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HERMANN von HELMHOLTZ
Über Goethes
naturwissenschaftliche Arbeiten

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"Ein dergleichen Apercu, ein solches Gewahrwerden, Auffassen, Vorstellen, Begriff, Idee, wie man es nennen mag, behält immerfort, man gebärde sich, wie man will, eine esoterische Eigenschaft; im Ganzen läßt es sich aussprechen, aber nicht beweisen, im Einzelnen läßt es sich wohl vorzeigen, doch bringt man es nicht rund und fertig."

"Eine Naturerscheinung ist physikalisch erst dann vollständig erklärt, wenn man sie bis auf die letzten ihr zugrunde liegenden und in ihr wirksamen Naturkräfte zurückgeführt hat. Da wir nun die Kräfte nie an sich, sondern nur ihre Wirkungen wahrnehmen können, so müssen wir in jeder Erklärung von Naturerscheinungen das Gebiet der Sinnlichkeit verlassen und zu unwahrnehmbaren, nur durch Begriffe bestimmten Dingen übergehen. Wenn wir einen Ofen warm finden und dann bemerken, daß Feuer darin brennt, so sagen wir allerdings vermöge eines ungenauen Sprachgebrauchs, daß durch die zweite Wahrnehmung die erste erklärt werde. Im Grunde heißt das aber doch nichts anderes als: Wir sind immer gewohnt, wo Feuer brennt, auch Wärme zu finden, so auch dieses Mal im Ofen. Wir reihen also unser Faktum unter ein allgemeineres, bekannteres ein, beruhigen uns dabei und nennen dies fälschlich eine Erklärung."

"Die Sinnesempfindungen sind uns nur Symbole für die Gegenstände der Außenwelt und entsprechen diesen etwa, wie der Schriftzug oder Wortlaut dem dadurch bezeichneten Ding entspricht. Sie geben uns zwar Nachricht von den Eigentümlichkeiten der Außenwelt, aber nicht bessere, als wir einem Blinden durch Wortbeschreibungen von der Farbe geben."


GOETHE, obgleich er sich in vielen Feldern geistiger Tätigkeit versucht hatte, ist seiner hervorragendsten Begabung nach Dichter. Das Wesentliche der dichterischen wie jeder künstlerischen Tätigkeit besteht darin, das künstlerische Material zum unmittelbaren Ausdruck der Idee zu machen. Nicht als das Resultat einer Begriffsentwicklung, sondern als das der unmittelbaren geistigen Anschauung, des erregten Gefühls, dem Dichter selbst kaum bewußt, muß die Idee im vollendeten Kunstwerk daliegen und es beherrschen. Durch diese Einkleidung in die Form unmittelbarer Wirklichkeit empfängt der ideelle Gehalt des Kunstwerkes eben die ganze Lebendigkeit des unmittelbaren sinnlichen Eindrucks, verliert aber natürlich die Allgemeinheit und Verständlichkeit, welche er, in der Form des Begriffs vorgetragen, haben würde. Der Dichter, welcher in dieser besonderen Art der geistigen Tätigkeit die eigene wunderbare Kraft seiner Werke begründet fühlt, sucht dieselbe auch auf andere Gebiete zu übertragen. Die Natur sucht er nicht in anschauungslose Begriffe zu fassen, sondern er stellt sich ihr gegenüber wie einem in sich geschlossenen Kunstwerk, welches seinen geistigen Inhalt von selbst hier oder dort dem empfänglichen Beschauer offenbaren müsse. So wird ihm auf dem Lido von Venedig, beim Anblick des gesprengten Schafschädels, an dem ihm die Wirbeltheorie des Schädels aufgeht, sein alter, durch Erfahrung bestärkter Glauben wieder aufgefrischt, daß die Natur kein Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen stelle. Dasselbe geschieht bei seinem ersten Gespräch mit SCHILLER über die Metamorphose der Pflanzen. Für SCHILLER, den Kantianer, ist die Idee das ewig zu erstrebende, ewig unerreichbare und daher nie in der Wirklichkeit darzustellende Ziel, während GOETHE, als echter Dichter, in der Wirklichkeit den unmittelbaren Ausdruck der Idee zu finden meint. Er selbst gibt an, daß dadurch der Punkt, der ihn von SCHILLER trennt, auf das Strengste bezeichnet sei. Hier liegt auch seine Verwandtschaft mit SCHELLINGs und HEGELs Naturphilosophie, welche ebenfalls von der Annahme ausgeht, daß die Natur die verschiedenen Entwicklungsstufen des Begriffs unmittelbar darstelle. Daher auch die Wärme, mit der HEGEL und seine Schüler GOETHEs naturwissenschaftliche Ansichten verteidigt haben. Die bezeichnet Naturansicht bedingt bei GOETHE so auch die fortgesetze Polemik gegen zusammengesetzte Versuchsweisen. Wie das echte Kunstwerk keinen fremden Eingriff erträgt, ohne beschädigt zu werden, so wird ihm auch die Natur durch die Eingriffe des Experimentierenden in ihrer Harmonie gestört, gequält, verwirrt und sie täuscht dafür den Störenfried durch ein Zerrbild.
    Geheimnisvoll am lichten Tag,
    Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
    Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
    Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
Demgemäß spottet er oftmals, namentlich in seiner Polemik gegen NEWTON, der durch viele enge Spalten und Gläser hindurchgequälten Farbenspektra und preist die Versuche, welche man in klarem Sonnenschein unter freiem Himmel anstellen könne, nicht nur als besonders leicht und besonders ergötzlich, sondern auch als besonders beweisend.

