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HELMUT EISENDLE
Jenseits der Vernunft

"Die Logik oder die Ordnung hat aber nichts mit dem Prozeß der Wirklichkeit zu tun, sondern nur mit der Methode seiner Beschreibung."

Schreiben. Schreiben hat mit kalkuliertem Zufall zu tun. Eine Erzählung, ein Roman, Prosa, Dialoge, Erinnerungen an Gedanken, an Stellungnahmen, Aktionen, eine Handlung, alles unzusammenhängend, ungeordnet, chaotisch, irgendwo in meinem Gehirn. Ein Auswurf. Ordnung. Die Ordnung würde das Abbild stören. Konzepte stören den Ablauf. Ob ich will oder nicht, es geht immer um meinen gegenwärtigen Zustand, um meinen Geisteszustand, um mein Bewußtsein. In den letzten Tagen hat sich etwas angesammelt, gespeichert, bewahrt, um über das Schreiben, über einen Text hinausgespült zu werden. Die Beschreibung eines Geisteszustandes, meines Geisteszustandes, der Geisteszustand eines anderen.

Der Text hat keine Handlung, nichts, an das man sich halten kann, keine Aktionen außer Belanglosigkeiten, kein Ziel außer dem unklaren Vorwurf gegen alle und alles, was in ursächlichem Zusammenhang zu diesem Zustand steht, einem Zustand der Unfähigkeit, der Resignation, der Flucht in die Belanglosigkeit, einem Zustand, vergleichbar der Totenstarre von Insekten; nichts ist in ihm mehr möglich, alles bleibt in der Sprache, hoffnungslos im Wort, an den pathologischen Möglichkeiten des Denkens hängen. Nichts Konkretes folgt. Nur Gedanken, Wortfetzen, Erinnerungen an Menschen, an eigene Reaktionen, Verhaltensweisen, Ängste und Zustände, denen man unterworfen war und unterworfen ist.

Die Unfähigkeit, ein Bild aufzubauen, die Unmöglichkeit einen Vorwurf zu formulieren aber sich gegen alles richtet, gegen mich genauso wie gegen meine Vergangenheit. Einzelne Elemente, Musik, Alkohol, aufgenommene Inhalte, Literatur, Wissenschaft, die Verachtung der eigenen Unfähigkeit. Die Hauptperson erinnert an einen Menschen, den ich kenne, einen Freund, an Reaktionen, Aussprüche, an Hypothesen über seinen Zustand, seinen Geist, der meinem verwandt ist. Die Person des Textes ist nicht identisch mit ihm, kann es nicht sein, die Beschreibung läuft über meine Erinnerung, über mein Gehirn, Gefühle fließen zusammen, undeutliche Bilder steigen auf, vermischen sich mit der Phantasie, das Ganze bleibt ein unbeschreibbares Bild. Einzelne Gedanken, Aussprüche, Stimmungen geben den Anlaß.

Alles ist erfunden, gefunden in meinem Gedächtnis, ein Teil von mir, ein Teil meiner Erinnerung, unklar, verschwommen, zusammengesucht aus Gegenwart und Vergangenheit. Mein Bewußtsein die Erinnerung, die Inhalte des Gedächtnisses, alles ungeklärte, unsichere Begriffe, mit denen nichts anzufangen ist. Erfindungen mit dem Kern der Wahrheit. Der andere Pol, es ist kein Pol, der andere bin ich selbst, verschwommen, eine unsichere Beschreibung, ein Konglomerat meines Geisteszustandes, durch die Sprache, die Dürftigkeit des Mittels bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und verfälscht. Das Produkt hat nichts oder ausschließlich mit meiner Wirklichkeit zu tun. Extreme Positionen, die nicht auseinander gehalten werden können. Eine Sammlung von Ideen, Begriffen und Gedanken, aufgehängt an unklaren Erinnerungen. Der Versuch einer Ordnung.

Die Gegend ist der Süden. Ein Jahr Spanien, davor, das Wunschbild zurückzukehren, als Gegenpol Berlins Hinterhöfe, die geschlechtslose Hartnäckigkeit der Menschen, die Gastarbeiter, Fremdarbeiter, Brüder aus dem Süden, Türken, Spanier, Jugoslawen; der Süden, die Ignoranz der Wirklichkeit, die Flucht in die Idylle der Phantasie.

Ein Ort in der Nähe von Valencia, zu Neujahr, schneelos, ohne Fremde, verstummt, vergessen, ausgerichtet auf den Sommer, arm und unnütz. Die Menschen leben in der Erwartung der kommenden Saison. Winterschlaf und Schizophrenie, erlerntes Gespaltensein. Einige Tage mit Schubert, der handlungslosen Person der nichtvorhandenen Handlung, verknüpft mit einem Freund im Süden von Österreich. Der Gesprächspartner, ich, mein Bewußtsein, zusammengetragen aus Einzelstücken der Vergangenheit, beide, er und ich, Erfindungen meines Geisteszustandes.

