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EMANUEL MENDEL
Der Hypnotismus
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"Und soll man sich wundern, daß Ungebildete oder selbst sogenannte Gebildete an diese Klopfgeister glauben, wenn Männer der Wissenschaft ähnliche Dinge, nur mit einen anderen Namen bekleidet, behaupten?"

III.

Wenn die vorstehenden Ausführungen speziell über die Bedeutung des Hypnotismus als Heilmittel sehr wenig zu den enthusiastischen Lobreden passen, welche mit der Einführung "dieses Heilmittels" eine neue Ära in der medizinischen Wissenschaft herbeiführen wollten, so dürfen doch auf der anderen Seite die von achtbaren Männern, zum Teil in hervorragenden wissenschaftlichen Stellungen mitgeteilten Tatsachen, welche jener Kritik entgegenzustehen scheinen, nicht etwa einfach als "Schwindel" bezeichnet werden. Um zu einer Aufklärung über diesen anscheinend bestehenden Zwiespalt zu kommen, ist es notwendig, diejenigen, die für den hypnotischen Zustand und speziell für die Suggestion, welche ja den Heileffekt hervorbringt, zugänglich sind, wie diejenigen, die ganz besonders als Vertreter des modernen Hypnotismus betrachtet werden, sich etwas näher anzusehen. Was erstens die Hypnotisierten anbetrifft, so behaupte ich, daß kein Mensch mit durchaus normalem Nervensystem hypnotisiert werden kann. Schon der ABBÉ de FARIA erklärte, daß man Somnambulismus nur bei denen hervorbringen kann, bei denen die notwendigen Voranlagen vorhanden sind. General NOIZET sagt, daß die Nervenkrankheiten, besonders die Hysterie, die meisten Somnambulen liefere. LIÉBEAULT gibt zu, daß er aus der Zahl der mit nervöser oder mit nervös-lymphatischer Charakteranlage Behafteten die besten Medien gewonnen habe. Professor BERNHEIM dagegen bestreitet die Notwendigkeit der nervösen Analge zum Zustandekommen des Hypnotismus und führt zum Beweis einen 47-jährigen Buchhalter an, den er besonders zu posthypnotischen Suggestionen benutzte. Er hebt am Schluß, wie er sagt, nochmals hervor: "Es handelte sich um einen intelligenten Mann, der gar nicht hysterisch, gar nicht nervenkrank war, einen Mann von ruhiger Phantasie, ungestörter Geistestätigkeit." Dieser selbe Mann wird von BERNHEIM im Eingang seiner Darstellung der Zustände desselben auf der vorangehenden Seite seines Buches als "naturellement nerveux" bezeichnet. Auch sein ihm sonst sher wohlgesinnter Übersetzer kann ihm den Hinweis auf diesen Widerspruch nicht ersparen. Ich werde auf die psychologischen Gründe für ein solches Verhalten weiter unten zurückkommen. Liest man all die anderen vielfachen Krankengeschichten nach, in denen der Hypnotismus seine angeblichen Wunder entfaltete, so kann man in den meisten Fällen die hysterische, nervöse Grundlage direkt nachweisen. Die Erscheinungen dieser Nervosität, welche sich bis dahin nach außen hin nicht bemerkbar machten, können aber, worauf oben bereits hingewiesen wurde, sehr wohl erst durch den Hypnotismus hervorgerufen werden. Es kann die Hysterie, die Nervosität gewissermaßen bis zu jenem Zeitpunkt latent geblieben sein, eine Erfahrung, welche der Nervenarzt auch unter anderen Bedingungen, als beim Hypnotismus, häufig genug machen kann. Wie das Beispiel auf derartige nervöse Personen ansteckend wirken kann, lehrt uns die Geschichte der epidemischen Geisteskrankheiten auf das allerdeutlichste und daß auch Herr BERNHEIM eine solche Epidemie zu erzeugen versteht, respektive erzeugt hat, geht aus der Vorrede zur zweiten Auflage seines Buches hervor, in welcher er sagt, daß nach LIÉBEAULT die Somnambulen ein Sechstel bis ein Fünftel aller Hypnotisierten betragen haben, daß aber in seiner Klinik, "welche natürlich besonders günstige Bedingungen für die Entfaltung der ärztlichen Autorität bietet und auf welcher der Trieb zur Nachahmung und die Verlockung durch zahlreiche Vorbilder recht eigentlich eine Atmosphäre von Suggerierbarkeit entwickelt haben," sich die Verhältniszahl der Somnambulen noch höher stellt und er es zeitweise dahin bringt, die Hälfte - und darüber - von seinen Kranken in den somnambulen Zustand zu versetzen.