Die dichterische Richtung geistiger Tätigkeit charakterisiert sich schon ganz entschieden in seinen morphologischen Arbeiten. Man untersuche nur, was denn eigentlich mit den Ideen geleistet ist, die die Wissenschaft von ihm empfangen hat, man wird ein höchst wunderliches Verhältnis finden. Niemand wird sich gegen die Evidenz verschließen, wenn ihm die Reihenfolge der Veränderungen vorgelegt wird, womit ein Blatt in einem Staubfaden, ein Arm in einen Flügel oder eine Flosse, ein Wirbel in ein Hinterhauptbein übergeht. Die Idee, sämtliche Blütenteile der Pflane seien umgeformte Blätter, eröffnet einen gesetzmäßigen Zusammenhang, der etwas sehr Überraschendes hat. Jetzt suche man das blattartige Organ zu definieren, sein Wesen zu bestimmen, so daß es alle die genannten Gebilde in sich begreift. Man gerät in Verlegenheit, weil alle besonderen Merkmale verschwinden und man zuletzt nichts übrig behält, als daß ein Blatt im weiteren Sinne ein seitlicher Anhang der Pflanzenachse sei. Sucht man also den Satz: "die Blütenteile sind veränderte Blätter", in der Form wissenschaftlicher Begriffsbestimmungen auszusprechen, so verwandelt er sich in den anderen: "die Blütenteile sind seitliche Anhänge der Pflanzenachse" und um das zu sehen, braucht kein GOETHE zu kommen. Ebenso hat man der Wirbeltheorie des Schädels nicht mit Unrecht vorgeworfen, sie müsse den Begriff des Wirbels so sehr erweitern, daß nicht übrig bleibe, als, ein Wirbel sei ein Knochen. Nicht kleiner ist die Verlegenheit, wenn man in klaren wissenschaftlichen Begriffen definieren soll, was es bedeute, daß dieser Teil des einen Tieres jenem des anderen entspreche. Es ist nicht der gleiche physiologische Gebrauch, denn dasselbe Knochenstück, welches bei einem Vogel zur Einlenkung des Unterkiefers dient, wird bei einem Säugetier ein winziges, in der Tiefe des Felsenbeins verborgenes Gehörknöchelchen, - es ist nicht die Gestalt, nicht die Lage, nicht die Verbindung mit anderen Teilen, welche einen konstanten Charakter seiner Identität abgegeben. Aber dennoch ist es in den meisten Fällen durch Verfolgung der Übergangsstufen möglich gewesen, mit ziemlicher Sicherheit auszumitteln, welche Teile sich entsprechen. GOETHE selbst hat dieses Verhältnis sehr richtig eingesehen; er sagt bei Gelegenheit der Wirbeltheorie des Schädels: "Ein dergleichen Apercu [geistreiche Bemerkung - wp], ein solches Gewahrwerden, Auffassen, Vorstellen, Begriff, Idee, wie man es nennen mag, behält immerfort, man gebärde sich, wie man will, eine esoterische Eigenschaft; im Ganzen läßt es sich aussprechen, aber nicht beweisen, im Einzelnen läßt es sich wohl vorzeigen, doch bringt man es nicht rund und fertig." So steht die Sache größtenteils noch jetzt. Man kann sich den Unterschied noch klarer machen, wenn man überlegt, wie