p-4tb-2Schubert-SoldernW. WundtF. ÜberwegR. Weinmann     
 
WILHELM WUNDT
Einige Bemerkungen
[zu Schubert-Solderns Erwiderung]

"Ich bezweifle nicht nur, sondern ich bestreite nachdrücklich, daß sich die Tatsachen nach unseren Begriffen zu richten haben. Vielmehr bin ich der Meinung, daß sich unsere Begriffe freilich irgendwie aufgrund von Tatsachen gebildet haben, daß wir uns aber, ehen wir aus ihnen rückwärts auf diese wiederum Schlüsse ziehen, vergewissern müssen, wie die Begriffe entstanden sind."

Den dankenswerten Ausführungen der vorstehenden Erwiderung beabsichtige ich nicht eine nochmalige eingehende Erörterung meiner Einwände gegen den Standpunkt der immanenten Erkenntnistheorie folgen zu lassen. Ich glaube nicht, daß dies nach den Ausführungen des Herrn Verfassers dieser Erwiderung, die das Wesentliche seiner eigenen Ansicht, sowie sein Verhältnis zu SCHUPPE in deutlichen Umrissen kennzeichnen, noch irgendeinen Zweck hätte. Wo die Ausgangspunkte so verschiedene sind, wie bei der "immanenten Philosophie" und bei den von mir vertretenen Anschauungen, da ist auf eine Verständigung, ja im letzten Grund vielleicht sogar auf ein eigentliches Verständnis kaum zu hoffen. Ich beschränke mich darum hier auf einige Bemerkungen zu denjenigen Punkten der obigen Erwiderung, die sich auf meine Auffassung dessen beziehen, was man - ich gebe es zu, mit einem nicht ganz glücklichen, aber von ihren Vertretern selbst herrührenden und auch von Herrn SCHUBERT-SOLDERN selbst durch die Mitherausgabe der unter diesem Titel erscheinenden Zeitschrift zumindest stillschweigend gebilligten Namen - die "immanente Philosophie" nennt.