Sind die Hypnotisierten nun in der Tat alle oder weitaus zum größten Teil hysterisch Kranke, dann ist in Bezug auf die Verwertung all ihrer Angaben nach ärztlicher Erfahrung die größte Vorsicht notwendig. Die Geschichte der Nervenpathologie ist reich an Erfahrungen, wie Hysterische ruhige und besonnene Ärzte lange Zeit hindurch zu täuschen versucht haben, lediglich entweder aus einer krankhaften Sucht zu täuschen oder in der Absicht, besonders interessant zu erscheinen. Beim hypnotischen Verfahren wird ihnen dazu noch direkt oder indirekt geradezu suggeriert, daß sie besonders interessante Fälle sind. Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, wie hervorragende Psychiater in der neuesten Zeit noch durch solche Hysterische, welche angeblich im hypnotischen Zustand die wunderbarsten Erscheinungen, wie Fernwirkung von Medikamenten, darboten, sich haben täuschen lassen.

Wie verhalten sich nun die modernen Hypnotiseure jenen Versuchsobjekten gegenüber, bei denen man mit der Feststellung einer Tatsache nicht vorsichtig genug sein kann? Professor BERNHEIM sagt in der erwähnten Vorrede, daß die erste Auflage seines Buches wie eine "Offenbarung" auf eine große Anzahl von Ärzten wirkte.

Ein anderer hervorragender Hypnotiseur sagt: "Will man hypnotisieren und vor allem damit therapeutische Erfolge erzielen, so muß man sich zunächst mit großer Geduld, mit Begeisterung, mit Konsequenz, mit sicherem Auftreten und mit Erfindungsfähigkeit in Kniffen und Einfällen bewaffnen."

Beide Äußerungen von zwei der bedeutendsten Vertreter des Hypnotismus sind in hohem Grad charakteristisch. "Wo die Offenbarung anfängt, da hört die Wissenschaft auf." Die "Begeisterung" ist etwas Schönes und Erhebendes beim Soldaten, der in den Kampf zieht, beim Künstler, der seiner Phantasie freien Spielraum läßt, die "Begeisterung" ist etwas Schädliches für den, der naturwissenschaftliche Dinge untersuchen will. Nur der, der ohne jede Voreingenommenheit, kühl bis ans Herz, die Dinge prüft, hat in den Naturwissenschaften ein Recht, mit den Ergebnissen seiner Forschungen vollen Glauben zu finden. Bei mehreren der jetzigen Vertreter des Hypnotismus ersehen wir aus ihren Autobiographien, daß sie selbst nervös sind, an nervösen Anfällen litten oder leiden, von anderen weiß ich es aus eigener Erfahrung und so möchte ich behaupten, daß nicht bloß die Hypnotisierten, sondern auch die Hypnotiseure (wenigstens zum großen Teil) nervös veranlagte Naturen sind. Nur so läßt es sich erklären, daß sie behaupten, daß z. B. CHARCOT, der in der nüchterndsten Weise physikalisch die Erscheinungen des Hypnotismus untersucht hat, sich in Bezug auf die Aufstellung seiner Phasen des Hypnotismus im Zustand der "Selbsttäuschung" befunden habe, während es sich ohne Mühe nachweisen läßt, daß selbst bei den einfachsten Dinge die Hypnotiseure den Autosuggestionen, von denen sie, sobald sie ihre eigene Person betreffen, nie etwas wissen wollen, unterliegen. Ich habe eine Anzahl von Personen kennengelernt, die von verschiedenen Hypnotiseuren angeblich hypnotisiert worden waren und welche verständig und gebildet genug waren, um mit Sicherheit erklären zu können, daß nur der Hypnotiseur behauptet hat, daß sie schliefen; sie selbst wären so wach wie immer gewesen. Von einem viel hypnotisierenden Arzt wurde ein junges Mädchen mit einer schweren Erkrankung des Nervenzentralsystems häufig hypnotisiert. Der Hypnotiseur war zufrieden mit dem Erfolg, da sie immer die Augen zumachte. Auf die Frage ihres Hausarztes, warum sie denn immer die Augen sofort wieder aufmache, wenn der Hypnotiseur hinausgegangen war und ob sie denn in der Tat geschlafen habe, erwiderte sie, daß sie zwar nicht geschlafen, aber die Augen zugemacht habe, um dem Arzt, der sich so große Mühe gibt, einen Gefallen zu tun.

