tb-1Der kritische IdealismusLeonard NelsonOtto Meyerhof    
 
ERNST CASSIRER
Zur Frage der
Methode der Erkenntniskritik

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"Das Ganze der unmittelbaren Erkenntnis ist vom Standpunkt des Bewußtseins, vom Standpunkt der Psychologie aus  unaussprechlich.  Es ist uns nicht als  Tatsache  der Beobachtung gegeben, sondern durch die Reflexion als Voraussetzung für die Gültigkeit unserer Urteile  gefordert.  Nicht der Charakter des  Dinges,  sondern der  Bedingung  ist es, der ihm eignet."

"Wir werden uns überhaupt von den Beweisen keine zu große Vorstellung machen dürfen. An dem, was sich beweisen läßt, ist nicht viel zu verlieren, wenn wir nur im Besitz derjenigen Wahrheit bleiben, die sich nicht beweisen läßt, die vielmehr nur in Grundsätzen fest steht. Alle Philosophie ist aber seit langer Zeit stark durch das Vorurteil beherrscht worden, daß man alles müsse beweisen können, was wahr sein solle."

"Die Kategorien sind als Bedingungen der Erfahrung zugleich Bedingungen der Gegenstände, da  Gegenstände  uns niemals an sich selbst, sondern immer nur in der Erfahrung und kraft ihrer Voraussetzungen gegeben werden können."

4. Übrigens werden diese Einwände nicht nur von außen an das FRIESsche System herangebracht, sondern es läßt sich in ihm selbst der Punkt, an dem sie entstehen müssen, genau bezeichnen. Die Charakteristik der "unmittelbaren Erkenntnis" bleibt bei FRIES selbst zwiespältig und weist deutlich die Züge zweier verschiedenartiger Betrachtungsweisen auf. Daß die "unmittelbare Erkenntnis" in ihrer Totalität kein Datum des  Bewußtseins  ist, noch jemals werden kann, wird von FRIES aufs schärfste betont.
    "Es ist nach dem sinnlichen Wesen unserer Vernunft nicht möglich, daß wir uns dieses Ganzen der unmittelbaren Erkenntnis je bewußt werden, sondern uns ist der Unterschied des Dunklen, Klaren und Deutlichen der Vorstellung unvermeidlich. Nur einzelne Teile faßt der innere Sinn unmittelbar als Anschauung auf, die Form des Ganzen beobachtet nur die abstrahierende Reflexion". (Neue Kritik der Vernunft II, Seite 44)
Nicht die Psychologie, sondern die Logik ist es somit, die uns diese "Form des Ganzen" überhaupt erst erschließt und die für ihre Wahrheit einzustehen hat. Das Ganze der unmittelbaren Erkenntnis ist vom Standpunkt des Bewußtseins, vom Standpunkt der Psychologie aus "unaussprechlich" (Neue Kritik der Vernunft I, Seite 199; II Seite 51). Es ist uns nicht als  Tatsache  der Beobachtung gegeben, sondern durch die Reflexion als Voraussetzung für die Gültigkeit unserer Urteile  gefordert.  Nicht der Charakter des  Dinges,  sondern der  Bedingung  ist es, der ihm eignet. Die "unmittelbare Erkenntnis" ist kein Faktum, das durch die anthropologische Methode als  vorhanden  aufgezeigt wird, sondern ein  Postulat,  das wir aufstellen, um Einheit und Zusammenhang in alle unsere Einzelerkenntnisse zu bringen. Das  Recht  dieses Postulats kann man anerkennen, ohne darum die Notwendigkeit zuzugestehen, zu seiner Begründung auf eine reale psychische Potenz hinter unseren bewußten Vorstellungen zurückzugreifen. Die Einheit des Bewußtseins erkennen wir - wie KANT es einmal in einer prägnanten Wendung ausspricht - selbst nur dadurch "daß wir sie zur Möglichkeit der Erfahrung notwendig  brauchen"  (Kritik der reinen Vernunft, Seite 420). Statt zu dunklen und bewußtlosen Erkenntnis vorgängen  als Erklärungsgründen zu greifen, muß sich