die Physiologie, die Erforscherin des ursächlichen Zusammenhang der Lebensvorgänge, diese Idee des gemeinsamen Bauplanes der Tiere behandeln müßte. Sie könnte fragen: Ist etwa die Ansicht richtig, wonach während der geologischen Entwicklung der Erde sich eine Tierart aus der anderen gebildet habe und hat sich dabei die Brustflosse des Fisches allmählich in einen Arm oder Flügel verwandelt? Oder sind die verschiedenen Tierarten gleich fertig erschaffen worden und rührt ihre Ähnlichkeit daher, daß die frühesten Schritte der Entwicklung aus dem Ei bei allen Wirbeltieren nur auf eine einzige, sehr übereinstimmende Weise von der Natur ausgeführt werden können und sind die späteren Analogien des Baues durch diese ersten gemeinsamen Grundzüge der Entwicklung bedingt? Zu letzterer Ansicht möchte sich die Mehrzahl der Forscher gegenwärtig neigen (1), denn die Übereinstimmung in den früheren Zeiten der Entwicklung ist sehr auffallend. So haben selbst die jungen Säugetiere zeitweise die Anlagen zu Kiemenbögen an den Seiten des Halses, wie die Fische und es scheinen in der Tat die sich entsprechenden Teil der erwachsenen Tiere während der Entwicklung auf gleiches Weise zu entstehen, so daß man neuerdings angefangen hat, die Entwicklungsgeschichte als Kontrolle für die theoretischen Ansichten der vergleichenden Anatomie zu gebrauchen. Man sieht, daß durch die angedeuteten physiologischen Ansichten die Idee des gemeinsamen Typus ihre begriffliche Bestimmung und Bedeutung bekommen würde. GOETHE hat Großes geleistet, indem er ahnte, daß ein Gesetz vorhanden sei und die Spuren desselben scharfsichtig verolgte; aber 'welches Gesetz da sei, erkannte er nicht und suchte auch nicht danach. Das letztere lag nicht in der Richtung seiner Tätigkeit und darüber ist selbst beim jetzigen Zustand der Wissenschaft noch keine feststehende Ansicht möglich, kaum daß die Art erkannt wird, wie die Fragen zu stellen sein werden. Gern erkennen wir also an, daß GOETHE auf diesem Gebiet alles geleistet hat, was in seiner Zeit überhaupt zu leisten war. Ich sagte vorher, er stelle sich der Natur wie einem Kunstwerk gegenüber. In seinen morphologischen Studien spielt er dieselbe Rolle, wie der kunstsinnige Hörer einer Tragödie, welcher fein herausfühlt, wie in dieser alles Einzelne zusammengehört, zusammenwirkt, von einem gemeinsamen Plan beherrscht wird und sich an dieser kunstvollen Planmäßigkeit lebhaft erfreut, ohne doch die leitende Idee des Ganzen begriffsmäßig entwickeln zu können. Das letztere Geschäft bleibt der wissenschaftlichen Betrachtung des Kunstwerkes vorbehalten und jener ist vielleicht, wie GOETHE der Natur gegenüber, kein Freund solcher Zergliederung des Werks, an dem er sich freut, weil er - aber mit Unrecht - fürchtet, seine Freude könne ihm dadurch gestört werden.

