p-4ra-3K. HaslbrunnerH. KohnH. DohrnD. BraunschweigerG. Noth    
 
ERNST DÜRR
Die Lehre von der Aufmerksamkeit
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"Das, was einen Bewußtseinsinhalt zuweilen zu einem besonders dauerhaften Zentrum unseres geistigen Lebens, zu einem besonders geeigneten Gegenstand unserer Aufmerksamkeit mache, ist eine Form des Assoziationszusammenhangs."

3. Die Bedingungen der Aufmerksamkeit
[ Fortsetzung ]

Wir gehen nun über zur Besprechung der zweiten Tatsache des Abhängigseins der Aufmerksamkeit von Bedingungen, die der Gegenstand klarem und deutlichem Erfassen entgegenbringt: Vertrautheit begünstigt die Beachtung. Daß dieser Satz richtig ist, wird zunächst niemand bestreiten. Es ist ja bekannt, daß der Fachmann mehr sieht, hört, kurz mehr beachtet, als der Laie. Daß dabei nicht eine Differenz im Haben von Empfindungen, sondern wirklich eine solche des aufmerksamen Erfassens in Betracht kommt, braucht wohl kaum erst bewiesen zu werden.

Nun kann freilich nicht immer und überall, wo der Fachmann etwas beachtet, was der Laie übersieht, nur die verschiedene Bekanntheit des beachteten Gegenstandes als Erklärungsgrund herangezogen werden. Auch dem noch nicht Dagewesenen gegenüber zeigen sich Unterschiede des aufmerksamen Erfassens, die im Folgenden bei der Besprechung des Einflusses von  Motiven  auf die Beachtung ihre Erklärung finden sollen. Man könnte infolgedessen daran denken, da nicht alle Differenzen des Verhaltens der Aufmerksamkeit beim Fachmann und beim Laien aus verschiedener Vertrautheit des Gegenstandes abgeleitet werden können,  sämtliche Unterschiede  auf die Wirkung von Motiven zurückzuführen, die bei dem einen vorhanden sind, bei dem andern aber fehlen. Aber diesem Versuch wäre entgegenzuhalten, daß er eine Tatsache unberücksichtigt läßt, nämlich die erfahrungsgemäß durch Übung herbeizuführende Veränderung des Ablaufs psychischer Prozesse. Durch Übung wird bekanntlich das organische Geschehen überhaupt in der Weise beeinflußt, daß auf gleiche Reize nach vorausgegangener Übung schnellere und stärkere Reaktionen erfolgen, als im ungeübten Zustand. Daß auch Bewußtseinsvorgänge, die sich häufiger abgespielt haben, einen rascheren Verlauf nehmen, als beim erstmaligen Auftreten, kann jedermann aus einer Vergleichung des geübten und des ungeübten Rechners ersehen. Nun wäre es von vornherein sehr unwahrscheinlich, wenn man angesichts der Tatsache, daß sich beim organischen Naturgeschehen Geschwindigkeit  und  Stärke der Reaktion des geübten Organs ändern, annehmen wollte, das psychische Geschehen im Organismus werde durch Übung  nur  hinsichtlich der  Schnelligkeit  seines Ablaufs beeinflußt. Es liegt vielmehr die Vermutung nahe, daß auch eine durch Übung herbeigeführte Intensitätsänderung organischer Prozesse wie die Amplitudenvergrößerung einer geübten Muskelzuckung ihr Analogon auf psychischem Gebiet habe. Um eine Steigerung der Intensität oder um eine Veränderung der Qualität von Bewußtseinsinhalten kann es sich dabei nach den bisher gemachten Erfahrungen allerdings nicht handeln. Dafür bietet sich uns um so ungesuchter die Annahme dar, in einer Veränderung des Bewußtheitsgrades, in einer Steigerung der Klarheit und Deutlichkeit sei das fragliche Analogon zu finden. (24)

Eine  Veränderung  des Bewußtheitsgrades durch Übung psychischer Prozesse läßt sich nun in der Tat häufig nachweisen. Nur ist es keine Steigerung, sondern eine Herabsetzung, die hier in Betracht zu kommen scheint. Man denke nur an das "Automatisch-Werden" vielgeübter Tätigkeiten. Der Klavierspieler z. B., der sich anfänglich die Bedeutung jeder Note klar und deutlich vorstellt, greift später beim Anblick der Noten ganz mechanisch die richtigen Tasten. Die mannigfachen Bewußtseinserlebnisse, die früher zwischen Sehen und Spielen eingeschaltet waren, sind unbewußt geworden.

