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WILHELM WUNDT
Zur Geschichte und Theorie
der abstrakten Begriffe

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"Das Verhältnis zwischem Quantitäts- und dem Qualitätsbegriff hat sich so gestaltet, daß beide zusammen nur noch als Prädikate unserer  subjektiven  Zustände gelten, wo sie sich in der Intensität und Qualität der Empfindungen, sowie in den quantitativen Übergängen zwischen verschiedenen Empfindungsqualitäten vereinigen, während dagegen  objektive  Bestimmungen nur in quantitativer Form möglich sind."


3. Die korrelaten abstrakten Prädikatbegriffe

a. Einheit und Mannigfaltigkeit

An die Wechselbegriffe des Seins und des Werdens sind die Prädikate der Einheit und der Mannigfaltigkeit auf das innigste gebunden. Das Sein, indem man ihm Unveränderlichkeit zuschreibt, wird zugleich als absolute Einheit gedacht; dem Werden dagegen entspricht die Mannigfaltigkeit, da der Übergang von einem Sein zum andern eine Vielheit des Seienden voraussetzt. Auch der Stoff wird noch mit Vorliebe als ein einheitlicher, die Form als eine mannigfaltige gedacht. Doch machen sich hier ebenfalls die Rückwirkungen geltend, die schon bei den Subjektbegriffen die abstrakteren Relationen des Seins und des Werdens ausüben. Nicht nur der  nous  des ANAXAGORAS, welcher das formende Prinzip der Welt ist, wird als Einheit dem unendlich mannigfaltigen Stoff gegenübergestellt, sondern auch die Platonischen Ideen werden Einheiten genannt, um ihre innere Abgeschlossenheit gegenüber der an sich chaotischen Materie anzudeuten. Die Substanz trägt in allen ihren Gestaltungen das Prädikat der Einheit, mag nun diese Einheit gleichzeitig als eine unendliche Mannigfaltigkeit gefaßt sein, so daß nur durch den Begriff der Allheit derjenige der Einheit gewonnen wird, wie in der Substanzlehre SPINOZAs oder mag man sich umgekehrt die Einheit durch die absolute Einfachheit der Substanz zu sichern streben, wie in der Monadenlehre des LEIBNIZ und seiner Nachfolger. Der naturwissenschaftlichen Metaphysik besteht die Einheit der Substanz in ihrer qualitativen Gleichartigkeit. Der Kausalität obliegt es dann, die Vermittlung mit der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen herzustellen. Sie trägt darum zunächst das Prädikat der Mannigfaltigkeit. Aber auch hier schlägt dasselbe wieder in seinen Gegensatz um. Gebunden an die Substanz, muß die ontologische Kausalität an der Einheit jener Teil nehmen und die physikalische erreicht das nämliche Ziel durch die postulierte Einheit der Naturkräfte. Der metaphysische Gedanke einer unendlichen Mannigfaltigkeit, welche zugleich absolute Einheit ist, findet eben auf den verschiedensten Wegen immer wieder seinen Eingang.

Das fortwährende Streben, beide Begriffe aneinander zu binden, weist nun aber zugleich auf die wahre logische Bedeutung derselben hin. Sie sind Wechselbegriffe, die wir stets nebeneinander auf die Denkobjekte anzuwenden genötigt sind, die jedoch, ebenso wie die ihnen zunächst adäquaten Subjektbegriffe des Seins und des Werdens, nur einen  subjektiven Erkenntniswert  besitzen. Was vom Denken nicht in eine Einheit zusammengefaßt werden kann, ist überhaupt kein Denkobjekt. Alles Denken betätigt sich aber an einem mannigfaltigen Inhalt. Die Abstraktionen der Einheit und Mannigfaltigkeit laufen daher in dieser ihrer relativen Bedeutung stets nebeneinander her. Indem die metaphysische Spekulation sie in absolute Prädikate umwandelt, erhebt sie in ganz ähnlicher Weise, wie es bei den enstprechenden Subjektbegriffen des Seins und des Werdens geschehen ist, rein formale Gesichtspunkte, die für die Auffassung der Objekte ihre unantastbare logische Geltung besitzen, in Aussagen über den Inhalt der Objekte oder des Realen selber.

