränderungen eines sogenannten Stammwortes empfinden. "Sein - bin - war" sind offenbar ursprünglich ganz verschiedene Worte gewesen; wir empfinden aber auch sie als Ableitungen, weil uns die Analogie nicht losläßt. Ebenso stellt es um die Komparation von "gut" in "besser". Vielleicht könnte man es dahin auch rechnen, wenn wir im Deutschen das Wort Geschwister haben und damit auch mehrere Brüder bezeichnen können.

Wir können uns mit den Gewohnheiten unserer Sprache in eine Zeit gar nicht mehr zurückdenken, deren Sprachmaterial ohne jede Analogie aus lauter selbständigen Begriffen und Formen bestand. Oder vielmehr, wir erhalten bestenfalls die Vorstellung von den Tierstimmen auf einem großen Bauernhofe; wenn da die Pferde wiehern, die Ochsen brüllen, die Ziegen meckern, die Hunde bellen, die Katzen miauen, die Hähne krähen, die Hühner gackern und die Gänse schnattern, so ist dieses Durcheinander vielleicht nicht nur ein Bild von der uranfänglichen, noch nicht analogischen Sprache, es ist vielleicht dieser Zustand selbst. Zwischen der Sprache des Hahns und der Henne gibt es etwas wie Analogie, also auch eine Verständigung; der Hahn kräht nur, wenn er etwas spezifisch Männliches ausdrücken will; mit den Kücken spricht er in Tönen, die den Tönen der Henne analog sind. Zwischen den Sprachen von Pferd und Gans aber ist keine Analogie, also auch kein Verständnis. Höchstens die Jammerrufe äußersten Schmerzes scheinen unter verschiedenen Tieren etwas Analoges zu haben und darum Verständnis zu wecken. Wir können uns die Anfänge der Sprache nicht arm, selig genug ausdenken. Wir wissen jetzt, daß den späteren Reichtum zwei Geistestätigkeiten erzeugt haben: die metaphorische und die analogische Anwendung der vorhandenen Sprachlaute. Es läßt sich hinzufügen, daß jede neu vollzogene Metapher den Stoff der Sprache durch eine Art von Kunstschöpfung bereicherte, zu deren Verständnis zuerst selbst eine künstlerische Geistestätigkeit des Hörers notwendig war.

Die Bereicherung durch Analogie bedarf weit weniger dieser künstlerischen Geistesrichtung. Durch die Analogie wird der Sprachschatz eben fabrikmäßig vermehrt. Und wenn ich behaupte, daß die zahlreichen Bildungsformen jedes einzelnen Substantivs oder Verbum im Augenblicke der Anwendung jedesmal neu geschaffen werden, so meine ich damit ein mechanisches Schaffen nach der Schablone; wohl haben wir alle möglichen Deklinations- und Konjugationsformen eines Worts im Gedächtnis bereit liegen, aber nicht als eine Erinnerung an diese Einzelformen, sondern nur als Erinnerung ihrer Analogien. Wir haben es alle mit erlebt, wie zum erstenmal das Fahren auf dem Zweirad mit dem neu gebildeten Worte "radeln" bezeichnet wurde. Die Bildung selbst erfolgte analogisch, aber doch wieder rein zufällig. Denn für das Laufen auf Schlittschuhen hat sich z. B. das Wort schlittern - weil es nämlich schon eine anders nuancierte Bedeutung hatte - nicht eingeführt. Wer aber das Wort radeln zum erstenmal so verstand, daß er es nachzusprechen bereit war, der zögerte auch nicht um Augenblick, davon die noch nicht gehörten oder gesprochenen Konjugationsformen zuverlässig zu bilden, wie etwa vom Verbum tadeln. Es entstand sofort eine Analogiegruppe, trotzdem radeln ganz gewiß nicht nach der Analogie von tadeln gebildet worden war. Aber jeder sagte und verstand auf der Stelle z.B. "du radelst".