Hier liegt nun freilich der Einwand nahe, daß bei solchem Unbewußt-Werden nicht eine  Herabsetzung  des Klarheitsgrades, sondern völliges  Ausfallen  von Bewußtseinsinhalten konstatiert werden müsse und daß ein derartiger Ausfall natürlich nichts beweisen könne für die Annahme einer Veränderung des Bewußtheitsgrades durch Übung. Dieser Einwand hat seine gute Berechtigung, wenn wir es auch dahingestellt sein lassen wollen,  ob alle  Tatsachen des Übergangs vollbewußter in reflektorische und automatische Handlungen  nur  durch Ausfall und nicht auch teilweise durch Verblassen von Bewußtseinsinhalten ihre Erklärung finden.

Was wir aber  trotzdem  oder vielleicht auch  gerade deshalb  nicht zugeben können, das ist die Verallgemeinerung, der Schluß vom "Nicht-herabgesetzt-werden" des Bewußtheitsgrades auf das "Nicht-verändert-werden" desselben durch Übung. Wir behaupten ja gerade das Gegenteil von der Annahme, wonach eine  Beeinträchtigung  der Klarheit und Deutlichkeit des Erfassens von Gegenständen durch längeres und wiederholtes Betrachten dieser Gegenstände herbeigeführt werden soll. Ein strikter Beweis für unsere These einer Steigerung des Bewußtheitsgrades durch Übung läßt sich allerdings nicht so ganz leicht erbringen. Man kann wohl darauf hinweisen, daß wir, um einen Gegenstand klarer und deutlicher wahrzunehmen, ihn länger oder öfter zu betrachten pflegen. Aber dabei handelt es sich meist um ein sukzessives Hervortretenlassen der einzelnen Teile. Es scheint sich also der Einwand nicht von der Hand weisen zu lassen, daß dabei nicht etwa das Einzelne  besser,  sondern eben nur  mehr  Einzelnes beachtet werde. Sieht man indessen genauer zu, so verliert dieser Einwand jeden Schein von Berechtigung. Denn auch das sukzessiv Erfaßte muß doch gleichzeitig, eines  neben  dem anderen festgehalten werden und in jedem Augenblick ist also viel Einzelnes besser beobachtet, wenn die Betrachtung schon häufiger stattgefunden hat oder schon länger dauert, als wenn sie seit kurzem zum erstenmal vollzogen wird. Infolgedessen tritt bei den tachistoskopischen Versuchen, bei denen zu einer Wanderung der Aufmerksamkeit, zum Wirksamwerden von Beachtungsmotiven gar keine Zeit übrig ist, der Unterschied des Verhaltens der Aufmerksamkeit einem bekannten und einem unbekannten Gegenstand gegenüber ebenso deutlich, ja noch deutlicher hervor, als bei den länger dauernden Beobachtungen des gewöhnlichen Lebens.

Aber wenn somit in der Tat das Bekannte günstigere Bedingungen für aufmerksames Erfassen darbietet als das Unbekannte, wie ist dann die Tatsache zu erklären, daß gerade das Nächstliegende, dasjenige, was uns täglich und stündlich vor Augen tritt, am häufigsten übersehen wird? Die Antwort hierauf ergibt sich ohne Schwierigkeit, wenn man berücksichtigt, daß die Bekanntheit nur  eine  der für aufmersames Erfassen günstigen Bedingungen ist. Eine andere von diesen Bedingungen, auf die sogleich näher einzugehen sein wird, ist die Bedeutsamkeit, der Reiz, den der Gegenstand auf unser Interesse ausübt. Nun gilt uns bekanntlich in der Regel das Nächstliegende, das Alltägliche nicht für das Bedeutsamste und man braucht nur anzunehmen, daß die Bedeutsamkeit eine wichtigere Bedingung für aufmerksames Erfassen ist als die Bekanntheit, so erklärt sich das häufige Übersehen mancher Erscheinungen unserer ständigen Umgebung ganz zwanglos.

