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RICHARD OTTMANN
Fritz Mauthners
Kritik der Sprache


"Mauthner ist freilich mehr der Geist, der verneint, als der schaffende Titan, mehr der Zertrümmerer als Erbauer, in den Endfragen mehr die Sphinx, die Rätsel wiederholt, als der lösende und erlösende Übermensch."

Wer eine Kritik der Sprache zu schreiben unternimmt, muß ein Mensch von den seltensten Gaben und geradezu unheimlichen Kenntnissen sein; er müßte über ein Wissen verfügen, dem gegenüber das auf weit beschränkterem Gebiet sich bewegende Wissen des Sprachforschers, wie umfassend es auch ist, nur ein kleiner Bruchteil wäre. Das Urteil über Wesen und Wert der Sprache muß für eine derartige Kritik das Endziel sein; aber viele Wege führen zu diesem vielleicht unscheinbaren Ziel, und ein jeder von ihnen muß betreten werden, wenn das Ziel nicht bloß einseitig gefaßt werden soll.

Der Sprachkritiker hat sein Objekt nach der psychologischen und logisch-grammatischen Seite, nach der mechanisch-physiologischen, nach der phonetisch-akustischen und selbst nach der pathologischen Seite hin zu untersuchen, er muß Anthropologe und sattelfester Naturwissenschaftler sein, Kulturkenner und Literaturhistoriker, Ästhetiker und Dichter, Sprachenkenner und Sprachforscher.

Betrachtet man vergleichsweise die auf einen Teil des letzten Gebietes beschränkten staunenswerten Leistungen BRUGMANNs, so fragt man billigerweise, ob ein wenn auch weniger vertiefstes, dafür aber um das Vielfache ausgedehntes Wissen und Können, wie es für jenen Zweck Voraussetzung sein sollte, überhaupt in dem Bereich des Möglichen liegt.

Es ist in unserer schreibseligen Zeit gar nicht so selten, daß der Durchschnittsliterat über das enge Gebiet, auf dem er dem Interesse des Durchschnittsmenschen allenfalls genügen kann, in gewagte Fernen hinausstrebt, deren Schätze er auch nicht im geringsten sein eigen nennt. So irrte schon mancher auf ein Stoffgebiet ab, das nur eitle Selbstüberschätzung als rechtmäßiges Arbeitsfeld ansah, und seine Unwissenschaftlichkeit vermaß sich zu guter Letzt, die Wissenschaft abzukanzeln.

Meist ist es der auf annähernd beherrschtem Gebiet errungene buchhändlerische Erfolg, der langsam zu dem Größenwahn des Autors und durch stets gesteigerte Mängel bis zur Mißhandlung der Wissenschaft führt. Man braucht nur an den Autodidakten KARL FAULMANN erinnern. Er war Buchdrucker und hatte für sein Fach etwas übrig. Der Erfolg seiner für ihre Zeit glänzend augestatteten Geschichte der Buchdruckerkunst trieb ihn weiter auf der betretenen Bahn. Von einer Geschichte des Buchdrucks zu einer Geschichte der Schrift schien kein weiter Schritt. Er wurde getan, und die Einsichtigen machten eine bedenkliche Miene; es folgte eine Geschichte der Kultur, und die Verständigen schüttelten den Kopf; es kam schließlich das berüchtigte etymologische Wörterbuch, und die Urteilsfähigen fielen auf den Rücken.

Denkt man gar noch an den auch sonst schlecht kreditierten RUDOLF FALB, der in seinem Buch über das Land der Inka in geradezu unwissenschaftlicher Weise sich auf sprachlichem Gebiet versuchte, so ist es dem Gebildeten nicht zu verargen, wenn er neuen Erscheinungen, die mit der deutlich hervorgekehrten Absicht, die Wissenschaft zu korrigieren, von Schriftstellern ohne sprachwissenschaftlichen Ruf weiteren Kreisen geboten werden, mit Mißtrauen begegnet.