Der Herr Verfasser erhebt in dieser Beziehung im Eingang seines Aufsatzes eigentlich zwei entgegengesetzte Vorwürfe gegen mich. Erstens meint er, wenn man unter dem Ausdruck "immanente Philosophie" alle Bestrebungen zusammenfaßt, die die Erkenntnistheorie von metaphysischen Bestrebungen befreien wollen, so müsse man den Kreis der Vertreter derselben sehr viel weiter ziehen, als ich es getan habe; und zweitens ist er der Ansicht, ich habe unter dem gleichen Gesichtspunkt Bestrebungen vereinigt, die doch keineswegs völlit miteinander übereinstimmen, so besonders die Anschauungen von SCHUPPE und die des Verfassers selbst. Nun habe ich bei der Auseinandersetzung des "allgemeinen Standpunktes" der immanenten Philosophie ausdrücklich hervorgehoben, daß "die Anhänger der immanenten Erkenntnislehre keineswegs in allen Punkten einig" sind, und daß es namentlich in den spezielleren Fragen, die die Naturphilosophie und Psychologie berühren, nicht an Meinungsunterschieden fehlt. Als eine allgemeinere Frage, in der ein solcher Unterschied hervortritt, habe ich zu wiederholten Malen die der Entstehung der Vorstellung einer Außenwelt übrhaupt hervorgehoben. Daß ich dabei in der Schilderung der nach meiner Auffassung übereinstimmenden Ansichten in solchen Fällen, wo von SCHUBERT-SOLDERN den Ausdruck "Bewußtsein" vorzieht, den von SCHUPPE durchweg gebrauchten Begriff des "Ich" gewählt habe, schien mir für den Grundcharakter der Anschauungen nicht wesentlich, und ich habe mich auch nach den obigen Ausführungen von einem für die vorliegende Frage maßgebenden Unterschied beider Ausdrücke nicht überzeugen können. Andererseits bin ich freilich gerne bereit zuzugeben, daß nach der vorstehenden Erwiderung die sachliche Differenz zwischen von SCHUBERT und SCHUPPE größer ist, als ich voraussetzte. Aber die Erwiderung deutet selbst an, daß die erste Schrift des Verfassers über "Immanenz und Transzendenz" diesen Unterschied weniger deutlich hervortreten läßt. Wenn ich übrigens, obgleich mir solche sachliche Differenzen oder zumindest Schattierungen der Grundanschauung selbst in dieser prinzipiellen Frage nicht entgingen, trotzdem die "immanente Philosophie" als eine im wesentlichen zusammengehörige Gruppe von Bearbeitungen der Erkenntnistheorie glaubte betrachten zu können, so meinte ich mich dabei der Zustimmung mindestens der von mir vorzugsweise berücksichtigten Schriftsteller, nämlich eben SCHUPPEs und von SCHUBERT-SOLDERNs versichert halten zu dürfen. Wer seinen Namen als Mitherausgeber auf den Titel einer Zeitschrift setzt, die nicht nur in diesem Titel schon die Vertretung einer bestimmten einheitlichen Richtung erkennen läßt, sondern die dies auch ausdrücklich noch in den Einführungswortes des Herausgebers ausspricht, - von dem darf man doch wohl erwarten, daß er sich auch wirklich mit seinen Mitherausgebern in gewissen grundlegenden Überzeugungen eines Sinnes weiß. In der Tat ist das, was ich im Eingang meines Aufsatzes als den "allgemeinen Standpunkt" der "immanenten Philosophie" bezeichnet habe, kaum mehr als eine aus den Schriften der Mitherausgeber ergänzte Paraphrase des Programms, das in der "Einführung" der Zeitschrift mit den Worten angedeutet wird: "daß die immanente Philosophie, indem sie die Begriffe wirklich sein und bewußt sein, Objekt und Vorstellung paarweise identifiziert, als die Gesamtheit der wirklichen Dinge aber nicht das Subjekt, sondern das Weltganze bezeichnet, nicht nur eine Gestaltung der Erkenntnistheorie, sondern eine Weltanschauung ist". Eher mußte ich vielleicht Bedenken tragen, auf einige andere Philosophen gelegentlich Bezug zu nehmen, die nicht Mitarbeiter der gleichen Zeitschrift sind und sich in der Tat, wie z. B. REHMKE, in manchen Punkten wohl weiter vom gleichen Programm entfernen. Ich habe dies daher auch nur mit Vorbehalt und nur in besonderen Fällen getan, wo mir der Zusammenhang der Anschauungen mit der immanenten Philosophie der Sache nach unzweifelhaft zu sein schien.

In manchen Einzelheiten habe ich die zwischen den Hauptvertretern der immanenten Philosophie bestehenden Differenzen nur dadurch angedeutet, daß ich die Belegstellen zu den angeführten Sätzen aus den einzelnen Autoren anführte. In der kurzen Zusammenfassung der Gesamtanschauung im Eingang meines Aufsatzes konnte das freilich nicht geschehen, und hier muß ich anerkennen, daß ich in der Auseinandersetzung des Verhältnisses zwischen Identität und Kausalität ausschließlich SCHUPPE gefolgt bin. Es geschah dies deshalb, weil mir allerdings SCHUPPEs Ansicht in diesem Punkt für die allgemeine Richtung der immanenten Erkenntnistheorie vorzugsweise charakteristisch zu sein schien. Ich darf wohl aber darauf hinweisen, daß ich in der näheren Ausführung auch die Ansicht von SCHUBERTs über die aller Kausalität zugrunde liegende Analogie ausdrücklich erwähnt habe. Warum ich auch diese Ansicht, die im wesentlichen auf HUME, JOHN STUART MILL u. a. zurückgeht, für unzulässig halte, ist von mir anderwärts so eingehend auseinandergesetzt, daß ich darauf allerdings in dem in Rede stehenden Aufsatz nicht näher eingegangen bin.