Dabei muß übrigens noch ein Punkt besonders hervorgehoben werden: Wir haben versucht, die Begünstigung, welche die Beachtung eines Gegenstandes durch die Bekanntheit desselben erfährt, im Sinn eines Einflusses der Übung auf die Klahrheit und Deutlichkeit von Bewußtseinsinhalten zu interpretieren. Es wird nun kaum bestritten werden, daß die Wiederholung oder die längere Dauer  aufmerksamer  Betrachtung einen anderen Übungserfolg haben muß, als das wiederholte oder eine gewisse Zeit lang dauernde Vorhandensein  unbeachteter  Inhalte. Das letztere findet bei vielen alltäglichen Erlebnissen statt, die infolgedessen an Bedeutsamkeit beständig verlieren und an Bekanntheit nur wenig gewinnen. Besonders ungünstig für klares und deutliches Erfassen liegen die Verhältnisse da, wo eine Fülle von Eindrücken sich auf einmal dem Bewußtsein aufdrängt und wo es der Zeit überlassen bleibt, dieses Chaos unserer Erkenntnis zu erschließen. In diesem Fall wird die Bedeutsamkeit der Eindrücke in ihrer Beachtung erzwingenden Funktion von vornherein gehemmt durch die zerstreuende Vielheit und die Fortdauer oder Wiederholung unaufmerksamer Betrachtung bleibt dann erst recht erfolglos. Deshalb findet man so häufig bei Kindern, die in einer Großstadt aufgewachsen und denen nicht durch verständige Erzieher oder durch besondere Lebensumstände die "Augen geöffnet worden sind" einen armseligeren geistigen Besitz, als bei Landkindern. Aus demselben Grund ist es auch als ein großer pädagogischer Mißgriff zu bezeichnen, wenn die Wände der Kinderstube oder des Schulzimmers mit  unerklärten,  d. h. aufmerksamer Betrachtung nicht besonders zugänglich gemachten Bildern und anderen zur Erweiterung des kindlichen Seelenhorinzontes bestimmten Gegenständen überladen werden. Dagegen ist es allerdings zweckmäßig, Objekte, für welche das Interesse des Zöglings erst einmal wachgerufen worden ist, ihm in gewissen Intervallen wiederholt je einige Zeit lang darzubieten, besonders wenn noch durch eine nicht zu gleichförmige Art der Darbietung dafür gesorgt wird, daß die Bedeutsamkeit des Eindrucks erhalten bleibt oder gar gesteigert wird.

Die Bedeutsamkeit - das ist, wie gesagt, ein drittes Moment am Gegenstand der Aufmerksamkeit, wodurch er besonders geeignet erscheint, die Beachtung auf sich zu konzentrieren. Suchen wir nun etwas genauer zu bestimmen, wie sich ein bedeutsamer Bewußtseinsinhalt von einem bedeutungslosen, indifferenten, gleichgültigen, uninteressanten oder wie wir sonst sagen mögen, unterscheidet! Da können wir zunächst auf die  Gefühlswirkung  hinweise, die von gewissen Erlebnissen ausgeht, von anderen nicht. Es ist ja klar, daß eine lusterweckende Wahrnehmung, eine angenehme Erinnerung, ein erfreulicher Gedanke und eine beglückende Phantasievorstellung lieber und leichter festgehalten und bis in die kleinsten Details ausgekostet wird, als ein indifferenter Bewußtseinsinhalt.

