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HERMANN J. CLOEREN
Sprachphilosophie im 19. Jahrhundert
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"Die Sprache verführt dazu, eine Substanz anzunehmen, die den existierenden Substantiven entspreche."

GERBER stellt die Metaphysik auf die Stufe von mythologischen Allegorien, die er selber für die Produkte einer kranken Sprache ansieht. GERBER folgt hierin MÜLLER und HERBERT SPENCER. Diese Krankheit der Sprache affiziert die spekulativen Philosophen in einem so hohen Grade, daß HEGEL und die Hegelianer mit den Insassen eines Irrenhauses verglichen werden. Da Erkenntnis immer sprachlich vermittelt und damit relativ ist, verbietet sich jeder absolute Sprachgebrauch wie etwa der von 'Nichts' als sinnlos.

Die Interdependenz von Denken und Sprechen sind synchrone Elemente. Gleichwohl weiß GERBER, von BACONs Idolenlehre beeinflußt, um die negative Wirkung, die die Sprache auf das Erkennen ausüben kann: 'Usus tyrannus'. In der Politik, ebenso wie in der Religion und der Philosophie, kann deren Sprachgebrauch der verschiedenen Parteien, Kirchen oder Schulen zu heftigen Kämpfen führen, die nicht immer nur leere Wortstreite bleiben, sondern oft zu blutigen Kämpfen führen. Sprachkritik ist nötig, um hier zu befreien und den Frieden herzustellen.

GERBER steht damit im Zusammenhang von Theorien, die sich von REINHOLD über GRUPPE weiter bis zu MAUTHNER, zum logischen Empirismus und zur analytischen Philosophie im 20. Jahrhundert verfolgen lassen.

Sprachkritisches Denken zeigt aber auch, daß es nicht die Sprache schlechthin gibt, sondern daß es sehr verschiedene Sprachen gibt wie eine Geschäftssprache, eine Sprache der Wissenschaften, eine Sprache der Höflichkeit und eine Sprache des Rechts. Das Kriterium dieser Sprachen ist ihre Effizienz. Das heißt, daß diese Sprachen nicht notwendigerweise etwas aussagen, sondern etwas leisten, d.h. im heutigen Sprachgebrauch performativ (mit Äußerung beschriebene Handlung) sind.

Die Effizienz der sprachlichen Kommunikation beruht nicht, wie etwa die formalen Analytiker anstreben, auf präzise definierten Begriffen und Wörtern. In seiner BACON, LICHTENBERG und GRUPPE verwandten anti-definitorischen Haltung weist GERBER vielmehr das Postulat nach solcher Präzision und Eindeutigkeit ab. Die phänomenologische Beschreibung des aktuellen Sprachgebrauchs deutet nämlich auf ein relativ präzises Verständnis udn auf überlappende Bedeutungsgebiete von Wörtern und Begriffen.

Hierin ist GERBER ein Vorläufer des späten WITTGENSTEIN. GERBER betont immer wieder, wie vor ihm besonders auch GRUPPE, die grundsätzliche Bedeutung, die Kontext und Sprechsituation im Zusammenhang mit der kulturellen Tradition der Sprecher für die Konstitution von sinnvollen Sätzen und erfolgreicher Kommunikation haben. Mit solchen Überlegungen steht GERBER im Lager der nicht-formalen Analytiker, die hier von den formalen Analytikern über FREGE zu RUSSELL und CARNAP zu unterscheiden sind.


Die Wissenschaft vom Denken
Innerhalb der hier besprochenen Tradition verlagert sich das sprachphilosophische Interesse von der Erkenntnistheorie mehr zur Sprachwissenschaft und Sprachpsychologie. Die Theorie MÜLLERs, der in Oxford lehrte, charakterisiert die Verbindung von Sprachwissenschaft und sprachphilosophischem Interesse in besonderer Weise. In der Sprachwissenschaft sieht er die Basis für eine Wissenschaft vom Denken, insofern sich die entwicklungsgeschichtlichen Aspekte von Denken und Sprechen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit gegenseitig erhellen.