unsere Analyse vielmehr bei der Klarheit und Gewißheit oberster Prinzipien und ihrer Geltung bescheiden. Die Annahme unbewußter psychischer Tätigkeiten, die für FRIES unvermeidlich wird, nachdem er einmal die Erkenntnis überhaupt als "Tätigkeit unseres Geistes" definiert hat, gehört nicht mehr dem Gebiet der Kritik, sondern dem der Metaphysik an. Um hier den kritischen Standpunkt zu wahren, genügt es, sich gegenwärtig zu halten, daß die "Erkenntnisse", von denen hier die Rede ist, nicht die Bedeutung von realen Geschehnissen, sondern von  wahren Sätzen  haben, daß sie nicht  Tatsachen  der inneren Erfahrung bezeichnen, sondern objektive Regeln, ohne welche ein Wissen von Tatsachen - von äußeren sowohl, wie von inneren - nicht möglich wäre. In FRIES' eigener Charakteristik der "unmittelbaren Erkenntnis" fällt es auf, daß der Gegenstand, der hier bezeichnet werden soll, nur durch die  logischen Relationen,  in welchen er steht, nicht aber durch irgendeine bestimmte  psychologische Qualität  und Beschaffenheit bestimmt werden kann. Die empirische Psychologie weiß in der Tat von einer "Erkenntnis", die  weder Anschauung noch Urteil sein soll,  nichts zu berichten: sofern eine solche "bestehen" und gelten soll, kann sie jedenfalls auf dem ihr eigentümlichen Weg empirischer Beobachtung nicht festgestellt werden. (1)

5. Was schließlich das  historische  Verhältnis von KANT und FRIES angeht, so läßt sich leicht zeigen, daß die Beurteilung, die FRIES der Vernunftkritik zuteil werden läßt, an einem entscheidenden Punkt lediglich durch ein Mißverständnis veranlaßt ist. Immer wieder erhebt FRIES gegen KANT den Vorwurf, daß er in der transzendentalen Deduktion der Kategorien versucht habe, die einzelnen Grundsätze des reinen Verstandes aus einem obersten Prinzip, dem Prinzip der "Möglichkeit der Erfahrung" zu  beweisen.  Vom Beweis und seiner Bedeutung für unsere Erkenntnis aber hat FRIES, der hier seine Lehre selbst als eine Fortbildung JACOBIs bezeichnet, eine sehr geringe Meinung.
    "Wir werden uns überhaupt von den Beweisen keine zu große Vorstellung machen dürfen. An dem, was sich beweisen läßt, ist nicht viel zu verlieren, wenn wir nur im Besitz derjenigen Wahrheit bleiben, die sich nicht beweisen läßt, die vielmehr nur in Grundsätzen fest steht. Alle Philosophie ist aber seit langer Zeit stark durch das Vorurteil beherrscht worden, daß man alles müsse beweisen können, was wahr sein solle." (Neue Kritik der Vernunft I, Seite 279)
Man sieht, daß FRIES hier den Beweis lediglich als ein analytisches Folgern aus gegebenen Prämissen auffaßt und demgemäß beurteilt. Gilt aber diese Auffassung wirklich für die transzendentale Deduktion KANTs? Die Deduktion der Kategorien will diese als die Bedingungen für die Möglichkeit der Erfahrung aufweisen: sie entwickelt somit nicht einen willkürlich angenommenen Allgemeinbegriff in seine einzelnen Folgerungen, sondern zergliedert das "Faktum" der Erfahrungswissenschaft, um seine einzelnen Voraussetzungen gesondert herauszustellen. Der Schluß geht nicht vom Grund auf die Folge, sondern von der gegebenen Folge auf ihre idealen Gründe, die es zu entdecken gilt. Die Erfahrung dient hier nicht als abstrakter und leerer Oberbegriff, aus welchem die einzelnen Verstandesgrundsätze abgeleitet werden sollen, sondern sie wird als die konkrete Synthese eben dieser Grundsätze angesehen, um sodann in ihre einzelnen logischen Faktoren aufgelöst zu werden. Dieser "Beweis" der Kategorien widerspricht also ihrem Charakter als  Grund begriffe keineswegs: denn nicht darum handelt es sich, die Verstandesgrundsätze aus einem höheren und allgemeineren Prinzip durch syllogistische Folgerungen abzuleiten, sondern sie vielmehr in der ihnen eigentümlichen Funktion und im konkreten Ganzen ihrer  Anwendung  zu verstehen. Die Bewährung der Grundsätze erfolgt in dem, was sie leisten. Der Terminus der "Deduktion" ist hierbei dem juristischen Sprachgebrauch entnommen: er bezeichnet nicht die Herleitung aus etwas Fundamentalerem, sondern den Erweis der rechtlichen Gültigkeit. So enthält die ganze reine Vernunft in ihrem bloß spekulativen Gebrauch nach KANT "nicht ein einziges direkt synthetisches Urteil aus Begriffen"; denn
    "durch Verstandesbegriffe erreichtet sie zwar sichere Grundsätze, aber gar nicht direkt aus Begriffen, sondern immer nur indirekt durch Beziehung dieser Begriffe auf etwas ganz Zufälliges, nämlich  mögliche Erfahrung;  das sie denn, wenn diese (etwas als Gegenstand möglicher Erfahrungen) vorausgesetzt wird, allerdings apodiktisch [logisch zwingend, demonstrierbar - wp] gewiß sein, an sich selbst aber (direkt) a priori garnicht einmal erkannt werden können. So kann niemand den Satz: "alles, was geschieht, hat seine Ursache" aus diesen gegebenen Begriffen allein gründlich einsehen. Daher ist er kein Dogma, obgleich er in einem anderen Gesichtspunkt, nämlich dem einzigen Feld seines möglichen Gebrauchs, d. h. der Erfahrung ganz wohl und apodiktisch [unumstößlich - wp] bewiesen werden kann. Er heißt aber  Grundsatz  und nicht  Lehrsatz,  obgleich er bewiesen werden muß,  darum,  weil er die besondere Eigenschaft hat, daß er seinen Beweisgrund, nämlich Erfahrung selbst, zuerst möglich mach und bei dieser immer vorausgesetzt werden muß" (Kritik der reinen Vernunft, Seite 765)
Die Kategorien sind als Bedingungen der Erfahrung zugleich Bedingungen der Gegenstände, da "Gegenstände" uns niemals an sich selbst, sondern immer nur in der Erfahrung und kraft ihrer Voraussetzungen gegeben werden können. Dieses Verhältnis liegt für jeden, der unbefangen an die Kritik der reinen Vernunft herantritt, so offen zutage, daß es Wunder nehmen müßte, daß ein Denker wie FRIES es verkannt hat - wenn nicht die Motive hierzu in der geschichtlichen Lage der Philosophie, die FRIES vorfand, leicht zu entdecken wären. FRIES' Urteil stützt sich hier nicht mehr einzig und allein auf die originale Fassung der Kantischen Lehre, sondern auf die Wendung, die sie bei den Nachfolgern erhalten hatte. Die gesamte spekulative Entwicklung, die die Philosophie seit REINHOLD genommen hatte, scheint ihm nur durch den Mißgriff verständlich, den KANT mit dem Versuch des "transzendentalen Beweises" begangen hat (Neue Kritik der Vernunft, Einleitung Seite XXVII). Das "Vorurteil des Transzendentalen", der widerspruchsvolle Versuch, die Grundsätze des reinen Verstandes aus einem noch allgemeineren Prinzip zu beweisen, habe allein Den Rückfall in den Dogmatismus verschuldet. In Wahrheit bedeutet indessen die transzendentale Deduktion, wie wir gesehen haben, für KANT selbst nichts anderes als eben jenes "regressive Verfahren", das FRIES durchaus anerkennt und das er als ein wesentliches Moment alles  kritischen  Philosophierens hervorhebt und es wird sich keine einzige Stelle anführen lassen, an der sie in einem anderen Sinne bestimmt wäre. Es finden sich denn auch in FRIES' "Neuer