Durch ihre Begeisterung, ihren Enthusiasmus und den damit Hand in Hand gehenden Mangel an Kritik schädigen die Hypnotiseure das, was wahr und brauchbar im Hypnotismus ust und sie rufen in weiterer Konsequenz nach anderen Richtungen hin Unheil hervor. Würden sie sich auf die wissenschaftlichen Tatsachen und das weitere Studium derselben beschränken, darauf, daß in einzelnen Fällen der Hypnotismus unter Berücksichtigung der nötigen Kautelen [Vorhebalte - wp] als Heilmittel angewendet werden darf, dann ließe sich mit ihnen auf wissenschaftlicher Basis verkehren. Dadurch, daß sie nur zu sehr alles glauben, was Personen, welche schon wegen ihres krankhaften Zustandes wenig glaubwürdig sind, ihnen mitteilen, daß sie selbst Dingen, die allen bekannten Naturgesetzen Hohn sprechen, wenn nicht Glauben schenken, doch nicht energischen Protest entgegensetzen, sobald es sich um hypnotische Zustände handelt, rütteln sie an den Grundpfeilern, auf denen die Fortschritte der Wissenschaft bestehen und eröffnen dem Aberglauben ein weites Feld. Auf dem Boden des tierischen Magnetismus entstand die Tischerückerei, auf dem Boden des Hypnotismus steht der Spiritismus, jene Lehre, nach der der Geist der Verstorbenen, nachdem er den Körper verlassen hat, stets mit demselben Interesse alle Vorgänge auf der Erde beobachtet, nach der man mit Hilfe gewisser Personen, der Medien, jeden beliebigen Geist rufen kann, der dann Mitteilungen macht, Ratschläge erteilt etc. Der "Spuk von Resau", wie er neuerdings die Berliner beschäftigt hat, ist schließlich eine Konsequenz des modernen Hypnotismusglaubens. Und soll man sich wundern, daß Ungebildete oder selbst sogenannte Gebildete an diese Klopfgeister glauben, wenn Männer der Wissenschaft ähnliche Dinge, nur mit einen anderen Namen bekleidet, behaupten?

Handelt es sich in all diesen Fällen noch um Leute, die in gutem Glauben auf dem Boden des Hypnotismus in dieser oder jener Form stehen, so ist auf der anderen Seite nicht zu vergessen, wie der Schwindel, die Verfolgung rein selbstsüchtiger Zwecke, sich des Hypnotismus bemächtigt hat und wenn es in Deutschland wie bisher mit der Begeisterung für den Hypnotismus in gewissen Kreisen so weiterginge, so dürften sich, trotz allen polizeilichen Verbots, die Somnambulen-Kabinette an dem einen oder anderen Ort bald in ähnlicher Weise anhäufen, wie in Paris, wo jener Unfug in 4 - 500 Kabinetten ausgeführt wird. Wenn ich die ganze neueste Entwicklung des Hypnotismus betrachte, so scheint es mir, als ob, abgesehen von den physikalischen Untersuchungen der CHARCOTschen Schule, welche einen dauernden Fortschritt in der Wissenschaft bezeichnen dürften, nur zwei Dinge jetzt neu sind, das sind die beiden  Namen "Hypnotismus" und "Suggestion". Die Erscheinungen, die in jenem Zustand und durch diesen hervorgerufen werden können, sind, wie der obige geschichtliche Exkurs auch beweist, alle schon längst früher beobachtet worden. Da mit ihnen tatsächlich auf die Dauer nicht viel anzufangen gewesen ist, hat der Mesmerismus, ebenso wie die aus ihm resultierenden Schulen, das Feld nach einiger Zeit wieder räumen müssen, wiederholt unter dem Spott und Hohngelächter derjenigen, die zuerst für ihn eingenommen gewesen waren. Diese geschichtliche Tatsache läßt uns auch hoffen, daß in nicht allzulanger Zeit die Ausschreitungen ein Ende nehmen werden, die sich jetzt in Wort und Schrift auf dem Gebiet des Hypnotismus breit machen.

Vor allem aber ist es die Pflicht derjenigen, welche als Grundlage ihrer Erkenntnis die Naturwissenschaften betrachten und deren Lebensberuf das Studium des gesunden und kranken Menschen ist, sowohl des körperlichen wie des geistigen Zustandes desselben, dagegen aufzutreten, daß ihre Wissenschaft, statt zur Aufklärung, zur Verfinsterung führt. Die Tatsache, daß in neuester Zeit hervorragende Ärzte und klinische Lehrer mit Entschiedenheit gegen die Ausschreitungen des Hypnotismus aufgetreten sind, läßt uns hoffen, daß die jetztige Epoche der hypnotischen Begeisterung bald ebenso wie der Mesmerismus der Geschichte angehören wird.

LITERATUR - Emanuel Mendel, Der Hypnotismus, Hamburg 1889