Als solche Aussagen leiden nun Einheit und Mannigfaltigkeit an der nämlichen Unbestimmtheit wie Sein und Werden. Unter jener Wirkung des Dingbegriffs, welche auch die Subjektbegriffe in konkretere Gestaltungen übergeführt hat, wird daher nach einer begrifflichen Ergänzung gesucht, welche beiden Begriffen einen bestimmteren Inhalt verleiht. Diese Ergänzung besteht in den ebenfalls zu einander korrelaten Prädikaten der  Quantität  und  Qualität. 


b. Quantität und Qualität

Sobald wir von aller Verschiedenheit des Seienden abstrahieren, bleiben nur noch quantitative Bestimmungen für dasselbe möglich; denn alle Qualität setzt innere Unterschiede voraus, die uns nötigen, ein bestimmtes Quale einem anderen gegenüberzustellen. Der Begriff der Quantität hängt daher zunächst mit dem der Einheit, der Begriff der Qualität mit dem der Mannigfaltigkeit zusammen. Einmal entstanden lassen aber diese Abstraktionen auch gekreuzte Verbindungen zu: das qualitativ Einheitliche kann als eine quantitative Mannigfaltigkeit, wie in der Atomistik oder das quantitativ Einheitliche als eine qualitative Mannigfaltigkeit gedacht werden, wie bei der Attributenlehre SPINOZAs. Während aber Einheit und Mannigfaltigkeit als die abstraktesten Prädikate zunächst auch auf die abstraktesten Korrelatbegriffe des Seins und des Werdens bezogen wurden, bieten Quantität und Qualität als die konkreteren zu dem dem Dingbegriff näher stehenden Abstraktionen des Stoffs und der Form die unmittelbarste Beziehung dar. Der formlose Stoff kann nur als Quantum und demgemäß muß die Form als der Grund aller Qualitätsunterschiede betrachtet werden. Aber auch hier fehlt es nicht an jenen Wechselwirkungen, die uns bei den entsprechenden Subjektbegriffen begegnet sind. Das Einheitsstreben der Spekulation sucht alle Qualitätsunterschiede auf quantitative Beziehungen zurückzuführen, wie dies nicht bloß die Atomistik aller Zeiten, sondern selbst die mathematische Umgestaltung des Formbegriffs zeigt, welche PLATO seiner Ideenlehre in ihren kosmologischen Anwendungen gegeben. Wo man dagegen auf die Durchführung des Einheitsgedankens verzichtet, da wird, wie noch heute in der chemischen Atomistik, der letzte Grund allen Unterschieds in ursprünglichen Qualitätsunterschieden des Stoffs gesehen, während die Formung des letzteren bloß quantitativen Gesetzen unterworfen sei.

Jede dieser Beziehungen, sowohl die der Quantität auf den Stoff, der Qualität auf die Form, wie die umgekehrte, hat ihre Quelle in den ursprünglichen Verhältnissen unserer Erfahrungsbegriffe. Das empirische Ding in seiner nächsten Bedeutung als Körper der Außenwelt bildet als ein relativ Bleibendes die Grundlage des Stoffbegriffs; aus den wechselnden Eigenschaften, in denen das Ding als ein mannigfacher Umformungen fähiges sich darbietet, entwickelt sich der Formbegriff. Nach Abzug dieser Eigenschaften bleibt aber nur die  Raumerfüllung  übrig, die lediglich quantitative Unterschiede zuläßt, daher nur das abstrakte Ding als Quantum, alle Eigenschaften außer der Raumerfüllung aber, also Farbe, Wärme, Festigkeit usw., als Qualitäten gedacht werden. An diese ursprünglichen Unterscheidungen anknüpfend, faßt jede Naturphilosohie, die das Wesen der körperlichen Dinge in der Raumerfüllung sieht, den Stoff als Quantum und die verschiedene Formung des Stoffs als das Quale oder mindestens als den Grund aller Qualität auf.