Und wenn ein umfängliches Werk eines seit langem lediglich auf dem Gebiet der schönen Literatur bewährten Verfassers sich die nur mit unendlich reicheren Mitteln als denen seines Spezialfachs zu leistende Kritik der Sprache als Ziel setzt, wie es bei FRITZ MAUTHNER, dem Verfasser der ergötzlichen Parodien "Nach berühmten Mustern", in seinem neuesten umfänglichen Werk "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" der Fall ist, von dem die beiden Bände  I. Sprache und Psychologie und  II. Zur Sprachwissenschaft vorliegen, und man den zweifellos hochbegabten Verfasser nach fünfundzwanzig schöngeistigen Jahren plötzlich als einen ganz anderen und in den Reihen der Forscher sieht, so wird man begreiflicherweise stutzig.

Aber das Mißtrauen, das an FALB und FAULMANN zu denken wagt, soll durchaus keine Unvoreingenommenheit bedeuten, und es macht dem Rezensenten Freude, dem Werk als Ganzem eine über die Form der Höflichkeit hinausgehende Anerkennnung zollen zu können. Mit den Mitteln der Möglichkeit bleibt dabei immer zu rechnen; denn wenn ein Werk wie das vorliegende sich auf alle Gebiete erstreckt, die mit dem Sprachleben zusammenhängen, so muß es, weil kein Mensch mit ausreichender wissenschaftlicher Kenntnis alle diese Gebiete beherrschen kann, entweder ungeschrieben bleiben, oder vorbehaltlich der auch in dem Titel gewahrten Unzulänglichkeit darf es vielleicht doch gerade derjenige am ehesten unternehmen, der die Sprache in ihrem Zusammenhang mit dem Denken und den Denkformen, mit den bewegenden Ideen und dem seelischen Fühlen, mit dem Eigenindividuum und einer Außenwelt inniger belauscht hat: der feinfühlige Schriftsteller.

Und wenn wir an ihm das ernste Streben bemerken, sich auf allen irgendwie in Betracht kommenden Gebieten genau zu orientieren, und eine überraschende Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit auch im fernerliegenden entdecken, so dürfen wir seine kritischen Streifzüge sogar mit der Erwartung leidlicher Ausbeute getrost mitmachen. Und wenn es sonst noch nicht zum Bewußtsein gekommen ist: hier wird es ihm mit erfreulichem Mut vorgehalten, wie sehr er ein Sklave seiner Zeit und des hergebrachten Wortdenkens ist, wie das stolze Selbstgefühl, das schließlich auch bei besserer Erkenntnis und geistiger Überlegenheit den Bann des Überkommenen nicht zu sprengen vermag, geäfft wird von dem geschichtlich Gewordenen, von der Summe jahrtausendelangen Erwerbs. Die Kritik der Sprache wird damit zu einer Metakritik des Denkens und der Vernunft: für MAUTHNER steht und fällt das eine mit dem anderen.

MAUTHNER ist freilich mehr der Geist, der verneint, als der schaffende Titan, mehr der Zertrümmerer als Erbauer, in den Endfragen mehr die Sphinx, die Rätsel wiederholt, als der lösende und erlösende Übermensch. Wir bewundern die umfassende Kenntnis, die dem Verfasser weit mehr als dem Professionisten Beweisstoffe und Vergleiche an die Hand gibt, den weiten Blick, der das in Einzelwissenschaften Auseinandergehende überschaut und sammelt, die Vorurteilslosigkeit - so scheint es -, die den Bann der Voreingenommenheit, des Aberglaubens, des blinden Nachtretens überwindet und die Fessel überkommener Spruchweisheit abzutun redlich bestrebt ist; aber wir werden die Empfindung nicht los, daß das genial schaltende Wissen sich nur graduell vom Dilettantismus abhebt.

Wir bewundern in dem Verfasser den Naturforscher, der die Formen des organischen Lebens in ihren Entwicklungsstadien zurückverfolgt und überall Analogien aufdeckt, den Weltweisen, der keinen Götzen opfert und grübelnd seine eigenen Wege geht, den Kritiker, der keine Autorität gelten lassen will, den Rechtslehrer, der ohne die Befangenheit des ihm durch Studiengang verwandten Standes die Unvollkommenheit und den höchsten relativen Wert menschlicher Einrichtungen und Urteile vorkehrt, den Ästhetiker, den Dichter, den Sprachgewaltigen; den Schriftsteller schließlich, der einem Lieblingswerk sein Brot zum Opfer bringt.

