tb-2Gegenstandsart und IdentitätÜberwindung der Metaphysik    
 
HANS ZEISEL
Erinnerungen an Rudolf Carnap

Man soll den Wortsalat nehmen wie er ist.

Meine Damen und Herren!

Ich bin in einer etwas schwierigen Lage, ungefähr wie jemand, der auf einem Mathematikerkongress spricht und zur Not zwei und zwei addieren kann.

Ich habe von Anfang an dem Wiener Kreis nur an der Peripherie zugehört, und obgleich ich HERBERT FEIGL schon vor seiner Tätigkeit im Wiener Kreis kannte, da er ein entfernter Verwandter und Freund war, und auch CARNAP ein Freund wurde, bin ich nicht in der Lage, den Feinheiten der analytischen Theorie zu folgen. Daher habe ich mich entschlossen, Ihnen zu erzählen, welchen Einfluß CARNAP und der Wiener Kreis auf mich gehabt haben, d.h. auf meine Arbeit und meine Vorzüge. Das ist vielleicht deshalb sinnvoll, weil ja das die Art ist, wie sich große Theorien im günstigen Fall verbreiten.

Daher möchte ich den Wiener Kreis besprechen, so wie er war, wie er am Anfang war. Wie er in diesem kühnen Buch von ALFRED AYER beschrieben wurde, das sicher mvoller Fehler, aber ein hinreißendes Buch ist und in Wirklichkeit die wesentlichen Teile der analytischen Philosophie darstellt. Und zwar die Teile, die mir im Gedächtnis geblieben sind und die meine Arbeit berührt haben. Ich will nur über zwei Themen sprechen, beide eingeleitet durch CARNAPs sehr glückliche Formulierungen.

Das eine ist das Problem der Werturteile gegen Tatsachenurteile - ich bitte um Nachsicht, mein Deutsch ist nicht mehr so flüssig - und das zweite ist die Frage der metaphysischen Philosophie.

Zum ersten will ich Ihnen erzählen, daß CARNAP einmal so nebenbei gesagt hat, für Werturteile kann man kämpfen, man kann sogar sterben für sie, aber man kann nicht darüber reden. Wenn man das mit dem Schluß des  Tractatus logico-philosophicus  vergleicht, so wäre das seine Position.

Zur zweiten Frage, betreffend die metaphysische Philosophie: Ich habe [CARNAP] einmal gefragt, aber es gibt doch Wahrheiten, die in der Kunst und in der Poesie auftauchen? Da sagte er, das seien aber andere Wahrheiten, und um sie zu unterscheiden von denen, für die die Kriterien "wahr" und "falsch" sind, wäre es von Vorteil, wenn man sie singen würde. Später hat dann jemand gesagt, daß es [sehr wohl] die Musik von MOZART und die Poesie von GOETHE gebe. Sagt er: "Ja, ja, aber die Metaphysiker, die metaphysischen Philosophen, die sind Musikanten, ohne musikalisches Talent, sodaß es also nicht einmal dafür steht, sie zu lesen".

Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel geben. Ich habe mich seit meiner österreichischen Zeit immer für die Todesstrafe interessiert, d.h. negativ interessiert, und mein Gedächtnis reicht noch zurück, als an einem der letzten Tage des Ersten Weltkrieges die Matrosen in Cattaro erschossen wurden und dann später in den Bürgerkriegsjahren Freunde gehängt wurden. Kurzum, ich habe mich weiterhin dafür interessiert. Ich habe einmal eine Untersuchung mit dem jungen GALLUP, dem Sohn von GEORGE GALLUP gemacht, nämlich darüber, was denn in Wirklichkeit die Leute über die Todesstrafe denken. Nicht nur die Standardfrage: Sind Sie für die Todesstrafe?