Ähnlich ist GOETHEs Standpunkt in der Farbenlehre. Wir haben gesehen, daß seine Opposition gegen die physikalische Theorie bei einem Punkt anhebt, wo diese ganz vollständige und konsequente Erklärungen aus ihren einmal angenommenen Grundlagen gibt. Er kann offenbar nicht daran Anstoß genommen haben, daß die Theorie im einzelnen Fall nicht ausreiche, sondern viel mehr an den Annahmen, die sie zum Zweck der Erklärung macht und die ihm so absurd erscheinen, daß er deshalb die gegebene Erklärung als gar keine achtet. Es scheint ihm namentlich der Gedanke undenkbar gewesen zu sein, daß weißes Licht aus farbigem zusammengesetzt werden könne; er schilt schon in jener frühesten Zeit (2) auf das ekelhafte NEWTONsche Weiß der Physiker, ein Ausdruck, welcher anzudeuten scheint, daß es besonders diese Annahme gewesen sei, welche ihn in jener Erklärung beleidigte.

Auch in seiner späteren Polemik gegen NEWTON, welche erst herausgegeben wurde, nachdem seine eigene Theorie der Farben vollendet war, geht sein Streben mehr dahin zu zeigen, daß die von NEWTON angeführten Tatsachen sich auch aus seiner Ansicht erklären ließen und daß deshalb NEWTONs Ansicht nicht genügend bewiesen sei, als daß er eigentlich in dieser innere Widersprüche oder solche gegen die Tatsachen nachzuweisen suchte. Vielmehr scheint er die Evidenz seiner eigenen Ansicht für so groß zu halten, daß er sie nur vorzuführen brauche, um die NEWTONs zu vernichten. Es sind nur wenige Stellen, wo er die von NEWTON beschriebenen Versuche bestreitet. Die Wiederholung von einigen derselben (3) scheint ihm deshalb nicht geglückt zu sein, weil nicht bei allen Stellungen der dabei gebrauchten Linsen der Erfolg gleich leicht zu beobachten ist und weil ihm die geometrischen Verhältnisse unbekannt waren, durch welche sich die günstigste Stellung der Linsen bestimmt. Bei anderen Versuchen über die Ausscheidung einfachen farbigen Lichtes mit Hilfe bloßer Prismen sind GOETHEs Einwürfe nicht ganz unrichtig, insofern die Reinigung der isolierten Farben auf diesem Weg wohl schwerlich so weit getrieben werden kann, daß die Brechung in einem anderen Prisma nicht Spuren einer anderen Färbung an den Rändern noch geben sollte. Eine sol vollständige Ausscheidung des einfach farbigen Lichts läßt sich nur in sehr sorgfältig geordneten, gleichzeitig aus Prismen und Linsen bestehenden Apparaten bewirken und GOETHE ist die Besprechung gerade dieser Versuche, welche er auf einen supplementaren Teil verschoben hatte, schuldig geblieben. Wenn er auf die verwirrende Komplikatioin dieser Vorrichtungen schilt, so denke man an die mühsamen Umwege, welche der Chemiker oft nehmen muß, um gewisse einfache Körper rein darzustellen und man wird sich nicht verwundern dürfen, daß die ähnliche Aufgabe für das Licht nicht unter freiem Himmel, im Garten und mit einem einfachen Prisma in der Hand zu lösen ist. (4) GOETHE muß seiner Theorie gemäß die Möglichkeit, reines farbiges Licht abzuscheiden, gänzlich in Abrede stellen. Ob er jemals mit Apparaten experimentiert hat, welche geeignet waren, diese Aufgabe zu lösen, bleibt zweifelhaft, da eben der versprochene supplementare Teil fehlt.

Um eine Anschauung von der Leidenschaftlichkeit zu geben, mit welcher der sonst so hofmännisch gemäßigte GOETHE gegen NEWTON polemisiert, zitiere ich aus wenigen Seiten des polemischen Teils der Farbenlehre folgende Ausdrücke, mit denen er die Sätze dieses größten Denkers auf dem Gebiet der Physik und der Astronomie belegt: - "bis zum Unglaublichen unverschämt" - "barer Unsinn" - "fratzenhafte Erklärungsart" - "höchlich bewundernswert für die Schüler in der Laufbank." - "Aber ich sehe wohl, Lügen bedarfs und über die Maßen."

GOETHE bleibt auch in der Farbenlehre seiner oben erwähnten Ansicht getreu, daß die Natur ihre Geheimnisse von selbst darlegen müsse, daß sie die durchsichtige Darstellung ihres ideellen Inhalts sei. Er fordert daher für die Untersuchung physikalischer Gegenstände eine solche Anordnung der beobachteten Tatsachen, daß eine immer die andere erkläre und man so zur Einsicht in den Zusammenhang komme, ohne das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung zu verlassen. Diese Forderung hat einen sehr bestechenden Schein für sich, ist aber ihrem Wesen nach grundfalsch. Denn eine Naturerscheinung ist physikalisch erst dann vollständig erklärt, wenn man sie bis auf die letzten ihr zugrunde liegenden und in ihr wirksamen Naturkräfte zurückgeführt hat. Da wir nun die Kräfte nie an sich, sondern nur ihre Wirkungen wahrnehmen können, so müssen wir in jeder Erklärung von Naturerscheinungen das Gebiet der Sinnlichkeit verlassen und zu unwahrnehmbaren, nur durch Begriffe bestimmten Dingen übergehen. Wenn wir einen Ofen warm finden und dann bemerken, daß Feuer darin brennt, so sagen wir allerdings vermöge eines ungenauen Sprachgebrauchs, daß durch die zweite Wahrnehmung die erste erklärt werde. Im Grunde heißt das aber doch nichts anderes als: Wir sind immer gewohnt, wo Feuer brennt, auch Wärme zu finden, so auch dieses Mal im Ofen. Wir reihen also unser Faktum unter ein allgemeineres, bekannteres ein, beruhigen uns dabei und nennen dies fälschlich eine Erklärung. Die Allgemeinheit dieser Beobachtung führt offenbar noch nicht die Einsicht in die Ursachen mit sich; letztere ergibt sich erst, wenn wir ermitteln können, welche Kräfte im Feuer wirksam sind und wie die Wirkungen von ihnen abhängen.