In Anlehnung an BACONs Warnung vor der Macht der Sprache über das Denken spricht MÜLLER vom unwiderstehlichen Charme der Sprache, demzufolge 'nomina' zu 'numina' werden. Demgegenüber wendet er Sprachanalyse an, um metaphysische Substanzen zu entlarven. Seine Analyse von 'Vernunft' und 'Gedächtnis', die Träger der Aktivitäten des Denkens oder Erinnerns wären. Eine gewisse Kontinuität dieser Aktivitäten genügt, sie mit den zusammenfassenden und abkürzenden Ausdrücken 'Vernunft' und 'Gedächtnis' zu benennen. Die Sprache verführt dazu, eine Substanz anzunehmen, die den existierenden Substantiven entspreche. Es gilt jedoch, diese irreführenden metaphysischen /mythologischen Begriffe durch Ausdrücke zu ersetzen, die wir heute im Anschluß an GILBERT RYLE 'dispositional terms nennen. In der empiristischen Destruktion metaphysischer Substanzen steht MÜLLER in besonderer gedanklicher Verbindung mit HUME und LICHTENBERG und später mit ERNST MACH, RUSSELL, MAUTHNER, RYLE und AUSTIN, die alle zwar Denktätigkeiten betonen, aber ein dahinterstehendes metaphysisches Subjekt als Träger solcher Akte für überflüssig erklären.

MÜLLER betrachtet solche metaphysischen Entitäten als mythologisch und als eine Krankheit der Sprache. Gleichwohl sieht er das mythologische Denkstadium in der intellektuellen Entwicklung der Menschheit als unvermeidlich an. Obwohl er mit der Annahme solcher Stadien, die schließlich zu wissenschaftlichem Denken führen, in die Nähe AUGUSTE COMTEs rückt, lehnt MÜLLER Positivismus ebenso wie Materialismus und Idealismus ab und nimmt eine Position ein, die die Philosophie als eine analytische Tätigkeit begreift.

Die Aufgabe dieser analytischen Tätigkeit ist, einen gesunden Sprachgebrauch herbeizuführen. Die Durchführung von Sprachanalyse beendet in MÜLLERs Sicht nicht nur mythologisches Denken, von dem sie befreit, sie übernimmt auch die Aufgabe der Erkenntnistheorie und wird in dieser Funktion zur 'philosophia prima' und 'ultima philosophia'. Am Ende dieser analytischen Tätigkeit steht das Ende der Philosophie selber, wenn dieses auch nicht in der nahen Zukunft zu erwarten ist.

Der Grund, weshalb Sprachanalyse Erkenntnistheorie sein kann, liegt in der Interdependenz und letztlich der Identität von Denken und Sprechen, die die Griechen mit dem Ausdruck 'logos' bezeichneten. MÜLLER betont, daß seine 'Science of Thought' auf seiner 'Science of Language' basiere. Intellekt, Geist, Vernunft haben keine absolute, selbständige Existenz, sie existieren nur in sprachlicher Manifestation, in speziellen sprachlichen Testimonia.

Da Denken und Sprechen interdependent (gegenseitig abhängig) sind, ist ein methodischer Zugang zum Denken durch eine Analyse der Sprache möglich, deren historische Manifestationen sich empirisch studieren lassen. Die wahre Geschichte des menschlichen Geistes ist deshalb die Sprachgeschichte.

Sprache bleibt ein historisches Apriori für den Menschen. Es gibt keinen sprachfreien oder sprachunabhängigen Standpunkt für das Erkennen, das damit wesentlich relativ bleibt. Wir bleiben Sklaven der Sprache. Die gegenseitige Abhängigkeit von Denken und Sprechen verbietet jeden absoluten Gebrauch von Worten und Begriffen und schließt damit die spekulative Philosophie und Metaphysik aus. Nicht einmal Sprachanalyse kann darum ein für allemal völlige Heilung bringen, sie muß vielmehr eine lebenslange, therapeuthische Tätigkeit bleiben: 'aegri mortales' (schmerzliche Vergänglichkeit).

MÜLLER rückt in seiner Sprachphilosophie scharf von der Metaphysik ab, deren Probleme für ihn bloße Scheinprobleme sind. Doch führt ihn sein erkenntnistheoretisches Interesse von der Sprachpsychologie zur Sprachwissenschaft hin. Für ihn ist die Frage nicht, was der Geist oder das Ich sind, sondern was man geistige und rationale Akte oder Ereignisse nennen kann. Anstatt über metaphysische Substanzen zu sprechen, beschreibt Müller die Funktion von Ausdrücken, die heute 'dispositional terms' genannt werden.


Die monistische Sprachtheorie
Die monistische Sprachtheorie zeigt besonderes sprachpsychologisches Interesse. Wie sehr darin sprachkritisches und monistisches Denken historisch orientiert ist, geht aus NOIREs Bemerkung hervor, nach der die Wissenschaften erst dann wirklich wissenschaftlich geworden sind, als sie sich von Spekulation und apriorischem Denken entfernt haben und historisch geworden sind.