Kritik der Vernunft" ganze Abschnitte, die sich wie eine bloße  Umschreibung  von KANTs transzendentaler Deduktion lesen (2), während doch andererseits am allgemeinen Urteil, daß hier der Grundmangel von KANTs Werk zu suchen sei, festgehalten wird. Daß die modernen Anhänger der FRIESschen Lehre dieses Urteil wiederholen konnten, zeigt indessen, wie wenig sie sich ihrem Meister gegenüber die Fähigkeit selbständiger Prüfung bewahrt haben. Der Unterschied zwischen FRIES und KANT liegt hier, wir für das objektive geschichtliche Urteil nicht zweifelhaft sein kann, nicht im Verfahren, sondern im  Material,  das ihm zugrunde gelegt wird. Und dieser Unterschied ist freilich bedeutsam genug: denn wenn FRIES sich für seine Zergliederung auf die Aussprüche des "gemeinen Verstandes" beruft und insofern lediglich eine "argumentatio ad hominem" [Polemik in Bezug auf die Person des Gegners - wp] erreicht, so wird von KANT die Erfahrung als  wissenschaftliche  Erfahrung aufgefaßt und zergliedert. Auf welcher Seite aber hier der methodische Vorteil ist und ob es besser ist, die Erfahrung lediglich in ihrem vagen Sinn als populäre Weltbeobachtung und -beurteilung zum Ausgangspunkt zu nehmen, oder sie in der Klärung die sie durch die exakte Wissenschaft empfängt, zu betrachten - dies bedarf wohl keiner ausführlichen Erörterung. Im übrigen fällt es auch hier auf, daß FRIES die Kantische Forderung - wenngleich er sie nicht in gleicher prinzipieller Schärfe  betont -,  so doch mittelbar im ganzen seiner Philosophie durchaus anerkennt und  betätigt:  ist es doch, wie ich gleich zu Anfang meiner Schrift über den "kritischen Idealismus" ausdrücklich hervorgehoben habe, sein und seines Schülers APELT historisches Verdienst, die Beziehungen der Philosophie zur Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft aufrecht erhalten und befestigt zu haben.

Mit diesen Bemerkungen möchte ich schließen, da es unfruchtbar wäre, mit MEYERHOF über Einzelheiten zu streiten, solange die prinzipiellen Grundfragen nicht geklärt sind. Ich betone nochmals, daß ich keineswegs - wie nach MEYERHOFs Darstellung scheinen könnte - gegen die wissenschaftliche Beschäftigung mit der FRIESschen Lehre als solche Einwendungen erhoben habe. So große sachliche Bedenken ich gegen die anthropologische Wendung habe, die FRIES der Vernunftkritik gegeben hat, so hoch schätze ich seine kritische Grundabsicht, die auf eine strenge Korrelation von Philosophie und Wissenschaft gerichtet ist.
    "Wenn die Erneuerung und Deutung seiner Lehre" - so schrieb ich bereits in meinem ersten Aufsatz - "mit wissenschaftlicher Gründlichkeit durchgeführt wird, wenn sie an spekulativer Tiefe ihren Gegenstand erreicht: so dürfen wir von hier aus in der Tat eine Belebung der allgemeinen philosophischen Bildung der Zeit erwarten". Ob diese Bedingungen in NELSONs Abhandlung über die "kritische Methode" erfüllt sind: dies zu entscheiden überlasse ich nunmehr dem Urteil der Sachkenner. Der Entdecker der anthropologischen Methode hatte zumindest von den Schwierigkeiten ihrer Handhabung und von den Gefahren, die sich bei ihrer Anwendung ergeben können, eine deutlichere Empfindung als der Schüler und Nachfolger. Wenn dieser sich einfach auf die "Anschauung" beruft, die "überhaupt nicht der Ungewißheit, also auch nicht den verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit unterworfen" sei, so hat FRIES dieses unbefangene Vertrauen nicht geteilt.