Aber wie steht es mit einem unlustvollen Erlebnis? Ist nicht auch ein solches bedeutsamer, als andere, die weder Freude noch Unbehagen erwecken? Oder fragen wir lieber - denn die größere Bedeutsamkeit des unerfreulichen gegenüber dem gleichgültigen Erlebnis steht ja außer Zweifel -: Ist ein Bewußtseinsinhalt mit negativer ebenso wie ein solcher mit positiver Gefühlswirkung besser geeignet, Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein, als ein gänzlich indifferentes psychisches Geschehen? Die Antwort darauf scheint nicht fern zu liegen, wenn wir berücksichtigen, wie hartnäckig beispielsweise ein widerwärtiger Zahnschmerz unsere Gedanken von allem, was uns sonst interessiert, abzulenken vermag. Aber so einfach, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat, liegen die Verhältninsse hier doch keineswegs. Vor allem ist zu erwägen, daß es sicherlich nicht unsere Aufmerksamkeit ist, die den Zahnschmerz festhält. Um entscheiden zu können, ob ein unlustvolles Erlebnis besonders geeignet ist, Gegenstand unserer Aufmerksamkeit zu sein, sollten wir aber solche Fälle ins Auge fassen, bei denen uns ein Bewußtseinsinhalt nicht durch äußere Notwendigkeit aufgedrängt wird. Wie steht es also beispielsweise mit unerfreulichen Gedanken? Werden sie nicht verscheucht wie lästige Mücken? Vielfach - ja. Aber kehren sie auch nicht hartnäckig zurück wie die geflügelten zudringlichen Quälgeister? Ebenfalls ja - in der Mehrzahl der Fälle wenigstens. Man sieht, es ist gar nicht so leicht, darüber ins Reine zu kommen, wie sich ein unangenehmer Bewußtseinsinhalt als Gegenstand zu unserer Aufmerksamkeit verhält. Aber möglicherweise ergibt sich eine Lösung der hier bestehenden Schwierigkeit, wenn wir erst einmal feststellen, daß Unlustwirkung jedenfalls die Bedeutung eines Erlebnisses als  Motiv  für unsere Aufmerksamkeit erhöht. So handelt es sich bei dauerndem Zahnschmerz um ein fortwährend wirksames Beachtungsmotiv, das durch den Einfluß anderer Motive und durch die abstoßende Wirkung, welche der Gegenstand dem Versuch einer liebevollen Beschäftigung mit ihm entgegenbringt, nur vorübergehend kompensiert werden kann. Was ferner die unerfreulichen Gedanken, Erinnerungen, Phantasie-Vorstelungen anlangt, so müssen wir auch hier unterscheiden zwischen der Notwendigkeit, die das Kommen und Gehen derselben beherrscht, zwischen der Motivwirksamkeit, die sie bei ihrem Dasein ausüben und zwischen der einladenden oder abstoßenden Beschaffenheit, die sie als Gegenstände einer versuchten Beachtung erkennen lassen. Das Sich-Aufdrängen der betreffenden Bewußtseinsinhalte hat mit ihrer Unlustwirkung nichts zu tun. Sofern sie dadurch als geeignete Gegenstände der Aufmerksamkeit charakterisiert sind, darf diese Eignung nicht auf ihre Gefühlsbedeutung zurückgeführt werden. Worauf sie vielmehr tatsächlich beruth, wird im Folgenden noch zu untersuchen sein. Daß der Unlustcharakter die Motivwirksamkeit eines Erlebnisses gegenüber unserer Beachtung bedingen und steigern kann, ist zugegeben. Aber diese Motivwirksamkeit hat mit einem Geeignetsein zum Gegenstand der Beachtung nach unseren früheren Ausführungen nichts zu tun.  Durch die Unannehmlichkeit  zu einem besonders geeigneten  Gegenstand  der Aufmerksamkeit gemacht würde ein Erlebnis also bloß dann, wenn es zu genauer, eingehender Betrachtung mehr als indifferente und ähnlich wie angenehme Bewußtseinsinhalte  einladen  würde. Daß das nicht der Fall ist, dürfte wohl kaum bestritten werden. Also bedeutet die negative Gefühlswirkung keineswegs so wie die positive eine günstige Bedingung für die Beachtung am  Gegenstand  der Aufmerksamkeit.