Daneben bildet sich aber noch eine andere Gedankenreihe, welche einem Standpunkt gereifterer Reflexion entspricht, insofern sie nicht von der naiven objektiven Gestaltung des Dingbegriffs, sondern von der subjektiven Analyse desselben ausgeht. Dinge oder Gegenstände der Außenwelt können uns immer nur gegeben werden durch den Inhalt unserer Empfindungen. Die Empfindung aber ist, so lange nicht die ordnende Tätigkeit unseres eigenen Bewußtseins hinzutritt, als  reines Quale  vorauszusetzen. Aus dem qualitativen Stoff der Empfindungen formt erst unsere Anschauungstätigkeit konkrete Vorstellungen von einer bestimmten räumlichen und zeitlichen Beschaffenheit. Hier wird also umgekehrt die Qualität dem Stoff-, die Quantität dem Formbegriff zugeordnet. Zu dieser Anschauung bekennen sich alle diejenigen Metaphysiker, welche einer qualitativen Mannigfaltigkeit realer Prinzipien zugetan sind, wie die, freilich mit atomistischen Vorstellungen durchsetzte, qualitative Elementenlehre eines EMPEDOKLES und, in geläuterter Gestalt, die Monadenlehre eines LEIBNIZ und HERBART.

Beide Auffassungen sind in gewissem Sinne berechtigt, weil sich in ihnen verschiedene Standpunkte der Betrachtung ausprägen, die sich ergänzen. Darin liegt aber zugleich die Aufforderung, diese Ergänzung wirklich auszuführen. Der erste Standpunkt hat seine Stärke in seiner  Objektivität Er läßt sich die in der unmittelbaren Vorstellung gelegene Beziehung auf ein reales Objekt nicht verkümmern durch die nachträgliche Reflexion auf das vorstellende Subjekt, die in der Tat nur dann ein Recht gibt, die Realität des Objekts zu beseitigen, wenn die Voraussetzung der letzteren durch die Widersprüche, in die sie verwickelt, sich selbst aufhebt. Aber die Schwäche dieses Standpunktes liegt in seiner logischen Naivität. Die qualitativen Eigenschaften der Dinge nimmt er ebenfalls als objektiv gegeben hin, ohne sich um die Frage zu kümmern, wie beide Prädikate des Gegebenen, die quantitativen und die qualitativen, miteinander vereinbar sind. Der zweite Standpunkt hat seine Stärke in der logischen Analyse des Dingbegriffs, die ihm als letztes Element aller objektiven Vorstellungen das Quale der Empfindung zeigt. Seine Schwäche liegt in seiner  Subjektivität,  die, wenn sie nicht überhaupt alle Qualität in einen subjektiven Schein auflöst, nichts übrig läßt, als die Empfindung zu objektivieren.

Das Hilfsmittel, welches die Einseitigkeit dieser Standpunkte aufhebt und zugleich die berechtigten Motive derselben zur Geltung bringt, besteht in der Anerkennung des hypothetischen Charakters des Substanzbegriffs, dessen Wert eben darin besteht, daß er die unhaltbaren Elemente des Dingbegriffs der Erscheinung zurechnet und nur diejenigen zurückbehält, die widerspruchslos bestehen bleiben können, indem sie sich zugleich zur Ableitung der Erscheinungswelt brauchbar erweisen. So verschwinden in der mit Kausalität begabten Substanz mit den Gegensätzen des Stoffs und der Form zugleich diejenigen der Quantität und der Qualität. Denn beide verwandeln sich in  Wirkungen  jener Substanz, indem als  objektive  Wirkungen die quantitativen Verhältnisse der Bewegung, als  subjektive  die Qualitäten der Empfindung betrachtet werden. Beide sind dadurch miteinander verknüpft, daß in uns alle Quantitätsvorstellungen aus qualitativen Empfindungen hervorgehen. Damit werden aber diese Quantitätsvorstellungen nicht ihres objektiven Wertes beraubt, denn sie sind nicht bloß psychologische Resultate, sondern gleichzeitig logische Postulate, insofern sich in den Objektsvorstellungen niemals, wie beim Quale der Empfindung, logische Motive zu ihrer Beseitigung geltend machen, daher diese Beseitigung ihrerseits nur als ein Akt subjektiver Willkür möglich sein würde. Auf dieser durch die gemeinsame Arbeit der Naturwissenschaft und der Erkenntnistheorie gesicherten Grundlage mögen dann freilich noch mannigfache einzelne Gestaltungen des Substanzbegriffs möglich sein; im allgemeinen aber ist der wissenschaftlichen Metaphysik dadurch ihr Weg vorgezeichnet.