Aber dieser Schritt ins Reich der Begriffe, welcher notwendig gemacht werden muß, wenn wir zu den Ursachen der Naturerscheinungen aufsteigen wollen, schreckt den Dichter zurück. In den Dichtwerken hat er dem geistigen Gehalt derselben die Einkleidung der unmittelbarsten sinnlichen Anschauung gegeben, ohne alle begrifflichen Zwischenglieder. Je größer hier die sinnliche Lebendigkeit der Anschauung war, desto größer war sein Ruhm. Er möchte die Natur ebenso angegriffen sehen. Der Physiker dagegen will ihn hinüberführen in eine Welt unsichtbarer Atome, Bewegungen, anziehender und abstoßender Kräfte, die in zwar gesetzmäßigem, aber kaum zu übersehendem Gewirr durcheinander arbeiten. Letzterem ist der sinnliche Eindruck keine unumstößliche Autorität, er untersucht die Berechtigung desselben, fragt, ob wirklich das ähnlich, was die Sinne für ähnlich, ob wirklich das verschieden, was sie für verschieden erklären und kommt häufig zu einer verneinenden Antwort. Das Resultat dieser Prüfung, wie es jetzt vorliegt, ist, daß die Sinnesorgane uns zwar von äußeren Einwirkungen benachrichtigen, dieselben aber in ganz veränderter Gestalt zu Bewußtsein bringen, so daß die Art und Weise der sinnlichen Wahrnehmung weniger von den Eigentümlichkeiten des wahrgenommenen Gegenstandes abhängt, als von denen des Sinnesorgans, durch welches wir die Nachricht bekommen. Alles, was uns der Sehnerv berichtet, berichtet er unter dem Bild einer Lichtempfindung, sei es nun die Strahlung der Sonne oder ein Stoß auf das Auge oder ein elektrischer Strom im Auge. Der Hörnerve verwandelt wiederum alles in Schallphänomene, der Hautnerv in Temperatur- oder Tastempfindungen. Derselbe elektrische Strom, dessen Dasein der Sehnerv als einen Lichtschein, der Geschmacksnerv als Säure berichtet, erregt im Hautnerven das Gefühl des Brennens. Denselben Sonnenstrahl, den wir Licht nennen, wenn er in das Auge fällt, nennen wir Wärme, wenn er die Haut trifft. Objektiv dagegen ist das Tageslicht, welches durch unsere Fenster eindringt und die Wärmestrahlung eines eisernen Ofens nicht mehr und nicht anders voneinander unterschieden, als es die roten und blauen Bestandteile des Lichts unter sich sind. Wie sich die roten von den blauen Strahlen, nach der Undulationstheorie [Wellentheorie - wp], durch größere Schwingungsdauer und geringere Brechbarkeit unterscheiden, so haben die dunklen Wärmestrahlen des Ofens eine größere Schwingungsdauer und eine geringere Brechbarkeit als die roten Lichtstrahlen, sind ihnen aber in jeder anderen Beziehung vollkommen ähnlich. Alle diese Strahlen, leuchtende und nicht leuchtende, wärmen, aber nur ein gewisser Teil derselben, den wir eben deshalb mit dem Namen Licht belegen, kann durch die durchsichtigen Teile unseres Auges bis zum Sehnerven dringen und eine Lichtempfindung erregen. Wir können das Verhältnis vielleicht am passendsten so bezeichnen: Die Sinnesempfindungen sind uns nur Symbole für die Gegenstände der Außenwelt und entsprechen diesen etwa, wie der Schriftzug oder Wortlaut dem dadurch bezeichneten Ding entspricht. Sie geben uns zwar Nachricht von den Eigentümlichkeiten der Außenwelt, aber nicht bessere, als wir einem Blinden durch Wortbeschreibungen von der Farbe geben.

Wir sehen, daß die Wissenschaft zu einer ganz entgegengesetzten Schätzung der Sinnlichkeit gelangt ist, als sie der Dichter in sich trug und zwar ist es NEWTONs Behauptung gewesen, Weiß sei aus allen Farben des Spektrums zusammengesetzt, welche den ersten Keim zu dieser erst später sich entwickelnden Ansicht ergab. Denn zu jener Zeit fehlten noch die galvanischen Beobachtungen, die den Weg zur Kenntnis eröffneten, welche Rolle die Eigentümlichkeit der Sinnesnerven bei den Sinnesempfindungen spielt. Weiß, welches dem Auge als der einfachste, reinste aller Farbeneindrücke erscheint, sollte aus dem unreineren Mannigfaltigen zusammengesetzt sein. Hier scheint der Dichter mit schneller Vorahnung gefühlt zu haben, daß durch die Konsequenzen dieses Satzes sein ganzes Prinzip in Frage komme und deshalb erscheint ihm diese Annahme so undenkbar, so namenlos absurd. Seine Farbenlehre müssen wir als den Versuch betrachten, die unmittelbare Wahrheit des sinnlichen Eindrucks gegen die Angriffe der Wissenschaft zu retten. Daher der Eifer, mit dem er sie auszubilden und zu verteidigen strebt, die leidenschaftliche Gereiztheit, mit der er die Gegner angreift, die überwiegende Wichtigkeit, welche er ihr vor allen seinen anderen Werken zuschreibt und die Unmöglichkeit der Überzeugung und Versöhnung.