Daß trotzdem die Aufmerksamkeit-fesselnde Beschaffenheit eines Bewußtseinsinhaltes, die wir seine Bedeutsamekeit nennen, nicht  nur  in der Annehmlichkeit desselben gesucht werden darf, haben wir bereits angedeutet. Zumindest gehört hierher noch dasjenige, was eine Erinnerung, einen Gedanken, eine Phantasie-Vorstellung, kurz einen nicht peripher erzeugten und durch äußere Notwendigkeit uns aufgedrängten Bewußtseinsinhalt zuweilen zu einem so dauerhaften Zentrum unseres gesamten geistigen Lebens macht. Das ist aber nichts anderes, als eine besondere Form des Assoziationszusammenhanges, der Verknüpfung des betreffenden Bewußtseinsinhaltes mit den "Residuen", die andere Erlebnisse bzw. ihre physiologischen Korrelate im Gehirn oder (unbestimmter ausgedrückt) im Substrat des Seelenlebens zurückgelassen haben. Auf die Frage, unter welchen Umständen eine solche Verknüpfung zustande kommt, antwortet das "Assoziationsgesetz" (25): Wenn sich psychische Vorgänge bzw. die ihnen korrespondierenden physiologischen Prozesse gleichzeitig oder so rasch nacheinander abspielen, daß der abklingende frühere Bewußtseinsinhalt mit dem beginnenden späteren zeitlich noch zusammenfällt, bzw. noch in  einer  Gesamtvorstellung erfaßt werden kann. In diesem Falle bildet sich eine Assoziation zwischen den Bewußtseinsinhalten oder vielmehr zwischen demjenigen, was als fortdauernde Nachwirkung angenommen werden muß, wenn die Bewußtseinsinhalte bereits verschwunden sind, zwischen den  Residuen  (der Bewußtseinsinhalte oder ihrer physiologischen Korrelate), wie wir uns kurz ausdrücken wollen. Wenn nun eines von diesen "Residuen" wieder erregt, gesteigert, ergänzt oder sonst wie in der Weise modifiziert wird, daß der zugehörige Bewußtseinsinhalt auftritt - vielleicht auch dann, wenn die Einwirkung auf das Residuum selbst nicht stark genug ist, um den zugehörigen Bewußtseinsinhalt über die Schwelle des Bewußtseins treten zu lassen - kurz, sobald derjenige Prozeß, durch den das eine Residuum hervorgebracht worden ist, wieder angeregt wird, gerät auch das assoziierte Residuum sozusagen in Mitschwingung. Ist diese "Miterregung" lebhaft genug, um den zugehörigen Bewußtseinsinhalt über die Schwelle des Bewußtseins zu heben und enstpricht dem "auslösenden" Prozeß ebenfalls ein Bewußtseinsinhalt, so sagen wir in der Umgangssprache: Diese Wahrnehmung, dieser Einfall, dieser Gedanke (oder worin sonst das auslösende Moment gefunden werden mag) hat mich an dieses oder jenes "erinnert", hat mich auf dieses oder jenes "gebracht" usw. In der wissenschaftlichen Terminologie nennen wir das "auslösende" Moment  Reproduktionsmotiv,  das "miterregte" Residuum  Reproduktionsgrundlage  und denjenigen Bewußtsseinsvorgang, in dem das "An-etwas-erinnert-Werden" besteht,  Reproduktion.  Wir können also sagen: die Reproduktion kommt dadurch zustande, daß vom Reproduktionsmotiv aus die Reproduktionsgrundlage erregt oder aktualisiert wird; die Reproduktion erfolgt aufgrund der Assoziation.

Wenn nun oben die Behauptung aufgestellt wurde, das, was einen Bewußtseinsinhalt zuweilen zu einem besonders dauerhaften Zentrum unseres geistigen Lebens, zu einem besonders geeigneten Gegenstand unserer Aufmerksamkeit mache, sei eine Form des Assoziationszusammenhangs, so läßt sich diese Behauptung jetzt vor allem dahin interpretieren, daß ein Reproduktionsmotiv durch die von ihm angeregten Reproduktionen zum Gegenstand unserer Beachtung qualifiziert werden kann.

Dies trifft in der Tat zu. Ganz selbstverständlich erscheint es uns da, wo der reproduzierte Bewußtseinsinhalt seinerseits bedeutende Gefühlswirkung ausübt und wo eine Übertragung dieser Bedeutung auf das Reproduktionsmotiv stattfindet. So kann uns z. B. die langweiligste Arbeit intensiv in Anspruch nehmen, wenn wir wissen, daß ein sehr erfreuliches Resultat dadurch zu gewinnen ist und wenn der Gedanke daran wach erhalten bleibt oder immer aufs neue wachgerufen wird.