Er hat nämlich jedes Jahr dieselbe Frage gestellt. Und im Jahre 1960 war noch eine Majorität der amerikanischen Bevölkerung gegen die Todesstrafe. Im letzten Jahr waren es 75%, die für die Todesstrafe sind. Und wir sind ja auch das einzige westliche Land, das die Todesstrafe nicht nur hat, sondern auch praktiziert. In alle europäischen Ländern ist sie abgeschafft, in Südamerika hat sie in Wirklichkeit nie bestanden, im British Commonwealth ist sie abgeschafft, usw.

Die Untersuchung hat zunächst herausfinden wollen, in welchem Ausmaß man über die Todesstrafe empirisch argumentieren kann, d.h. pragmatisch. Man kann ja über Werturteil nicht nur fragen, ob sie wahr oder falsch sind, sondern was sie bewirken; und da konnte man feststellen, daß ungefähr 20% für die Todesstrafe sind, weil sie glauben, daß die Todesstrafe ein Abschreckungsmittel ist und daher Verbrechen [Mörder] reduziert.

Und dann gibt es noch Leute, die pragmatisch argumentieren, indem sie sagen, wenn man die nicht umbringt, werden sie früher oder später auf die Straße gehen und dann wieder morden. Aber ungefähr zwei Drittel der Leute sind für die Todesstrafe, weil sie für die Todesstrafe sind. Und wenn man die Geschichte ein bißchen untersucht, dann findet man etwas recht Seltsames heraus, nämlich, daß einer der größten und menschlichsten Philosophen, KANT, für die Todesstrafe war und das sehr sorgfältig argumentiert hat.

Er hat nämlich gesagt: Wenn eine Gemeinschaft im Begriff ist, sich aufzulösen, sodaß es keine pragmatischen Überlegungen für die Zukunft gibt und man einen Mann hat, der zum Tode verurteilt wurde, muß es das letzte was diese Gemeinschaft tut, sein, den Mann hinzurichten. Weil es das moralische Gesetz erfordert.

Ich habe mich dann gefragt, also nehmen wir an, man hätte JESUS CHRISTUS oder MAHATMA GHANDI interviewt und der hätte gesagt, daß Töten, kaltblütiges Töten, eine Sünde sei; und die Frage ist, was können sich denn diese zwei Leute sagen, worüber könnten sie reden? Und die Antwort ist: Nichts. Das heißt, das Problem von Wertbeziehungen hat eine sehr konkrete Folge, nämlich, daß die Debatten darüber Wortgefechte sind.

Wir haben jetzt ein anderes Beispiel in Amerika. Sie wissen ja, daß dor die Freechoice, also die Leute, die für das Recht zur Abtreibung sind, mit der Opposition wirklich Handgemenge führen. Das Interessante ist, es wird dauern geredet, und natürlich vom analytischen Standpunkt lauter Unsinn, denn die Tatsachen sind ja völlig klar für beide, es gibt ja keine Geheimnis darüber, wann Empfängnis beginnt und was dann aus dem Fötus entsteht, sondern unter dem Geheimnis, unter dem Deckmantel der Sprache werden feindliche Gespräche geführt.

Ich will Ihnen nur sagen, daß die Position CARNAPs und des Wiener Kreises die große Sensation in Wien war, etwa die Einführungsvorlesung in die Philosophie von CARNAP. Die hat er begonnen mit der Bemerkung,
    "Ich bin nicht einer von den Philosophen, die Ihnen sagen können, was gut und schön ist, das wissen Sie genaus so gut wie ich; ich kann Ihnen nur sagen was Sie meinen, wenn Sie irgendwelche Sachen sagen."

    Wissen Sie, was das Resultat davon war? Ich war im Jahre 1968 in Wien beim 600. Jubiläum der Universität und habe zufällig die offizielle Universitätszeitung durchgeblättert. Und darin stand:

    "Nach der Ermordung Professor SCHLICKs wurde sein Lehrstuhl nicht mehr besetzt, weil nach Ansicht der Universität eine Philosophie, die nicht in Moral gegründet ist, keinen Platz an der Universität hat."
Das muß man sich vergegenwärtigen. Da ist also eine der ein, zwei oder drei Sachen, die von Wien in die Welt gegangen sind, und die Universität selber schreibt einen solchen Unsinn dazu.