Das Verhältnis zwischem Quantitäts- und dem Qualitätsbegriff hat sich demnach so gestaltet, daß beide zusammen nur noch als Prädikate unserer  subjektiven  Zustände gelten, wo sie sich in der Intensität und Qualität der Empfindungen, sowie in den quantitativen Übergängen zwischen verschiedenen Empfindungsqualitäten vereinigen, während dagegen  objektive  Bestimmungen nur in quantitativer Form möglich sind. Dieses Verhältnis entspringt aus der  mittelbaren  Natur unserer objektiven Erkenntnis, welche es uns zwar gestattet, in den Objekten qualitatives Sein, ähnlich dem in uns selbst, zu vermuten, welche aber eine objektive Auffassung dieses inneren Seins schlechthin unmöglich macht. Freilich ist uns in der wirklichen Anschauung ebensowenig jemals ein Quantum ohne ein Quale gegeben, wie eine Qualität, welche sich in keinerlei quantitativen Relationen befindet. Der Begriff der objektiven Substanz als eines reinen Quantums kann darum auch nicht bedeuten, daß dieselbe an sich selbst qualitätslos sei, sondern nur, daß wir diese Qualität als eine für uns unbestimmbare dahingestellt lassen müssen. Indem der Substanzbegriff in diesem Sinne auf quantitative Prädikate eingeschränkt wird, tritt uns nun an demselben ein letztes Gegensatzpaar von Prädikatbegriffen entgegen, welches alle Auffassungen der Substanz beherrscht: es sind die Begriff der  Endlichkeit  und  Unendlichkeit.  Sobald Substanz und Kausalität als  reine  Quantitätsbegriffe gefaßt werden, erhebt sich die Frage, ob beide als endliche oder als unendliche Quanta aufzufassen sind.


c. Endlichkeit und Unendlichkeit

Endlichkeit und Unendlichkeit sind an sich quantitative Prädikate. Wenn sie auf Qualitäten angewandt werden sollen, so müssen diese zugleich dem Quantitätsbegriff subsumiert werden. Da Endlichkeit und Unendlichkeit konträre Gegensätze sind, so könnte es auffallen, daß dennoch alle Größenbegriffe dem einen oder dem anderen untergeordnet werden können, ohne daß anscheinend jemals ein mittlerer Fall eintritt. Die Lösung liegt in zwei bemerkenswerten Eigenschaften dieses Begriffspaars. Erstens kommt der Unendlichkeitsbegriff selbst in zwei konträr entgegengesetzten Quantitätsbeziehungen vor, in der Form des unendlich Kleinen und des unendlich Großen, zwischen denen alle endlichen Größen gelegen sind; und zweitens hat in jeder dieser Beziehungen der Unendlichkeitsbegriff wieder zwei verschiedene Bedeutungen, die des  Infiniten,  der werdenden oder relativen Unendlichkeit und die des  Transfiniten,  der abgeschlossenen oder absoluten Unendlichkeit. (1) Das Verhältnis der beiden letzteren Gestaltungen läßt sich aber so auffassen, daß die infiniten Größen den Übergang bilden von den endlichen zu den transfiniten und zwar sowohl in der Richtung des unendlich Großen wie in der des unendlich Kleinen.