Aber nicht nur durch  gefühlsstarke  Reproduktionen kann ein Reproduktionsmotiv Bedeutung für unsere Aufmerksamkeit gewinnen. Zuweilen genügt eine ansich  indifferente  Reproduktion, um durch ihren Hinzutritt zum Reproduktionsmotiv ein unsere Beachtung in Anspruch nehmendes Ganzes entstehen zu lassen. Ein Wort schon vermag oft Wunderdinge zu tun und einen zunächst bedeutungslosen Tatbestand in eine ganz andere Beleuchtung zu rücken. Dabei müssen wir übrigen wieder unterscheiden zwischen dem Fall, wo nun einfach die aus dem Reproduktionsmotiv und aus den reproduzierten Inhalten sich zusammensetzende Bewußtseinseinheit bedeutsam wird durch starke Gefühlserregung und dem Fall, wo die Gefühlswirksamkeit, die den Komponenten abgeht, auch der Resultante  nicht  zukommt. Der erstere Fall hat nichts besonders Bemerkenswertes an sich. Es ist ja bekannt, daß die Gefühlswirkung eines psychischen Ganzen nicht etwa gleich ist der Summe der Gefühlswirkungen, die von den einzelnen Teilen ausgeübt werden. Dagegen müssen wir den letzteren Fall etwas näher ins Auge fassen. Versetzen wir uns beispielsweise in die Situation eines einsamen Wanderers, den sein Weg nachts durch einen unheimlichen Wald führt und der manchen Schatten und manches Geräusch aufmerksamer prüft, als man erwarten sollte, wenn es nur von der Gefühlswirkung eines Bewußtseinsinhaltes abhinge, ob wir ihm unsere Beachtung schenken oder nicht! Von Lust- und Unlustgefühlen wird bei einem solchen Erlebnis miest wenig zu spüren sein. Wer das übrigens aufgrund besonderer Erfahrungen nicht zugeben will, der kann leicht ein anderes Beispiel finden, wo Vorsicht ohne Lust- oder Unlustgefühl, Vorsicht ohne Furcht zweifellos vorhanden ist. Es gibt eben Bewußtseinsinhalte, die wichtig sind in unserem geistigen Leben, ohne daß starke Gefühle sich an dieselben knüpfen. (26) Wir wissen es wohl, ob z. B. ein Gedanke tiefeingewurzelte Überzeugung oder oberflächlicher Einfall ist. Aber wir erkennen das  nicht  aufgrund von stärkeren oder schwächeren Gefühlen. Häufig ist es wohl nur die Bewußtseinsweise, die Eindringlichkeit, Lebhaftigkeit und Stabilität des psychischen Daseins, worin sich die Bedeutsamkeit manifestiert. Zuweilen können wir auch einen gewissen Reichtum an Erlebnissen da konstatieren, wo ein unsere Beachtung fesselnder Tatbestand vorliegt. Deshalb können wir sagen, ein Reproduktionsmotiv werde durch eine Fülle hinzuschießender Reproduktionen, auch wenn dadurch keine Steigerung der Gefühlswirkung bedingt ist, häufig zu einem bedeutsamen Gegenstand der Aufmerksamkeit.

Aber eine besondere Mannigfaltigkeit des Inhaltes muß nicht überall da vorhanden sein, wo wir Wichtigkeit ohne Gefühlswirksamkeit konstatieren. Ihre Erklärung findet die Erscheinung der Eindringlichkeit und Stabilität gewisser Erlebnisse überhaupt niemals direkt in ihrer inneren Reichhaltigkeit, sondern diese Reichhaltigkeit begünstigt nur insofern das Beharren und Beachtetwerden eines vielfach zusammengesetzten Bewußtseinsinhaltes, als einerseits assoziative Unterstützung die verschiedenen Komponenten energischer hervortreten läßt, andererseits mannigfache, von den einzelnen Komponenten nach verschiedenen Richtungen hin sich erstreckende Reproduktionstendenzen einander hemmen, wodurch sozusagen ein Abfluß der psychischen Energie nach irgendeiner Richtung unmöglich gemacht wird.

Das letztere aber kann natürlich auch bei einem inhaltsarmen Erlebnis der Fall sein, wenn es nur durch besondere Umstände in ein reiches Netz assoziativer Beziehungen eingesponnen wird. Das Aufdringliche und Geistlähmende mancher Gemeinplätze darf hier vielleicht als Beweis angeführt werden. Übrigens gibt es auch noch andere Hemmungen im Abfluß des psychischen Geschehens als die unter dem Namen der "reproduktiven Hemmung" bekannte Beeinträchtigung verschiedener gleichzeitig von einem Reproduktionsmotiv ausgehender Reproduktionstendenzen. Neben dieser kommt hier vor allem die Hemmung in Betracht, die dann zu konstatieren ist, wenn der Reproduktionsverlauf zu immer unlustvolleren Prozessen hinzuführen scheint. Jedermann kennt wohl aus eigenster Erfahrung das eigenartige Zurückschaudern, das in einem solchen Fall eintritt un in manchem psychologischen Roman wird es uns dargestellt, wie Menschen in ihren Erinnerungen immer wieder festgehalten werden bei dem Gedanken an eine schicksalsschwere Entscheidung, weil sie der Bewußtseinsverlauf von da aus zu immer unerträglicheren Bildern zu führen droht. Eine ähnliche Tatsache liegt übrigens auch da vor, wo ein Problem uns nicht losläßt, dessen Lösung uns immer und immer wieder mißlingt, sofern unser Gedankengang von der intellektuellen Unlust der stets schlimmer werdenden Wirrnis des Lösungsversuchs zur Klarheit der Fragestellung zurückgeworfen wird.