Nun muß ich aber zur Entschuldigung der Wiener sagen, daß sich noch zwei ähnliche Ereignisse abgespielt haben. [...] Dort fragten Studenten CARNAP: "Ja, meinen Sie wirklich, daß Moral etwas ist, was jeder für sich entscheiden muß?", und da hat er gesagt: "Ja." Darauf waren sie sehr wütend und haben gesagt: "Also, das heißt, wenn Sie wollten, könnten Sie morden und das wäre moralisch?", und darauf hat er geantwortet: "Ja, in meinem Sinn schon, aber glücklicherweise habe ich keine Lust zu morden."

Und in Chicago kam es zu folgendem Zwischenfall. CARNAP sagte in irgendeinem Zusammenhang: zu sagen, "murder is evil" ist falsch, weil das in der Syntax eine Aussage ist, wahr oder falsch. In Wirklichkeit meint man, [murder, ist the ... one shouldn't do that ...] Da wurde auch behauptet, CARNAP wäre ein unmoralischer Mensch, das heißt, das populäre Verständnis dieser Wertposition hat diese Folgen gehabt.

Nun, lassen Sie mich kurz über die Metaphysik sprechen. Ich bin ja kein professioneller Philologe, aber ich habe in meiner Jugend als guter Intellektueller in der Sozialdemokratischen Bewegung Wiens MARX gelesen und ich habe nach Jura Nationalökonomie studiert und meine Dissertation über "Kritik der Marxschen Wertlehre" geschrieben. Ich habe also wirklich viel MARX studiert. Nun hieß es doch immer, MARX komme in Wirklichkeit von HEGEL her, also habe ich HEGEL gelesen. Nach der dritten Seite habe ich ihn weggelegt.

Lassen Sie mich nur eines hinzufügen: Wenn man jetzt in Deutschland fragen würde "Wer ist der größte deutsche Philosoph?", werden immer noch die meisten Leute sagen, HEGEL. Nun, das ist komischerweise unterstützt worden dadurch, daß HEGEL auch auf der linken Seite der Gesellschaft, die von MARX beeinflußt ist, einen guten Ruf hat. Das heißt, HEGEL galt als großer Philosoph. Wenn man aber genau hinsieht, hat MARX gar nicht sehr viel von HEGEL übernommen, nur dieses Modell [...] von These, Antithese und Synthese. Also wenn das das Ganze ist, was er von HEGEL übernommen hat so ist das nicht sehr viel.

Ich werde Ihnen jetzt nur etwas vorlesen. Dem bin ich unlängst auf die Spur gekommen, und vielleicht kennen es manche von Ihnen schon. Es ist HEGELs "Definition der Elektrizität":
    "Die Elektrizität ist der reine Zweck der Gestalt, der sich von ihr befreit, die Gestalt, die ihre Gleichgültigkeit aufzuheben anfängt, denn die Elektrizität ist das unmittelbare Hervorheben oder das noch von der Gestalt Herkommende noch durch sie bedingte Dasein, aber noch nicht die Auflösung die Gestalt selbst, sondern der oberflächliche Prozeß, worin die Differenzen die Gestalt verlassen, aber sie zu ihren Bedingungen haben und noch nicht zu ihnen selbständig sind."
Das ist 1805, nachdem es also schon eine Menge Elektrizitätswissenschaftler gab, z.B. COLOMB.

Ich wollte damit nur zeigen, daß das die Sprache ist, die man auch bei HEIDEGGER findet, und die CARNAP ja einmal so virtuos analysiert hat, indem er eine Seite HEIDEGGER genommen hat, um nachzuschauen, was denn alls wahr und falsch daran ist. Es stellt sich heraus, daß auf der ganzen Seite nichts stand. Dann hat er sich noch mit Recht lustig gemacht über solche Sätze wie "Das Nichts nichtet" usw. Das heißt, CARNAPs Urteil über die metaphyischen Philosophen war sozusagen auf ihrem eigenen Grund vernichtend. Und man müßte gar nicht wissen oder sich dafür interessieren, ob HEIDEGGER Nazisympathien gehabt hat oder nicht. Man soll den Wortsalat nehmen wie er ist.