    "Spekulation" - so heißt es bei ihm - "ist innere Selbstbeobachtung, sie hat es also zunächst immer nur mit den unmittelbar wahrgenommenen Vorstellungen zu tun. Nun ist es schon bei äußeren Wahrnehmungen, wo die Anschauung doch viel leichter aufzufassen ist, oft Schwierigkeiten unterworen, die reine Tatsache, unvermengt mit Folgerungen daraus, zu erhalten; wieviel schwerer wird dies nicht erst bei inneren Wahrnehmungen sein, wie leicht kann man da nicht Meinungen über innere Wahrnehmungen selbst für Wahrnehmungen halten. Die Hauptquelle allen Irrtums, Verneinung desjenigen, was man nicht wahrgenommen hat, ist also hier so ergiebt als nur irgendwo. ... So steht die Sache schon für das richtige Verfahren des einzelnen Denkers, kein Wunder also, daß soviel verwirrtes, anderen unsinnig oder widersprechend Scheinendes in diesen Untersuchungen zum Vorschein gekommen ist, seitdem einmal ein großer Mann darauf hingeführt hat und mancher Unvorsichtige ohne Kenntnis der Sache und seiner eigenen Kräfte ihm nachging" (Metaphysik, Seite 127).
Zum Schluß muß ich noch auf einen Punkt zurückkommen, der von MEYERHOF nicht behandelt wird, der aber eine kurze Erwiderung erheischt, die sich indessen wiederum rein auf die Feststellung des  sachlichen  Tatbestandes beschränken soll. Ich hatte NELSON vorgehalten, daß er in seiner Kritik von COHENs Logik den Grundgedanken von COHENs logischer Theorie der Infinitesimalrechnung entstellt habe: sofern dasjenige, was für COHEN ein reines  gedankliches Prinzip  bedeutet, sich in seiner Darstellung in eine besondere Art  dinglicher Existenz  verwandle. Hiergegen führen nunmehr sowohl HESSENBERG, wie GRELLING eine Stelle der "Logik der reinen Erkenntnis" an, die nach ihrer Meinung als direkter Beleg für die NELSONsche Auffassung gelten soll.
    "Für  dx"  - so heißt es hier - "ist diese Bedeutung der Realität zu urgieren [muß gedrängt werden - wp], daß es ein Seiendes, vielmehr das Seiende bedeute, auch wenn  x  nicht wäre; oder genauer" [ - und dieser zweite Teil des Satzes wird freilich von beiden nicht mehr zitiert - E.C.], "daß  dx  das Seiende bedeute, damit  x  und sofern  x  in die Bedeutung desselben gehoben werden könne" (Seite 114).

    "Deutlicher und nachdrücklicher" - so bemerkt GRELLING hierzu - "kann die Behauptung der Existenz des Unendlichkleinen nicht ausgesprochen werden. ... Da wir nicht annehmen können, daß CASSIRER dieses Zitat" (das bereits NELSON gebracht hatte - E. C.) "übersehen hat, müssen wir seine Beschuldigung nicht nur als ungerechtfertigt zurückweisen, sondern wir können ihm auch den Vorwurf gröbster Leichtfertigkeit nicht ersparen" (Abhandlungen II, Seite 186).