Und doch hätte er, der Schriftsteller von Fach, der seine Meisterschaft in der Handhabung der Sprachform bereits vor manchem Jahr der Welt kundgetan hat, der Wissenschaft vielleicht einen besseren Dienst geleistet, wenn er von weniger hoher Zinne gesprochen hätte und sich an geringerer Umschau hätte genügen lassen. Es scheint, er habe sich selbst verleugnet: so sehr tritt er als Formdeuter hinter der abstrakten Spekulation zurück, die in den Endfragen von vornherein zur Ergebnislosigkeit führen mußte.

Auch MAUTHNER ist Mensch, und wieviel Faustschen Erkenntnistriebes auch in ihm steckt: die Grenzen menschlichen Erkennens sind auch ihm gezogen. Er leistet nichts Positives, wenn er die Aufgabe der Sprachwissenschaft um Jahrtausende zurückschiebt. Vielleicht daß er sich so dem Vorhang, der den Blick in den Abgrund aller Dinge verschließt, um einen winzigen Schritt nähert. Die Sprachwissenschaft darf selbst diesen kleinen Schritt nähert. Die Sprachwissenschaft darf selbst diesen kleinen Schritt nicht bedingungslos mittun, soll sie nicht in Gefahr kommen, sich zu diskreditieren. Nur das gewagte Vorgehen trägt auf dem trügerischen Boden; wo der feste Grund verschwindet, ist es Zeit zu Einhalt und Umkehr.

Man wird es der Sprachwissenschaft nicht zum Vorwurf machen, daß sie diese Grenze scheinbar überschreitet. Sie erfüllt nur die Pflicht der Wissenschaft überhaupt, wenn sie aus dem Letzterreichbaren ein Fazit zieht, das, an sich ungebucht, das notwendige Ergebnis des Rückschlusses sein muß. Was MAUTHNER in weit kühnerem Vorgehen sich selbst gegenüber als natürliche Forderung ansieht und in der Richtung des eigenen Interesses von der Sprachforschung verlangt, das versagt er den Zunftmäßigen da, wo der vermeintliche Zunftzwang ihnen einen anderen Weg weist und rascheren Stillstand gebietet. Der exakten Wissenschaft ist vieles, vielleicht das meiste gleichgültig, was für MAUTHNER Hauptsache ist: nicht aus Interesselosigkeit, sondern weil sie sich am Ziel des Beweisbaren sieht.

Wie der blinde Bekenner des Naturheilevangeliums, wieviel ihm an den nötigen Kenntnissen auch abgehen mag, den Arzt lästert, so wird MAUTHNER der vergleichenden indogermanischen Sprachforschung, der das Wesen der Sprachwissenschaft ausmachenden Etymologie nicht gerecht. MAUTHNER ist gerade auf diesem Gebiet, das wenige überblicken und nur wenige beherrschen, zu sehr Passant, um Arbeit und Leistung des Indogermanisten richtig zu würdigen, wenn es auch bei ihm an Äußerungen der Anerkennung nicht fehlt.

Aber es ist das Wohlwollen, das der sich höher Dünkende dem Arbeiter bekundet, der den Garten pflegt, aus dem er sich gelegentlich mit Gönnermiene eine Blume bricht. Die Verzweigungstheorie nach landläufig wissenschaftlicher Anschauung - mag man sich die Ausbreitung der indogermanischen Völkerfamilie auf linearem Weg oder in der Form der Wellenbewegung oder sonstwie vorstellen - wird von MAUTHNER völlig verurteilt: an Stelle der Wanderungen erscheint eher Seßhaftigkeit, an Stelle sprachlicher Vererbung Sprachmischung und gegenseitiges Entlehnen des Sprachguts, und selbst für die greifbare Zeit romanischer Sprachentwicklung muß die Vorstellung einer Anleihe herhalten, die erst als Anleihe im großen verständlich würde.