Um das abzuschließen: Der Einfluß auf mich war einfach der, daß mir diese metaphysische Philosophie nicht schmeckte. Ich glaube, das ist ein Fortschritt in die richtige Richtung.

Lassen Sie mich nur noch ein paar Worte über CARNAPs Stil sagen. CARNAP war einer der besten Lehrer, denen ich je begegnet bin. Wenn ein Student einen klaren Unsinn gesagt hat, hat er ihm nicht gesagt, das ist doch ein Unsinn, wie viele meiner Kollegen es noch dieser Tage tun. Er hat gesagt, also lassen sie einmal sehen, wohin wir kommen, wenn wir die [...] und dann hat er Schritt für Schritt das Argument durchgeführt und ihm gezeigt, daß es irgendwohin führt, wo es nicht sein soll.

Er ist in Chicago sehr schlecht behandelt worden, von den zwei mächtigen Philosophen dort. Einer von ihnen McKEON, [...] ist in einem Roman [...] "Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten" beschrieben. Das ist übrigens ein ausgezeichneter Roman, und dort ist das Bild von McKEON als Lehrer für immer festgehalten.

Der zweite mächtige Mann in Chicago mit dem er dort zu tun hatten, war ein Mann namens MORTIMER ADLER, der zwei Beweise, einen ontologischen Beweis der Existenz Gottes und einen metaphysischen Beweis, daß die DARWINsche Theorie falsch ist, geschrieben hat.

CARNAP war von 1936 bis 1952 in Chicago. Er hatte 4 graduate students und nur einen Doktorstudenten in diesen Jahren. Ich habe mich erkundigt, bevor ich hierher kam, man hat ihn wirklich schlecht behandelt; aber in seinen autobiographischen Notizen gibt es nicht ein Wort des Klagens oder des Selbstmitleids, er versucht, objektiv über alle diese Dinge zu sprechen.

Er war ein Gentleman. Ich glaube, [...] er hat einmal mit Rührung davon gesprochen, daß er als junger Student im Rheinland einmal die  Principia Mathematica  lesen wollte, aber keine Kopie gefunden hat, und da schrieb er an RUSSELL. RUSSELL antwortete ihm, daß er ihm keine Kopie schicken könne, da er keine habe, doch er schickte 35 handgeschriebene Seiten, die Hauptthesen der  Principia Mathematica.  Ich glaube, das war eines der Dinge, die CARNAPs Lebensstil begleitet haben, weil er das immer als eine ungeheure Generosität eines Lehrers den Schülern gegenüber empfunden hat.

CARNAP hat unendlich viel gearbeitet. Das heißt, wie man so landläufig sagt, Tag und Nacht. Er hat übrigens, wie ich mit trauriger Überraschung gelesen habe, gelegentlich an Depressionen gelitten, wie so viele große Männer. Ich habe mir einige Briefe von der Universität Pittsburgh kommen lassen, aus denen das hervorgeht. (Das habe ich erst jetzt erfahren.)

Das war also die Atmosphäre, in der CARNAP dort leben mußte. Es tat mir unendlich leid, daß er gerade wegfuhr, als ich im Jahre 1952 nach Chicago kam. Aber alles zusammen hat er einen bedeutsamen Einfluß auf mein Leben ausgeübt, auf meine Arbeit, und ich glaube, auch auf viele andere Menschen. Sein steigender Weltruf ist nicht nur berechtigt, sondern entwickelt sich mit großer Klarheit, denn er war einer der großen Philosophen dieses Jahrhunderts, und als das haben wir ihn empfunden und geschätzt.
LITERATUR - Hans Zeisel, Erinnerungen an Rudolf Carnap, in Rudolf Haller / Friedrich Stadler (Hrsg.), Wien-Berlin-Prag, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Wien 1993