Wenden wir uns nun zu seinen eigenen theoretischen Vorstellungen, so ergibt sich schon aus dem Vorigen, daß GOETHE, ohne seinem Prinzip untreu zu werden, keine Erklärung der Erscheinungen geben kann, welche im physikalischen Sinne eine solche wäre. Und so finden wir es wirklich. Er geht davon aus, daß die Farben stets dunkler sind als das Weiß, daß sie etwas Schattiges haben (nach der physikalischen Theorie: weil Weiß, die Summe alles farbigen Lichts, heller sein muß als jeder seiner einzelnen Teile). Direkte Mischung von Licht und Dunkel, von Weiß und Schwarz gibt Grau; die Farben müssen also durch eine andere Art der Zusammenwirkung von Licht und Schatten entstanden sein. Diese glaubt GOETHE in den Erscheinungen schwach getrübter Medien zu finden. Solche sehen in der Regel blau aus, wenn sie selbst vom Licht getroffen vor einem dunklen Grund gesehen werden, gelb dagegen, wenn man durch sie einen hellen Gegenstand sieht. So erscheint die Luft bei Tage vor dem dunklen Himmelsgrund blau und die Sonne, beim Untergang durch eine lange trübe Luftschicht gesehen, gelb oder gelbrot. Die physikalische Erklärung dieses Phänomens, das sich jedoch nicht an allen trüben Körpern, z. B. nicht an mattgeschliffenen Glasplatten zeigt, würde uns hier zu weit von unserem Weg abführen. Durch das trübe Mittel soll nach GOETHE dem Licht etwas Körperliches, Schattiges gegeben werden, wie es zum Entstehen der Farbe notwendig sei. Schon bei dieser Vorstellung gerät man in Verlegenheit, wenn man sie als eine physikalische Erklärung betrachten will. Sollen sich etwa körperliche Teile zum Licht mischen und mit ihm davonfliegen? Auf dieses sein Urphänomen sucht GOETHE alle übrigen Farbenerscheinungen zurückzuführen, namentlich die prismatischen. Er betrachtet alle durchsichtigen Körper als schwach trübe und nimmt an, daß das Prisma dem Bild, welches es dem Beobachter zeigt, von seiner Trübung etwas mitteile. Hierbei ist es wieder schwer, sich etwas Bestimmtes zu denken. GOETHE scheint gemeint zu haben, daß das Prisma nie ganz scharfe Bilder entwerfe, sondern undeutliche, verwaschene; denn in der Farbenlehre reiht er sie an die Nebenbilder an, welche parallel Glasplatten und Kristalle von Kalkspat zeigen. Verwaschen sind die Bilder des Prisma allerdings im zusammengesetzten Licht, vollkommen scharf dagegen im einfachen. Betrachte man, meint er, durch das Prisma eine helle Fläche auf dunklem Grund, so werde das Bild vom Prisma verschoben und getrübt. Der vorangehende Rand desselben werde über den dunklen Grund hinübergeschoben und erscheine als helles Trübes vor dunklem Blau, der hinterher folgende Rand der hellen Fläche werde aber vom vorgeschobenen trüben Bild des danach folgenden schwarzen Grundes überdeckt und erscheine, als ein Helles hinter einem dunklen Trüben, gelbrot. Warum der vorgeschobene Rand vor dem Grund, der nachbleibende hinter demselben erscheint und nicht umgekehrt, erklärt er nicht. Man analysiere aber diese Vorstellung weiter und mache sich den Begriff des optischen Bildes klar. Wenn ich einen hellen Gegenstand in einem Spiegel abgebildet sehe, so geschieht das deshalb, weil das Licht, welches von jenem ausgeht, vom Spiegel gerade so zurückgeworfen wird, als käme es von einem Gegenstand gleicher Art hinter dem Spiegel her, den das Auge des Beobachters demgemäß abbildet und den der Beobachter deshalb wirklich zu sehen glaubt. Jedermann weiß, daß hinter dem Spiegel nichts Wirkliches dem Bild entspricht, daß auch nicht einmal etwas vom Licht dorthin dringt; sondern daß das Spiegelbild nichts ist als der geometrische Ort, in welchem die gespiegelten Strahlen, rückwärts verlängert, sich schneiden. Deshalb erwartet auch niemand, daß das Bild hinter dem Spiegel irgendeine reelle Wirkung ausüben soll. Ebenso zeigt uns das Prisma Bilder der gesehenen Gegenstände, welche eine andere Stelle als diese Gegenstände selbst haben. Das heißt: das Licht, welches der Gegenstand nach dem Prisma sendet, wird von diesem so gebrochen, als käme es von einem seitlich liegenden Gegenstand, dem Bild, her. Dieses Bild ist nun wieder nichts Reelles, sondern es ist wiederum nur der geometrische Ort, in welchem sich, rückwärts verlängert, die Lichtstrahlen schneiden. Und doch soll nach GOETHE dieses Bild durch seine Verschiebung reelle Wirkungen hervorbringen. Das verschobene Helle soll wie ein trüber Körpter das dahinter scheinende Dunkle blaub, das verschobene Dunkle das dahinter liegende Helle rotgelb erscheinen lassen. GOETHE behandelt hier ganz eigentlich das Bild in seiner scheinbaren Örtlichkeit als Gegenstand. Das zwingt ihn zu der Annahme, der blaue Rand des hellen Feldes liege örtlich vor, der rote hinter dem mitverschobenen dunklen Bild. GOETHE bleibt hier dem sinnlichen Schein getreu und behandelt einen geometrischen Ort als körperlichen Gegenstand. Ebensowenig nimmt er daran Anstoß, Rot und Blau sich zuweilen gegenseitig zerstören zu lassen, z. B. im prismatischen blauen Rand eines roten Feldes, in anderen Fällen dagegen daraus eine schöne Purpurfarbe zusammen zu setzen, wenn sich z. B. die blauen und roten Ränder über einem schwarzen Feld begegnen. Noch wunderlicher sind die Wege, wie er sich aus den Verlegenheiten zieht, welche ihm NEWTONs zusammengesetztere Versuche bereiten. So lange man GOETHEs Erklärungen als bildliche Versinnlichungen der Vorgänge gelten läßt, kann man ihnen beistimmen, ja sie haben oft etwas sehr Anschauliches und Bezeichnendes; als physikalische Erklärungen dagegen würden sie sinnlos sein.