Glücklicherweise ist die Sprachwissenschaft nicht so blind und ungeschickt, daß sie die Worteindringlinge nicht herausfände, und nicht so arglos, dem Verdachtsmoment keinen oder zu geringen Raum zu gestatten. Eher das Gegenteil: und allemal, wo der Zwiespalt mit der normalen Entwicklung einen vorderhand unlösbaren Widerspruch in sich schließt. Im Gegensatz zu der von der Wissenschaft proklamierten Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze sind Widersprüche in der sprachlichen Entwicklung für MAUTHNER gegenstandlos; er trägt den Zufall in die Lautgeschichte hinein, mit dessen Anerkennung die etymologische Forschung ohne weiteres ihren Bankrott erklären müßte, und rechtet in kleinlichem Wortstreit mit der philologischen Vermessenheit, die ihre gelegentlichen Apercus [geistreiche Bemerkungen - wp] unter der Flagge von Gesetzen segeln lasse - Gesetzen, die nur nach rückwärts taugten und nach der Seite der künftigen Entwicklung im Stich ließen - und zudem aus jedem Unerklärten wieder ein Gesetzchen mache.

Das Wachsen der Sprache durch Bedeutungsübertragung, das ewige Umschreiben und Bildlichreden läßt nun MAUTHNER die künstlerische Kraft und zugleich die logische Schwäche der Sprache sein. Der Dichter braucht weniger scharf umrissene Begriffe, als es das wissenschaftliche Erkennen verlangt. Er wirkt durch den Stimmungsgehalt seiner Wort; schon durch das erste Wort vermag er die gewünschte Stimmung anzuschlagen. Sie bildet den Grundton und muß bei der Enge des menschlichen Bewußtseins, die höchstens zwei oder drei Worte im geistigen Blickfeld sein läßt und nur notdürftig über einige hervorspringendere Punkte hin sich einen Zusammenhang schafft, als Hauptsache gelten. Und wie der Dichter in dieser Hinsicht der Wissenschaft gegenüber im Vorteil ist, so auch dadurch, daß er durch die Unfestigkeit des Wortinhalts dem Leser keinen Zwang auferlegt und ihm die Möglichkeit subjektiven, der eigenen Individualität angepaßten Auffassens von vornherein zugesteht.

Anders in der wissenschaftlichen Untersuchung, wo dem geistigen Behagen kein Zugeständnis gemacht wird, wo nichts Stimmung ist und überdies nichts ein sinnfälliger Vorgang. Wirkliche Anschauung gewährt schon die Dichtersprache nicht, auch wo sie das scheinbar Sagbarste mit den Mitteln der von der Enwicklung getrübten Sprache auszudrücken sich bemüht. Trotzdem aber oder gerade weil nicht einmal die Worte der Poesie sichere Anschauung zu bieten vermögen, erscheint die Sprache als gutes oder sogar bestes Werkzeug der Kunst, während sie für die Erkenntnis ein völlig versagendes Werkzeug bleiben muß.

Als Gesellschaftsprodukt, ihrem Wesen nach Verständigungsmittel, wird sie sich niemals über diesen ihren Ursprung erheben können; sie vermag in fortschreitenden Bildern bis zur Höhe eines künstlerischen Mittels zu wachsen, als Erkenntnismittel aber muß sie stets unfruchtbar sein, immer nur bereit, das Wirkliche gesellig zu beschwatzen. Sie ist gut genug, Hunger, Liebe und Eitelkeit zu befriedigen; sie leistet schon ihr Höchstes, wenn sie die Wirklichkeitswelt klassifiziert, anstatt sie zu begreifen. Sie kann schon deswegen kein Erkenntnismittel sein, weil sie unvermögend ist, den Begriffsinhalt der Worte im Zusammenhang festzuhalten, und sie ist völlig an unsere Zufallssinne gebunden, die die unsagbare Wirklichkeit nur im Zufallsbild erfassen.

Die auf LESSING zurückführende Gewißheit, daß unsere Sinne Zufallssinne sind, wie der neugeschaffene Ausdruck bei MAUTHNER heißt, bildet in seiner Darlegung des Unwerts der Sprache in wichtiges Glied, ja die eigentliche Voraussetzung. Die vorgebrachten Beweise für die Unzulänglichkeit der menschlichen Sinne - wozu auch die Unvorstellbarkeit der vierten Dimension gehört - ließen sich mehren. Seine meist überzeugenden Ausführungen stellen sich der naiven Annahme entgegen, daß auf der einen Seite die Welt sei, auf der andern der Mensch mit den Organen für sämtliche Erscheinungen der Welt.