Für das Wesen der Analogie scheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß solche Bildungssilben niemals auf den rein formalen Wert ihrer Buchstaben herabgesunken sein können. Man sollte den Unterschied wohl beachten. Sicherlich hat unsere Buchstabenschrift sich aus uralter Bilderschrift entwickelt. Wenn aber der Buchstabe  S  sich - ich wähle zur Erläuterung ein ideales Beispiel - so entwickelt hat, daß zuerst das Bild der Schlange an eine Schlange erinnerte, dann dasselbe Zeichen außer der Schlange auch ihren Anfangslaut malte, bis daß nach langer Entwicklung die Schlangenlinie einfach den Laut  S  in Erinnerung brachte, so vollzog sich allmählich ein Bruch im Gedankengang. Der Laut  S  hat mit dem Begriff Schlange nicht das allermindeste mehr zu tun. Und selbst in den seltenen Fällen, wo man aus der heutigen Form des Buchstabens noch irgendwie eine Erinnerung an die alte Bilderschrift wachrufen kann, ist diese Ähnlichkeit nur noch eine Kuriosität, aber keine Verbindung mehr. Die Verbindung ist zerbrochen. Anders in den hörbaren Sprachlauten als Bildungselementen. Wenn das  S  als Suffix bei einem Zeitwort die zweite Person der Einzahl bezeichnet, so ist die Identität des Lauts mit der Bezeichnung für die zweite Person unserem Sprachgefühl zwar nicht mehr gegenwärtig, aber es hat in der Sprachentwicklung niemals einen Bruch gegeben und von der alten Zeit, wo das  S  bewußt die zweite Person aussprach, bis zum heutigen Tage haben die Menschen in leisen Übergängen des Lautwandels immer so die zweite Person gebildet. Wir sehen daraus vielleicht, daß es nicht angeht, den Vorgang der analogischen Anwendung der Sprachformen einfach mathematisch durch Proportionen zu erklären, wie HERMANN PAUL das getan hat. Nach ihm wird die Unbekannte gesucht, z.B. die zweite Person Singularis vom Indikativ des Verbums ist (Prinzip. d. Sprachgeschichte Seite 97) etwa die Gleichung:
  • tadeln : du tadelst = radeln: X.
  • Daraus soll hervorgehen X = du radelst. In den seltensten Fällen nur mag eine solche Besinnung möglich und notwendig sein. Der Vorgang im Menschengehirn ist viel einfacher. Die Bildungssilbe ist uns in ihrer Bedeutung genau so geläufig wie das Wort Apfel in seiner Bedeutung, und das Wesen der Analogie scheint mir nur darin zu bestehen, daß solche Bildungssilben in Millionen Fällen unaufhörlich gebraucht werden und daß die entwickelte Sprache mit einer verhältnismäßig kleinen Zahl solcher Bildungselemente für die Millionen Fälle bequem auskommt. Ich wiederhole: eigentlich wird durch Hinzufügung jedes Bildungselements ein neuer komplizierter Begriff gebildet. "Tadelst" ist ebenso ein selbständiges Wort wie "Mandelbaum". Unsere Kinder sind gewohnt, den Baum, auf welchem die Kirsche wächst, Kirschbaum zu nennen usw. Einen Mandelbaum haben sie wahrscheinlich noch nie gesehen. Sagt man ihnen aber, daß die Mandel eine ähnliche Baumfrucht ist, so bilden sie analog von selber und richtig den Begriff  Mandelbaum  als selbständiges Wort. Ob solche Neubildungen richtig oder falsch sind, das ist ganz gleichgültig für das Wesen der Sprache. Wenn jemand glaubt, die Tomate oder die Kartoffel wachse auf einem Baum, so bildet er ebenso richtig die Analogie: Tomatenbaum, Kartoffelbaum. Die Analogie ist richtig, nur die Vorstellung ist falsch. Von hier aus werden wir zu der Unterscheidung geführt zwischen solchen Fehlern im Wortgebrauch, die nur dem Sprachgebrauch widersprechen, und solchen Fehlern, die den Sinneseindrücken widersprechen, auf welche jede Sprache doch zurückgehen soll.
    rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
    Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906