Mit den Korrelatbegriffen des Endlichen und Unendlichen sind die der Einheit und Mannigfaltigkeit unlösbar verbunden. Aber auch hier ist die Verbindung eine gekreuzte. Die endliche Größe wird in ihrer Sonderung von anderen stets zugleich als Einheit gedacht und bildet mit den anderen zusammen eine Mannigfaltigkeit. In der unendlichen Größe dagegen liegt der Einheitsbegriff, sobald sie als absolute oder transfinite, der Mannigfaltigkeitsbegriff, sobald sie als relative oder infinite gefaßt wird; denn das unendlich Große oder Kleine bezeichnet hier nur das vorausgesetzte Durchlaufen einer unbegrenzten Mannigfaltigkeit von Zwischengrößen.

Hieran schließt sich noch eine weitere Trennung, die auf den allgemeinen Quantitätsbegriff selber zurückwirkt, während sie zugleich im Verhältnis des letzteren zum Qualitätsbegriff ihre Quelle hat. Das Unendliche kann ein unendlich Großes oder Kleines hinsichtlich der  Mannigfaltigkeit  sein, die es einschließt. Diese Gegensatzbegriffe  der unendlichen Mannigfaltigkeit und Einfachheit  ordnen sich dem Quantitätsbegriff des  Vielen  (des  Multum  oder  pollon)  unter. Es kann aber auch das Unendliche als eine unendlich große oder kleine  Einheit  gedacht werden und diese Gegensatzbegriffe der  unendlichen Größe und Kleinheit  gehören unter den Quantitätsbegriff des  Großen  (des  Magnum  oder  poson).  Der Ursprung des ersteren Begriffs liegt in der Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualitäten, deren Vielheit ohne jede Rücksicht auf Größe im engeren Sinn aufgefaßt werden kann. Das Motik zur Bildung des zweiten Begriffs besteht in der in sich gleichartigen Raumanschauung, auf welche eben deshalb unmittelbar nur das Prädikat des Großen Anwendung findet. Unter beiden Quantitätsbegriffen ist es derjenige der Vielheit, welcher in dem zur Maßbestimmung aller Größen dienenden Begriff der  Zahl  seine Ausprägung gefunden hat, ein Umstand, welcher in Folge der Notwendigkeit, diesen Begriff auch auf einheitliche Größen anzuwenden, zur Entstehung des Systems der irrationalen Zahlen Veranlassung bot.

In der Anwendung auf bestimmte Subjektbegriffe von metaphysischer Bedeutung sind nun Endlichkeit und Unendlichkeit zu herrschenden Gegensätzen erst unter dem Einfluß der Wechselbegriff der Substantialität und Kausalität geworden. Sein und Werden sind zu abstrakt, als daß bei ihnen die Frage überhaupt gestellt würde: Stoff und Form liegen dem unmittelbaren Dingbegriff zu nahe. Erst die metaphysische Transzendenz der Substanz, die doch fortwährend in physischen Kausalwirkungen ihr Korrelat findet, läßt die Forderung entstehen, daß dieses Verhältnis des Physischen zum Metaphysischen, das zugleich mit demjenigen der empirischen Mannigfaltigkeit zu einer transzendenten Einheit zusammenfällt, nach reinen Quantitätsbegriffen betrachtet auf den Gegensatz des Endlichen und Unendlichen zurückführe. Die Substanz gilt demnach als das Unendliche, dem die Kausalität derselben als das in der gegebenen Einzelerscheinung Endliche, in seiner Totalität aber gleichfalls Unendliche und darum an sich mit der Substanz Identische gegenübergestellt wird.

Hier ist es nun aber bemerkenswert, daß in dieser Anwendung auf den Substanzbegriff die  beiden  Unendlichkeitsbegriffe, der absolute und der relative, zur Anwendung gekommen sind. Ein absolut Unendliches ist der Substanzbegriff der philosophischen Metaphysik. Darum ist er zugleich absolute Einheit, mag er im Sinne der Mannigfaltigkeitsphilosophie als absolute Einfachheit (absolute Einheit des Vielheitsbegriffs) oder im Sinne der Einheitsphilosophie als absolute Totalität (absolute Einheit des Größenbegriffs) gedacht werden. In der Tat enthält nicht bloß der Substanzbegriff eines SPINOZA das Prädikat des Transfiniten, sondern auch der eines LEIBNIZ und HERBART; nur vertritt dieser die entgegengesetzte Seite des Unendlichkeitsbegriffs. So kommt es, daß die Einheitsphilosophie in der absoluten Totalität einer unendlichen Mannigfaltigkeit, die Mannigfaltigkeitsphilosophie aber in der absoluten Einheit eines alle Mannigfaltigkeit ausschließenden Einfachen ihren letzten Ruhepunkt findet.