Daß der theoretische Teil der GOETHEschen Farbenlehre keine Physik ist, wird demnach jedem einleuchten und man kann auch einsehen, daß der Dichter eine ganz andere Betrachtungsweise, als die physikalische, in die Naturforschung einführen wollte und wie er dazu kam. In der Dichtung kommt es ihm nur auf den "schönen Schein" an, der das Ideale zur Anschauung bringt; wie dieser Schein zustande kommt, ist gleichgültig. Auch die Natur ist dem Dichter sinnbildlicher Ausdruck des Geistigen. Die Physik sucht dagegen die Hebel, Stricke und Rollen zu entdecken, welche, hinter den Kulissen arbeitend, diese regieren und der Anblick des Mechanismus zerstört freilich den schönen Schein. Deshalb möchte der Dichter gern die Stricke und Rollen hinwegleugnen, sie für die Ausgeburten pedantischer Köpfe erklären und die Sache so darstellen, als veränderten die Kulissen sich selbst oder als würden sie durch die Idee des Kunstwerkes regiert. Auch liegt es in GOETHEs ganzer Richtung, daß gerade er unter allen Dichtern gegen die Physik polemisch auftreten mußte. Andere Dichter, je nach der Eigentümlichkeit ihres Talentes, achten entweder in der leidenschaftlichen Macht ihrer Begeisterung nicht auf das störende Materielle oder sie erfreuen sich daran, wie auch durch die widerstrebende Materie der Geist sich Wege bahnt. GOETHE, nie durch eine subjektive Erregung über die umgebende Wirklichkeit geblendet, kann nur da behaglich verweilen, wo er die Wirklichkeit selbst vollständig poetisch gestempelt hat. Darin liegt die eigentümliche Schönheit seiner Dichtungen und darin liegt auch gleichzeitig der Grund, warum er gegen den Mechanismus, der ihn jeden Augenblick in seinem poetischen Behagen zu stören droht, kämpfend auftritt und den Feind in seinem eigenen Lager anzugreifen sucht.

Wir können aber den Mechanismus der Materie nicht dadurch besiegen, daß wir ihn wegleugnen, sondern nur dadurch, daß wir ihn den Zwecken des sittlichen Geistes unterwerfen. Wir müssen seine Hebel und Stricke kennen lernen - wenn es auch die dichterische Naturbetrachtung stören sollte - um sie nach unserem eigenen Willen regieren zu können; darin liegt die große Bedeutung der physikalischen Forschung für die Kultur des Menschengeschlechts und ihre volle Berechtigung gegründet.