Als Gründe für die Eindringlichkeit, mit der sich ein nicht durch besondere Lustbetonung ausgezeichneter Bewußtseinsinhalt unserer Beachtung unter Umständen darbietet, haben wir also nun folgende Momente kennen gelernt:  Erstens  assoziative Unterstützung der in einer Bewußtseinseinheit verbundenen Bestandteile. Ob es auch eine assoziative Unterstützung eines Reproduktionsmotivs durch Reproduktionsgrundlagen gibt, deren Erregung die Bewußtseinsschwelle nicht überschreitet, muß dahingestellt bleiben.  Zweitens  die Hemmung des Reproduktionsverlaufs, durch den das psychische Geschehen vom betreffenden Bewußtseinsinhalt aus weiterfließen könnte. Diese Hemmung kann infolge gegenseitiger Beeinträchtigung verschiedener Reproduktionstendenzen stattfinden oder infolge der mit wachsender Unlust in der einzuschlagenden Reproduktionsrichtung eintretenden Staaung.

In demselben Sinne wirksam sind nun noch  (drittens)  die sogenannten Perserverationstendenzen, [Wiederholungstendenz - wp] wie wir sie beispielsweise erleben, wenn eine Melodie uns immer wieder durch den Kopf summt. Über die Bedingungen, unter denen besonders starke Perseverationstendenzen entstehen, läßt sich etwas Abschließendes bisher wohl kaum sagen. Aber es ist wahrscheinlich, daß neben anderen Umständen vor allem häufige in regelmäßigen Intervallen stattfindende Wiederholung eines Eindrucks und gänzlicher Mangel an assoziativer Verknüpfung, sowie eine gewisse Reproduktionsleichtigkeit, wie sie z. B. einem einfachen Gassenhauer im Gegensatz zu einer komplizierten Melodie zukommt, die Perseveration bzw. die immer erneute innere Wiederkehr begünstigt. Man denke nur an die Aufdringlichkeit, mit der etwa der Takt der Hämmer einer Schmiede in uns nachklingt, wenn wir ihn gedankenlos bei einer Wanderung durch eine monotone Gegend oder gar bei einer fast eindruckslosen nächtlichen Wanderung eine Zeitlang gehört haben.

Konstanz und Zudringlichkeit von Bewußtseinsinhalten sind nun bekanntlich nicht selten pädagogisch wünschenswerte Erscheinungen und die Nutzanwendung dieser Betrachtungen ist nicht schwer. Übrigens sind einige wichtige Forderungen, die sich bei einer solchen Nutzanwendung ergeben würden, bereits von ganz ähnlichen Gesichtspunkten aus in die pädagogische Wissenschaft eingeführt worden. Ich meine die Konsequenzen der HERBARTschen Lehre von den Apperzeptionsmasse, insbesondere die didaktische Vorschrift der "Anknüpfung an Bekanntes" bei der Darbietung eines Neuen. Was die HERBARTsche Apperzeptionslehre betrifft, so ist vielleicht ihre Verschiedenheit von der Aufmerksamkeitslehre einiger moderner Psychologen zu stark betont worden, so daß eine gewisse Übereinstimmung oder doch Vereinbarkeit derselben mit den Grundanschauungen der neuesten, auf experimenteller Grundlage erwachsenen Psychologie ganz außer Betracht blieb. Wir stehen freilich nicht mehr auf dem Standpunkt, wo die Vorstellungen als unsterbliche Wesen aufgefaßt werden, die sich im Kampf um das Bewußtsein teils unterstützen, teils gegenübertreten. Aber die assoziativen Unterstützungen psychischer Prozesse, die Hemmungen der gleichzeitig wirksamen Reproduktionstendenzen und die sich in höheren Bewußtseinsgrade äußernde "Ungehemmtheit" eines einheitlichen Bewußtseinsinhaltes, der allein das seelische Geschehen beherrscht - das sind doch lauter Dinge, die den HERBARTschen Anschauungen nicht allzu fern liegen.