Völlig anders verhält es sich mit dem Substanzbegriff der naturwissenschaftlichen Metaphysik. Auf ihn findet überall nur das Prädikat der  infiniten  Unendlichkeit seine Anwendung. Denn die Substanz in der Totalität ihrer Bestimmungen begrifflich zu umfassen, gilt hier überhaupt nicht als wissenschaftliche Aufgabe. Wohl aber stellt sich die Nötigung heraus, über jeden gegebenen Punkt endlicher Zusammenhänge die unbegrenzte Möglichkeit eines weiteren Fortgangs vorauszusetzen. Darum ist zwar auch hier der Substanzbegriff transzendent, aber es werden keine Voraussetzungen für ihn aufgestellt, die nicht aus empirischen Bedingungen entspringen. Eben darum kann nun das Prädikat der Endlichkeit für ihn nur in demselben Sinne aufgehoben sein, als es für die empirischen Erscheinungen ebenfalls aufgehoben ist, insofern nämlich, als diese Erscheinungen niemals eine völlig in sich abgeschlossene Totalität ausmachen.


4. Die abstrakten Korrelatbegriffe und
die Gliederung der Wissenschaften.

Die Entwicklungen der beiden Begriffsreihen, deren Betrachtung uns hier beschäftigt hat, unterscheiden sich, abgesehen von der in den Allgemeinbezeichnungen ausgedrückten Differenz ihres logischen Charakters, wesentlich darin, daß die Subjektbegriffe in einer bestimmten Ordnung ausgebildet worden sind, wobei die Entstehung eines neuen Begriffspaares regelmäßig zugleich die allmählich Verdrängung des vorangegangenen im Gefolge hatte, während bei den Prädikatbegriffen zwar noch eine bevorzugte Beziehung zu bestimmten korrelaten Subjektbegriffen stattfindet, ohne daß jedoch darum die Verbindung mit den übrigen ganz ausgeschlossen wäre. Dieser Unterschied hängt mit der abweichenden wissenschaftlichen Bedeutung beider Begriffsreihen nahe zusammen und derselbe ist daher auch für die hauptsächlichste Gliederung der wissenschaftlichen Untersuchungen bestimmend gewesen.

Die Entwicklung der Subjektbegriffe beginnt mit den allgemeinsten subjektiven Abstraktionen und sie erhebt sich von diesen allmählich durch die Einwirkungen des empirischen Dingbegriffs zu Prinzipien von objektiverem Wert. Das Motiv zur Bildung aller Begriffe liegt aber hier im  Inhalt der Erfahrung.  Die Aufgabe, den gesamten Inhalt der Erfahrung nach den in ihm selbst gelegenen Bedingungen begrifflich zu ordnen, wird schließlich in den Begriffen der Substantialität und Kausalität mit vollkommener Klarheit erfaßt und soweit als möglich durch die nähere Bestimmung dieser Begriffe gelöst. Als der zentrale Begriff, zu welchem der Substanzbegriff nur eine für bestimmte Seiten der Erfahrung unerläßliche Ergänzung bildet, stellt sich hier immer deutlicher derjenige der  Kausalität  heraus. Die Kausalität ist es, die als ordnender Begriff den gesamten Inhalt der Erfahrung beherrscht. Für diejenigen Erfahrungen, die sich auf äußere Gegenstände beziehen, deren inneres Sein uns nicht unmittelbar gegeben ist, fordert sie als hypothetische Ergänzung den Substanzbegriff. Das große Wissenschaftsgebiet, das auf diese Weise dem Kausalbegriff untergeordnet ist, ist dasjenige der Erfahrungswissenschaften; vom logischen Standpunkt kann es treffender dasjenigeder  Kausalwissenschaften  genannt werden.