Diese "Leichtfertigkeit" bestand, nach GRELLINGs Urteil, offenbar darin, daß ich der Meinung war, man müsse, um COHENs Lehre zu verstehen, nicht davon ausgehen, welchen Sinn NELSON mit einem bestimmten Begriff oder Ausdruck zu verbinden pflegt, sondern hierfür vor allem die eigene wissenschaftliche  Definition  des Autors selbst zugrunde legen. Danach muß also, um die betreffende Stelle als Entscheidung zwischen meiner und NELSONs Auffassung zu brauchen, zunächst das Eine feststehen: ob das "Sein", wie COHEN es versteht und wie er es der Infinitesimalgröße zuschrieb, im  kritischen  Sinne der Objektivität d. h. im Sinne der  objektiven  Geltung und Notwendigkeit einer Erkenntnis' oder aber im Sinne einer konkreten dinglichen  Wirklichkeit  aufzufassen ist. Aber freilich, schon indem ich diese Untersuchung mache, fürchte ich, nicht länger auf das Verständnis GRELLINGs rechnen zu dürfen, dem es etwas ganz Unerhörtes zu sein scheint, daß man den Terminus des "Seins" noch in einer anderen Bedeutung als zur Bezeichnung existierender anschaulich gegebener Objekte verwenden könne. Ich will daher versuchen, die Frage in die gewöhnliche schulmäßige Fassung zu kleiden, in der sie vielleicht für GRELLING leichter zugänglich ist. Ist es ihm wirklich entgangen, daß der Begriff des Seins in der philosophischen Spekulation seit jeher in einer doppelten Bedeutung gebraucht wird; - daß man, schon vor COHENs Logik, "Essenz" und "Existenz" aufs bestimmteste unterschieden hat? Die Verwechslung der beiden Glieder dieses einfachsten logischen und erkenntnistheoretischen Grundunterschiedes war es, die ich NELSON zum Vorwurf machte: GRELLING sucht sie zu rechtfertigen, indem er sie - von neuem und noch weit stärker und unzweideutiger begeht. -

Wie aber COHEN, dem man wohl oder übel das Recht zur wissenschaftlichen Fixierung seiner Begriffe wird lassen müssen, über die Gleichsetzung von  Sein  und  Dasein  denkt, die ihm hier beständig untergeschoben wird, dafür möchte ich nur einen einzelnen, besonders bezeichnenden Beleg anführen, den ich seiner Schrift "Platons Ideenlehre und die Mathematik" entnehme. Das Verständnis der Platonischen Philosophie, das Verständnis des  Idealismus überhaupt  - so wird hier ausgeführt - hat zur Voraussetzung, daß man das Sein, das  ontons on  der  Idee  vom Sein der  Dinge  unterscheiden lernt.
    "Wenn alles Erkennen das wahre Sein erreichen will: in der Idee ist es gelegen. Wer dieses Gelegensein nun aber wieder als ein Sinnliches vorstellt, der hat den absoluten Münzwert der Idee nicht erfaßt: er sieht in ihr doch nur das Konkretum eines Begriffs, nicht aber die bloße Abstraktion der Gesetzesprägung. Er denkt das  Sein  immer nur als  Dasein;  den Erkenntniswert, die Geltungsbezeichnung immer nur als in der Anschauung beharrende Ausbreitung . ... Auf diesem Verkennen des  Unterschiedes von Sein und Dasein  beruth das Nichtverstehen des Idealismus überhaupt und so auf der Platonischen Idee."
Dieser Gedanke kehrt fortan in allen COHENschen Schriften in stärkster Betonung wieder. Auch die "Logik der reinen Erkenntnis" bringt ihn zum schärfsten Ausdruck.
    "Sowenig die  Wahrheit  einerlei ist mit der Wirklichkeit, sowenig ist es auch die Realität" (Seite 108).