NOIRE meint damit, daß die Wissenschaften begonnen haben, ihre Aufmerksamkeit auf die entwicklungsgeschichtlichen Aspekte und den Prozeßcharakter ihrer Gegenstände zu richten. Der erfolglosen spekulativen Philosophie stellt er als Beispiele für erfolgreiche Wissenschaften die Naturwissenschaften, die Sprachwissenschaften, Jurisprudenz, Ökonomie, Philologie, Archäologie und Psychologie gegenüber. In Übereinstimmung mit MÜLLER sieht er voraus, daß die Philosophie der Zukunft Sprachphilosophie sein wird.

NOIRÉ sieht Sprache und Denken als untrennbar, spricht von alternierenden Wirkungen und lehnt die Annahme der Unabhängigkeit des Denkens vom Sprechen als einen weit verbreiteten Irrtum ab. Die Interdependenztheorie von Denken und Sprechen steht im erklärten Widerspruch zu instrumentalistischen Sprachauffassungen, die Denken für unabhängig von der Sprache erklären und Sprache als bloßes Instrument betrachten, zuvor Erkanntes im Gedächtnis zu speichern, auszudrücken und anderen mitzuteilen.

In dieser kritischen Stellung erblickt NOIRÉ, wie andere Denkenr in dieser frühen sprachanalytischen Tradition, eine Revolution in der Erkenntnistheorie. Da Sprache und Denken wesentlich aufeinander bezogen sind, sind sie beide wesentlich relativ. Damit kann es keine absolut sichere Erkenntnis geben und jeder absolute Wortgebrauch ist illegitim. In scharfen Angriffen wendet er sich gegen die Abstraktionsdichtung und den sinnlosen Sprachgebrauch der idealistischen Philosophen, den BAADER-SCHELLING Unsinn und den spekulativen Schwindel, der mit Ausdrücken wie 'reines Sein', und 'das' Absolute betrieben wird.

In NOIREsSicht führen die spekulativen Philosophen einen mystischen Eiertanz auf. HEGELs Philosophie ist ihm voll von Hirngespinsten und die Absurditäten der Hegelianer hält er für denselben Unsinn wie den, den die Insassen eines Irrenhauses produzieren. In Übereinstimmung mit anderen hier behandelten Denkern wirft NOIRE den spekulativen Philosophen insbesondere vor, daß sie keine Aufmerksamkeit auf die Begriffsbildung richteten, Worte und Begriffe als vorhanden und statisch verstanden und somit darüber hinwegsahen, welche Rolle die Sprache für das Denken und die Begriffsbildung spielt uns wie sie eine verführerische Gewalt hat, die zu Scheinproblemen führen kann.

Für NOIRE gibt es kein absolutes Erkenntnisvermögen, das Sinneseindrücke in Gedanken umformen und dann sprachlich zum Ausdruck bringen könnte. Die Sprache ist bereits beim Erkenntnisprozeß beteiligt. NOIRE knüpft damit, wie andere deutsche Sprachphilosophen in dieser Tradition, an BACON an, wenn er auf den Hintergrundcharakter der Sprache aufmerksam macht. Seine Sicht von der Relation von Denken und Sprache sieht er am kürzesten durch das griechische 'logos' ausgedrückt.

NOIRE würdigt SCHOPENHAUERs Angriff auf die Illusion, daß die Erkenntnis Priorität vor dem Willen besitze, lehnt aber die metaphysischen Aspekte in SCHOPENHAUERs Theorie des Willens ab. NOIRE, der klare Züge analytischen Denkens aufweist, ist sichtlich beeinflußt von monistischen Gedanken, die auf ihn wie auf andere Denker, die die Dualität von Denken und Sprechen hinterfragen wollen, eine starke Anziehung ausüben. Das zeigt sich etwa darin, wie er mit dem Zirkelproblem umgeht, das mit der Annahme der Interdependenz von Denken und Sprechen auftritt. Ein Ausbrechen aus dem Zirkel - Sprache, darum Vernunft; Vernunft, darum Sprache - ist nur im Rückgang auf etwas möglich, das beiden vorausgeht. Aus diesem Grunde lehnt NOIRE es ab, im Streit darüber, ob die Sprache aus der Vernunft oder, wie GEIGER lehrte, die Vernunft aus der Sprache entstanden sei, Position zu beziehen. Er betrachtet diese Fragestellung selbst als falsch gestellt und müßig.
LITERATUR - Dascal/Gerhardus/Lorenz/Meggle (Hrsg): Sprachphilosophie - ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin/New York 1992