Die unendliche Menge der Wirklichkeitsbewegungen - denn als Atombewegung faßt die neuere Naturwissenschaft die Wirklichkeit auf - gelangt nur durch die schmalen Tore unserer Zufallssinne zu uns, und alles muß draußen bleiben, was keinen Weg zu diesen Toren hat. Mit Hilfe unserer fünf oder sechs Zufallssinne (der Temperatursinn wäre vom Tastsinn abzulösen) haben wir uns in unserer Umgebung orientiert, und zwar will MAUTHNER - was freilich in dieser schroffen Einseitigkeit ein bedenkliche Annahme scheint, da sie die Grenzen der jeweiligen Entwicklungsfähigkeit unberücksichtigt läßt - in dem Entwicklungsgang der Organismen die Aufmerksamkeit oder das Interesse als Grund und Maß dieser Erscheinung gelten lassen, das interessierende Moment aber in der Bequemlichkeit des Wiedererkennens suchen.

Diese Annahme soll begreiflich machen, wie im unendlichen Lauf der organischen Entwicklung die tierischen Organismen bis zum Menschen hinauf aus dem Chaos der Weltvibrationen eine klassifizierende Auswahl trafen. Bei dem Menschen sind die der Außenwelt gegenüber zur Verfügung stehenden Sinne höchst unvollkommen. Tast- und Wärmegefühl sind wenig differenziert, nicht besser ist es um den Geschmack bestellt; die geringe Entwicklung des Geruchs lehrt schon der Vergleich mit dem Riechend des Hundes, und die Mangelhaftigkeit von Gehör- und Farbempfindung die uns Töne unter sechzehn- und über sechzehntausend Schwingungen nicht wahrnehmbar macht und beim Prisma die Ultrafarben nicht auf den Gesichtssinn wirken läßt, ist experimentell nachzuweisen.

Nur den kleinen Ausschnitt seiner Zufallssinne besitzt der Mensch, und diesen winzigen Ausschnitt von ein paar armseligen Zufallssinnen nennt er seine Welt. Als Zufall erscheint es, daß bestimmte Schwingungen gerade als sichtbare, hörbare oder fühlbare Wirkungen empfunden wurden; einem relativen Zufall ist es zuzuschreiben, daß wir die makroskopischen und mikroskopischen Bewegungen der Wirklichkeitswelt gerade als Farben und Töne und nicht als Elektrizitätsgrade und Chemismen empfinden.

Wenn aber in der Wirklichkeitswelt Kräfte wirken, die niemals Sinneseindrücke bei uns hervorrufen können, so kann auch unser Denken niemals auch nur zu einem ähnlichen Bild der Wirklichkeitswelt gelangen, und unsere aus den Erinnerungen dieser Zufallssinne enstandene Sprache, durch metaphorische Eroberungen auf alles Erkennbare ausgedehnt, vermag dann niemals Anschauung der Wirklichkeit zu geben. Unser Weltbild muß als ein Ergebnis der Zufallssinne immer subjektiv bleiben, subjektiv aber auch deshalb, weil die anerkannt subjektiven Gefühlstöne der Empfindungen bei allen Assoziationen mitklingen, aus denen sich unser Denken und Sprechen zusammensetzt.

Denken und Sprechen: beides ist das Ergebnis der Zufallssinne, und wir können überdies nur denken, was unsere Zufallssprache will. Das Denken ist an das Wort als das einzige Merkzeichen aller Erinnerungen unlöslich gebunden, das Wort wird zur Ursache aller Gedankenverbindungen. Denken uns Sprechen erscheinen geradezu identisch. Für MAUTHNER ist es vielleicht das Wichtigste, diese Gleichzeitigkeit von Denken und Sprechen aufzudecken und glaubhaft zu machen. Wie es keine abstrakte Sprache geben kann, wie schließlich nur die augenblickliche Bewegung des Sprechorgans wirklich ist, so gibt es in der Wirklichkeit kein abstraktes, kein objektiv über dem Einzelgehirn schwebendes Denken, kein Denken ohne Worte.