Der Verfasser macht mir ferner den Vorwurf, der Standpunkt der immanenten Philosophie sei von mir mit dem des naiven Realismus verwechselt worden. Hier muß ich meinerseits glauben, daß diesem Vorwurf ein Mißverständnis zugrunde liegt. Ich habe ausdrücklich von allen Richtungen des modernen philosophischen Realismus betont, daß er zwar vom Standpunkt des naiven Realismus auszugehen suche, daß man darüber aber vollkommen einig sei, dieser Standpunkt könne nicht als ein endgültiger betrachtet werden, und daher von jenem naiven zu einem kritischen Realismus vorzudringen strebe. Daß in diesem Sinne auch die Erkenntnistheorie der "immanenten Philosophie" von mir als ein kritischer oder vermeintlich kritischer Realismus aufgefaßt war, dürfte nicht nur aus dieser Stelle, sondern aus dem ganzen übrigen Inhalt meiner Erörterungen hervorgehen. Freilich war und ist meine Meingung, daß die immanente Philosophie nicht den richtigen Weg einschlägt, um von jenem Standpunkt des naiven zu dem eines kritischen Realismus herüberzugelangen - ein Umstand, der sie überdies nach meiner Meinung hinsichtlich dessen, was der eigentliche Inhalt des ursprünglichen "naiven Realismus" oder der "natürlichen Weltansicht", wie es andere nennen, sein soll, in einen verhängnisvollen Irrtum geführt hat. Ich betrachte es nämlich nicht als zweckmäßig, daß die "immanente Philosophie", ähnlich wie übrigens auch noch viele andere philosophische Erkenntnistheorien, durch eine bloße Selbstbesinnung jenen Weg finden zu können meint. Ich glaube vielmehr, daß man sich vor allem darüber Rechenschaft geben muß, auf welchem Weg die  Wissenschaft  von jenem ihr ursprünglich ebenfalls eigenen Standpunkt des naiven Realismus sich entfernt hat, und welche logischen Motive dabei wirksam gewesen sind. Wenn von SCHUBERT-SOLDERN diese meine Meinung dahin zu interpretieren scheint, daß die philosophische Erkenntnistheorie unbesehen den Standpunkt naturwissenschaftlicher Anschauungen sich zu eigen machen soll, so mißversteht er freilich meine Meinung. Ich habe nirgends verschwiegen, daß mir solche Überlegungen über die logischen Motive des von der positiven Wissenschaft festgehaltenen Standpunktes nur dann für die Erkenntnistheorie fruchtbringend zu sein scheinen, wenn sie mit der zureichenden Kritik angestellt werden, und wenn sie aus den naturwissenschaftlichen Anschauungen alles Zufällige, Unmotivierte, Dogmatische, woran ja wahrlich kein Mangel ist, zu entfernen trachten. Ich glaube in der Tat, wenn es die immanente Erkenntnistheorie nicht verschmähen wollte, auf diese Betrachtungsweise einzugehen, so würden Argumente, wie die der notwendigen Korrelation von Subjekt und Objekt, auf das auch die obige Erwiderung so großes Gewicht legt, vielleicht doch nicht mehr als so absolut feststehende Sätze gelten. Ich bezweifle natürlich keinen Augenblick, daß Subjekt und Objekt in unseren Begriffen zusammengehören. Ich bezweifle aber nicht nur, sondern ich bestreite nachdrücklich, daß sich die Tatsachen nach unseren Begriffen zu richten haben. Vielmehr bin ich der Meinung, daß sich unsere Begriffe freilich irgendwie aufgrund von Tatsachen gebildet haben, daß wir uns aber, ehen wir aus ihnen rückwärts auf diese wiederum Schlüsse ziehen, vergewissern müssen, wie die Begriffe entstanden sind. Da erscheint es mir unzweifelhaft, daß jene Korrelation unserer Begriffe  Subjekt  und  Objekt  ein spätes Erzeugnis der Reflexion ist, das über die Frage, ob das Objekt oder das Subjekt, oder ob beide zumal ursprünglich unserem Denken gegeben sind, gar nichts entscheiden kann. Obgleich daher von SCHUBERT-SOLDERN sagt, es sei ihm "unerfindlich", "wie ich ein Objekt außerhalb des Bewußtseins erfahren soll, um dann mittels Reflexion nachträglich zu erkennen, daß dieses Objekt doch im Bewußtsein vorgestellt wird", so ist eben das, was er für unerfindlich hält, dasselbe, was ich nach den Zeugnissen der psychologischen Erfahrung für den ursprünglichen Tatbestand des Erkennens halte, von dem daher auch die Erkenntnistheorie zunächst auszugehen hat.
LITERATUR, Wilhelm Wundt, Einige Bemerkungen zu Schubert-Solderns Erwiderung, Philosophische Studien, Bd. 13, Leipzig 1898