Die Entwicklung der Prädikatbegriffe hat sich, wie es ihrer logischen Natur gemäß ist, in fortwährender Anlehnung an die Subjektbegriffe vollzogen, von ihnen beeinflußt und wieder auf sie zurückwirkend. Je mehr aber dabei der letzte Begriff jener ersten Entwicklungsreihe, der Substanzbegriff, sich als ein gänzlich hypothetischer herausstellt, umso deutlicher wird es fühlbar, daß der Gebrauch der Prädikatbegriffe an sich ein gänzlich freier ist, indem sich dieselben keineswegs bloß auf ein durch den Erfahrungsinhalt ihnen dargebotenes Begriffssubstrat zu beziehen brauchen, sondern dieses Substrat selbst sich zu schaffen imstande sind. Der Prädikatbegriff, der sich hierbei schließlich als der zentrale ergibt, um welchen alle anderen sich ordnen, ist derjenige der  Mannigfaltigkeit.  Er fordert zunächst den Einheitsbegriff als seine korrelate Ergänzung, kann aber dann ebensowohl als quantitative wie als qualitative, als endliche wie als unendliche und schließlich nicht nur als infinite, sondern auch als transfinite Mannigfaltigkeit gedacht werden. Denn die abstrakte Untersuchung reiner Prädikatbegriffe, welche von der Beziehung auf gegebene Subjektbegriffe gänzlich absieht, ist in der Lage, sich diese letzteren von den logisch postulierten Prädikaten aus selbst schaffen zu können. Die Untersuchung bewegt sich hier lediglich in Denkmöglichkeiten, die das Wirkliche, auf dessen Ordnung sich die abstrakten Subjektbegriffe beziehen, als ein verhältnismäßig beschränktes Gebiet in sich schließen. Die Wissenschaft, welche in diesem Sinne nicht gegebene, sondern logisch vorausgesetzte Denkobjekte nach Maßgabe der allgemeinen Prädikatbegriffe, die sich auf solche beziehen, untersucht, ist die Mathematik oder, wie sie vom logischen Standpunkt aus genannt werden kann,  die Mannigfaltigkeitslehre. 

Nachdem beide Wissensgebiete, die Kausal- und die Mannigfaltigkeitswissenschaften, auf diese ihre allgemeinsten Aufgaben zurückgeführt sind, kehrt sich nun aber das Verhältnis um, das ursprünglich nicht nur zwischen den Begriffen, von denen sie beherrscht sind, sondern auch zwischen ihnen selber bestand. Wie sich das Prädikat immer auf ein gegebenes Subjekt bezieht, so sind auch die Mannigfaltigkeitsbegriffe zunächst von den Begriffen bestimmt worden, die sich durch unmittelbare Abstraktion aus der Erfahrung gebildet hatte; doch das abstrakte Prädikat der Mannigfaltigkeit hat sich schließlich sein logisches Subjekt im Begriff des  Denkmöglichen  selbst geschaffen.

Die nahe Beziehung, in welcher die beiden Reihen abstrakter Korrelatbegriffe zueinander stehen, macht es begreiflich, daß auch die ontologische Metaphysik sich dieses Begriffs des Denkmöglichen nicht selten bedient hat, in der Täuschung befangen, aus ihm mittels irgendwelcher dialektischer Kunstgriffe das Wirkliche konstruieren zu können. Nachdem die Mathematik dem Verlangen, mit bloßen Möglichkeitsbegriffen zu rechnen, nachgekommen ist, wird vielleicht die Metaphysik in Zukunft vor solchen Gebietsüberschreitungen besser bewahrt bleiben. Umso mehr aber ist zu hoffen, daß sich die Mathematik nicht ihrerseits derselben schuldig macht, indem sie aus ihren rein logischen Voraussetzungen metaphysische Folgerungen zu gewinnen glaubt.

LITERATUR - Wilhelm Wundt, Zur Geschichte und Theorie der abstrakten Begriffe, Philosophische Studien 2, Leipzig 1884