Die Forderung der Anknüpfung an Bekanntes kann einen mehrfachen Sinn haben: Für bestimmte Fälle besagt sie bloß, daß an einem neu darzubietenden Lehrgegenstand die zufällig vorhandenen bereits bekannten Bestandteile herauszuheben, vielleicht in einer besonders geläufig gewordenen Form darzustellen seien. Die Vorteile dieser Art der Anknüpfung an Bekanntes hängen mit der leichteren Faßlichkeit zusammen, die wir als eine Folge der Vertrautheit des Gegenstandes der Aufmerksamkeit kennen gelernt haben.

Die in Rede stehende Forderung kann aber unter Umständen auch bedeuten, daß  außer  den Bewußtseinsinhalten, in denen der neue Lehrgegenstand erfaßt wird, noch  andere  Bewußtseinsinhalte wachgerufen werden sollen, die schon zum geistigen Besitz des Lernenden gehören und mit dem neu Hinzukommenden durch irgendwelche Beziehungen verknüpft sind. In diesem Fall kann es natürlich nicht durch den Hinweis auf die leichtere Faßlichkeit des Bekannten gegenüber dem Unbekannten erklärt werden, wenn der Komplex aus einer gewissen Menge von Unbekanntem und einem Zusatz von Bekanntem für die Aufmerksamkeit günstigere Bedingungen darbietet, als die gleiche Menge von Unbekanntem ohne den Zusatz von Bekanntem. Man sollte vielmehr meinen, daß  A + B > A,  auch wenn  B  eine noch so kleine positive Größe darstellt; d. h., daß die Ansprüche, die eine schwierige Aufgabe (das Erfassen von Unbekanntem) und eine leichte Aufgabe (das Erfassen von Bekanntem)  zusammen  an unser Bewußtsein stellen, größer sein müßten, als die Ansprüche der schwierigen Aufgabe  für sich.  Da das nun keineswegs allgemein der Fall ist, so folgt, daß die Betrachtung der Bewußtseinsvorgänge als unabhängig nebeneinander stehender Leistungen, die stets gleiche Ansprüche an unsere Bewußtseinsenergie stellen, aufgegeben werden muß. Die HERBARTsche Auffassung, die nicht nur Hemmungen, sondern auch "Hilfen" zwischen den Vorstelungen annimmt, bietet sich hier ganz ungesucht dar. Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß wir auch HERBARTs Theorie hinsichtlich des  Grundes  der Hemmungen und Hilfen für richtig halten. Mit dieser Frage haben wir uns jedoch erst später zu beschäftigen, wenn wir die verschiedenen Theorien der Aufmerksamkeit behandeln. Hier mag der Hinweis genügen, daß das, was wir assoziative Unterstützung nennen und was mit den HERBARTschen Hilfen in gewissem Sinn zusammenfällt, nicht nur in dem Fall wirksam ist, wo ein Bewußtseinsinhalt andere Inhalte, mit denen er assoziativ verknüpft ist, selbst reproduziert, sondern daß auch da von assoziativer Unterstützung gesprochen werden kann, wo zusammengehörige Bewußtseinsinhalte durch andere Umstände als durch den Reproduktionsverlauf zusammengeführt werden, wie das bei der Anknüpfung des Unterrichts an bereits Bekanntes der Fall ist.

Wenden wir uns nun, nachdem wir die verschiedenen Momente besprochen haben, durch die der  Gegenstand  unserer Aufmerksamkeit besonders leicht faßlich und eindringender Beachtung zugänglich wird, zur Betrachtung der weiteren Frage, ob das  Motiv  der Aufmerksamkeit ähnlich charakteristische Züge aufweist, an die seine Wirksamkeit geknüpft erscheint. Dabei haben wir vor allem diejenigen Fälle ins Auge zu fassen, wo das Motiv mit dem Gegenstand der Aufmerksamkeit zusammenfällt.
LITERATUR - Ernst Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig 1907