Ein Denken über dem Sprechen kann es so wenig geben wie Ideen über die Dinge hinaus, wie eine Lebenskraft über dem Lebendigen, eine Wärme über der Wärmeempfindung, eine Hundheit über den Hunden. Die Vorstellung, daß die Sprache eine Schöpfung der Vernunft, als jünger als diese sei, ist ein eingewurzelter Aberglaube, ein Ausfluß der Ideenlehre und eines überlebten Realismus. Aber nur mißverstehende Hyperkritik konnte auf Grund der mit der Unfertigkeit von Worten und Begriffen nicht rechnenden Beobachtung, daß neue Erkenntnisse sich jedesmal an den alten Worten emporranken, das Verhältnis so umkehren, als ob die Sprache das zeitlich vorangehende und Denken das Folgende sei, daß also das Wort früher sei als der Begriff.

Der Annahme, daß Denken und Sprechen zusammenfallen, scheint freilich die Tatsache im Wege zu stehen, daß wir fast alle Empfindungen und sehr viele Wahrnehmungen mit Vorstellungen assoziieren oder Vorstellungen untereinander, so kann von einem Denken ohne Sprache nicht die Rede sein. Nur das Aufnehmen der Sinneseindrücke, die eine Sache des nach außen projizierenden intuitiven Verstandes ist, verläuft sprachlos, wo dagegen die Vernunft als vorstellend und begriffbildend tätig ist, ist Denken unmittelbar an das Wort geknüpft: wie auch das uranfängliche Sprechen nur ein Sammeln von Eindrücken und ein Einüben der Gedächtnisbahn voraussetzt, nicht aber den fertigen Begriff, der erst mit dem Wort entstand.

Mit Einwänden, die aus dem falschen Ausdeuten der außermenschlichen organischen Welt, von der Erlernung fremder Sprachen oder aus dem Gebiet des Pathologischen hergeholt sind, weiß MAUTHNER sich abzufinden: das Tier, dessen erworbenes, sprachliches Gedächtnis im Vergleich zu seinem ererbten orientierenden Gedächtnis äußerst gering ist, denkt in dieser seiner engbegrenzten Begriffssprache, das Erlernen eines fremden Idioms (Redewendung) hat, bis die Tätigkeit automatisch wird, das Umdenken von der einen in die andere Sprache zur Voraussetzung, der Taubstumme hat die bequeme Lautsprache durch eine andere ersetzt.

Ebensowenig kommt für MAUTHNER der Einwand in Betracht, daß der gleiche Gedanke sich verschiedenartig ausdrücken lasse. Daß beim Schwanken der Wortwahl am Ende das als das passendste empfundene Wort gewählt werde, lasse erkennen, daß erst dieses den nur halbbewußt vorschwebenden Gedanken treffe, ihm also erst eigentlich zum Dasein verhelfe, und ähnliches zeige die bekannte Erscheinung mangelnder Wortbereitschaft.

Andererseits wird zum Beweis der Identität von Denken und Sprechen auf die Erscheinung hingewiesen, daß dem Denken eine durch Tasten nachweisbare Artikulation im Kehlkopf parallel geht und daß bei abnehmender Energie des Denkens die Selbstbeobachtung immer noch die Innervation [Nervenimpulse - wp] der Sprechorgane spürt. Immerhin muß MAUTHNER bei der Gleichsetzung von Denken und Sprechen zugeben, daß beide Begriffe sich nicht vollständig decken, daß sie die gleiche Sache von zwei nicht ganz identischen Standpunkten aus darstellen, daß Denken als die am Faden der Sprache aufgereihte Erinnerung der engere Begriff sein muß, Sprache dagegen als Denken mit Hinzutritt der Lautzeichen den umfassenderen Begriff bildet.
LITERATUR - Richard Eduard Ottmann in Zeitschrift für den deutschen Unterricht 17. Jhg, 1. Heft, Leipzig 1902