Aus dem Dargestellten wird es klar sein, daß GOETHE allerdings in seinen verschiedenen naturwissenschaftlichen Arbeiten die gleiche Richtung geistiger Tätigkeit verfolgt hat, daß aber die Aufgaben sehr entgegengesetzter Art waren. Dieselbe Eigentümlichkeit, welche ihn auf dem einen Feld zu glänzendem Ruhm emportrug, bedingte sein Scheitern auf dem anderen. In dieser Einsicht wird mancher Verehrer des großen Dichters vielleicht geneigter werden, den Verdacht, den er gegen die Physiker hegt, schwinden zu lassen, als habe ihr verstockter Zunftstolz sie für die Inspirationen des Genius blind gemacht.




Nachschrift

Hier ist zu konstatieren, daß in dem seit der ersten Abfassung dieses Aufsatzes verflossenen Vierteljahrhundert die Gedankenkeime, welche GOETHE auf dem Gebiet der Naturwissenschaften ausgesät hat, zu voller und zum Teil reicher Entwicklung gelangt sind. Unverkennbar stützt sich DARWINs Theorie von der Umbildung der organischen Formen vorzugsweise auf dieselben Analogien und Homologien im Bau der Tiere und Pflanzen, welche der Dichter, als der erste Entdecker, zunächst nur in der Form ahnender Anschauung, seinen ungläubigen Zeitgenossen darzulegen versucht hatte. DARWINs Verdienst ist es, daß er mit großem Scharfsinn und aufmerksamer Beobachtung den ursächlichen Zusammenhang, dessen Wirkungen diese Übereinstimmungen im Typus der verschiedenartigsten Organismen sind oder doch sein könnten, aufgespürt und so die dichterische Ahnung zur Reife des klaren Begriffs entwickelt hat. Ich brauche nicht hervorzuheben, welche Umwälzung in der ganzen Auffassung der Lebenserscheinungen diese Erkenntnisse hervorgerufen haben.

Aber auch den Ideen, welche sich GOETHE gebildet hatte über die Wege, die die Naturforschung einschlagen und die Ziele denen sie nachstreben müsse, ist man in naturwissenschaftlichen Kreisen unverkennbar näher gekommen.

In dieser Beziehung möchte ich auf meine Rede zum Gedächtnis von GUSTAV MAGNUS hinweisen. Was GOETHE suchte war das Gesetzliche in den Phänomenen; das war ihm die Hauptsache, welche er sich nicht durch metaphysische Gedankengebilde verwirren lassen wollte. Wenn die Naturforscher ihrerseits nur dazu gelangen, die Kraft als das Gesetz aufzufassen, das von aller Zufälligkeit der Erscheinungen gereinigt und in seiner Herrschaft über die Wirklichkeit, als objektiv gültig anerkannt ist, so besteht über die letzten Ziele wohl kaum noch eine erhebliche Divergenz der Meinungen. Den entschiedensten Ausdruck hat diese Auffassung in KIRCHHOFFs Vorlesungen über mathematische Physik empfangen, wo er die Mechanik geradezu unter die beschreibenden Naturwissenschaften einreiht. GOETHEs Versuch, seine Anschauungen am Beispiel der Farbenlehre praktisch durchzuführen, können wir freilich nicht als gelungen betrachten, aber das Gewicht, was er selbst auf diese Richtung seiner Arbeiten legte, wird verständlich. Er sah auch da ein hohes Ziel vor sich, zu dem er uns führen wollte; sein Versuch, einen Anfang des Weges zu entdecken, war jedoch nicht glücklich und leitete ihn leider in unentwirrbares Gestrüpp.
LITERATUR - Hermann von Helmholtz, Über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten - Vortrag gehalten zu Königsberg 1853, Braunschweig 1896
    Anmerkungen
    1) Dies ist vor DARWINs Buch über den Ursprung der Arten geschrieben.
    2) Konfession am Schluß der Geschichte der Farbenlehre.
    3) Polemischer Teil, § 47 und Seite 169
    4) Ich erlaube mir hier noch zu bemerken, daß ich die Unzerlegbarkeit und Unveränderlichkeit des einfachen farbigen Lichts, diese beiden Grundlagen von NEWTONs Theorie, nicht bloß vom Hörensagen, sondern durch eigenen Augenschein kenne, indem ich in einer meiner eigenen Untersuchungen (Über D. BREWSTERs neue Analyse des Sonnenlichts in Poggendorfs Annalen, Bd. 86, Seite 501 gezwungen war, die Reinigung des farbigen Lichtes bis zur letzten erreichbaren Vollendung zu treiben.