Aus alledem geht mit vollster Deutlichkeit hervor, daß NELSON, indem er in seinem Referat den Begriff der "Realität" durch den der Existenz ersetzt, keineswegs nur - wie seine Verteidiger nunmehr glauben machen wollen - eine belanglose Änderung im Sprachgebrauch vornahm, sondern daß er damit die wesentliche Tendenz des Gedankens selbst geradezu zunichte machte, indem er einen methodischen Begriff in eine dingliche Wirklichkeit, ein Mittel der  Erkenntnis  in ein besonderes  mystisches Sein  verkehrte. Hier handelt es sich nicht um die Abweichung in einer Einzelfrage, sondern in dem, was das Werk selbst, das es zu beurteilen galt, als das Charakteristische seiner gesamten Problemstellung ausdrücklich bezeichnet. Daß ich unter diesen Umständen keinerlei Veranlassung hatte, auf die  Einzelheiten  der NELSONschen Kritik noch besonders einzugehen, wird jeder Unparteiische mir zugestehen: sie wurden von selbst hinfällig, sobald erwiesen war, daß die ersten Anfordernungen, die man an das bloße  Verständnis  stellen muß, hier nicht erfüllt waren. NELSON hätte den COHENschen Begriff des Seins angreifen, er hätte den Versuch machen können, die Unterscheidung, auf der er beruth, mit wissenschaftlichen Gründen zu bestreiten. Dagegen konnte er sie nicht  ignorieren,  ohne COHENs Logik um allen Sinn zu bringen - und sich dadurch die "Kritik", wie er sie verstand, freilich zu erleichtern. Alle noch so starken und lauten Ausdrücke, mit denen man diesen strikten Nachweis zu übertönen sucht, werden nicht imstande sein, die Aufmerksamkeit von diesem klaren Tatbestand abzulenken, der zu jedermanns Prüfung offen liegt.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Zur Frage der Methode der Erkenntniskritik - eine Entgegnung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 31, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) "Eine Erkenntnis aufweisen" - so ließt man nunmehr in NELSONs letztem Aufsatz - heißt sich ihres Besitzes vergewissern; und dazu ist, wenn die Aufweisung durch Deduktion geschehen soll, Reflexion erforderlich.  Nicht  erforderlich aber ist es dazu, den Inhalt der aufzuweisenden Erkenntnis  zu Bewußtsein zu bringen.  Vielmehr genügt es für den Zweck der Deduktion den psychologischen Ort des Ursprungs derjenigen Erkenntnisse zu ermitteln, die uns in den metaphysischen Grundurteilen zu Bewußtsein kommen, umso mittels einer Art Topik, jeder dieser Erkenntnisse ihre Stelle im Ganzen der unmittelbaren Erkenntnis zu bestimmen" (Abhandlungen II, Seite 51). Hier tritt es deutlich hervor, daß es sich auch für die FRIESsche Methode im Grunde nur darum handeln kann, die einzelnen abgeleiteten Erkenntnisse einem  idealen Zusammenhang von Wahrheiten  einzureihen und ihnen innerhalb desselben ihren systematischen "Ort" anzuweisen. Diese ideelle "Topik" aber wird zuletzt mit der Aufweisung des reellen "Sitzes" Ursprungs derjenigen Erkenntnisse zu ermitteln, die uns in den metaphysischen Grundurteilen zu Bewußtsein kommen, um so mittels einer Art Topik, jeder dieser Erkenntnisse ihre Stelle im Ganzen der unmittelbaren Erkenntnis zu bestimmen" (Abhandlungen II, Seite 51. Hier tritt es deutlich hervor, daß es sich auch für die Fries'sche Methode im Grunde nur darum handeln kann, die einzelnen abgeleiteten Erkenntnisse einem  idealen  Zusammenhang von Wahrheiten' einzureihen und ihnen innerhalb desselben ihren systematischen "Ort" anzuweisen. Diese ideelle "Topik" aber wird zuletzt mit der Aufweisung des reellen "Sitzes" und Ursprungs einer Wahrheit im "Vernunftvermögen" verwechselt. Das psychologische Vernunft vermögen  ist nur der imaginäre Bildpunkt, der "Focus imaginarius" für die geforderte logische Einheit der reinen Vernunft grundsätze.  Das Ganze der unmittelbaren Erkenntnis ist - wenngleich wir es uns, wie jeden anderen "Gegenstand" irgendeiner beliebigen Wissenschaft nur  vermittels  psychischer Inhalte zu Bewußtsein bringen können - selbst doch  kein psychischer Gegenstand:  da aber - nach MEYERHOF - der "Gegenstand einer Wissenschaft die Art ihrer Untersuchung bestimmt", so folgt, daß auch die kritische Untersuchung, die auf dieses Ganze gerichtet ist, nicht empirisch-psychologischer Art sein kann.
    2) Siehe z. B. "Neue Kritik der Vernunft", § 114f