Urlaub. Urlaub von der Vernunft, vom Bemühen um sinnvolle Zusammenhänge, um Beschreibungen der Wirklichkeit, die kein Abbild im Kopf hat. Einzelne Themen tauchen auf, sinnlos, abstrakt, alt und verbraucht; Wirklichkeit, Sprache, Sprechen, Denken, Tod und Lachen, das punktuell erfaßte Gerede mehrerer Jahrtausende. Konkrete Fetzen der Vergangenheit, die Psychologie, Theorien, der absolute Unglaube, die Skepsis, Pharmazie und meine Gleichgültigkeit, mich mit dem abzufinden, was gegeben ist. Die Hilflosigkeit einzelner Versuche, etwas zu unternehmen, dem zen einen Sinn zu geben, das Engagement als modische Strömung der Rationalisierung, nichts und alles im Wort gebunden, steckengeblieben. Die Wahrnehmung eines traurigen Zustandes, der nicht zu ändern ist. Konkretes Schreiben, Realismus, die Lächerlichkeit, über Worte und Gedanken, geschriebene Gedanken, Einsichten zu gewinnen. Der Spaß am Sinnlosen, die Rückkehr zum Hedonismus.

Ich erwarte kein Verständnis und keine Einsicht. Ich gebe etwas von mir, einen Auswurf, ich werfe den Ballast ab, der mir im Sinn, im Kopf sitzt, der mich vergiftet und ergötzt zugleich. Ich setze Gedanken in Buchstaben um, ohne Hoffnung darauf, einen Zustand zu verbessern. Ich spiele mit dem Geist der Erinnerung, ich experimentiere mit dem Bewußtsein dem Gedächtnis, mit dem unfähigen Mittel Sprache. Die Sprache ist die Metasprache des Bewußtseins, die Sprache ist das Bewußtsein, gedacht ist die Sprache Wahrheit, geschrieben Unwahrheit, Entstellung, Manöver, Taktik.

Der Versuch, etwas in Worte, Wörter und Sätze zu kleiden, etwas, das nicht beschreibbar ist. Der organisierte, funktionierende Wahnsinn meiner Gedanken, die Möglichkeit, Assoziationen anzustoßen, sich forttreiben zu lassen. Ein Konglomerat aus Originalitätswahn und dem Zustand der Erschöpfung. Die Spannung zwischen Individualismus und Umwelt, technologischem Konzept, Einfluß, Engagement, wortgetreuer Befriedigung, Onanie am Wort, Spaß am Sinnlosen, Rückkehr zum Egoismus, zu jenen Mechanismen, die sich in bedeutsamer Bedeutungslosigkeit definieren.

Sich dem Konfabulationswahn der Schizophrenen nähern, die Sinnlosigkeit und reine Sinnlichkeit zum Wert erheben, Vernunft und sozialen Verstand, Zooverhalten und GutSein vergessen, begraben, den Mut zur Dummheit, zum Egoismus, zur Wortliebe finden, den anderen seinen kranken Geisteszustand aufdrängen, ihn zur Kunst erklären, zur Literatur machen. Das Ganze geordnet in ein Buch zusammenpacken und als Roman bezeichnen.

Dem Wort Stringenz einen Tritt versetzen. Vom Leser nichts anderes verlangen, als sich in den Käfig eines Wortgeflechtes sperren zu lassen. Die gesamte Literatur vergessen. An der Fabrikation der Fiktionen, den Studien zu einer sterbenden Kultur, an der Illusion der Wirklichkeit, an den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache anteilnehmen. Einen Haufen ungeordneter Gedanken und Gefühle in eine lose, sinnlose Abfolge bringen. Von der Notwendigkeit, von der Nützlichkeit, von der Sinnhaftigkeit, von der Aufgabe der Literatur Abstand nehmen. Sein Ich, das Bewußtsein nach außen stülpen, sich zur Verfügung stellen, immer mit dem Schutzwall der möglichen Erfindung.

Jedes Wort kann gelogen sein. Was bleibt, ist eine Abfolge, ein Roman, eine Handlung, ein Nichts.

Den Leser im Unklaren lassen, mit seiner ehrlichen Meinung hinter dem Berg halten, im Hinterhalt den Triumph auskosten. Dem Leben durch Sinnlosigkeit einen Sinn geben. Sich in die eigene Wahrnehmung, in die eigene Vergangenheit falren lassen. Sich zur Fiktion bekennen Die Außenwelt Außenwelt sein lassen.

Vor dem Fenster im Hinterhof meiner Berliner Wohnung steht ein Kastanienbaum. Laub liegt am Boden, zwischen einzelnen Büschen wächst Farnkraut. An der Mauer des Vorderhauses sieht man Einschüsse von Maschinengewehrsalven, Mistkübel, Räder, der Eingang zum Keller, ein Rechen, Vorhänge hinter den Fenstern, ältere Frauen, die mich, seitdem ich hier bin, beobachten, ein Stück Himmel, der laufende Heizlüfter hinter meinem Rücken, Bücher, die Schreibmaschine, Blaupapier, ein Radiergummi, Aschenbecher, Zigaretten, Ich, alles erfunden, beschrieben, in keinem Zusammenhang mit der Wirklichkeit, ein notwendiger Anfang:

Der Anfang eines Romans, eines Textes, einer Beschreibung, einer Abfolge von Gedanken ist das Ende einer Erinnerung.

-- * --

Schubert und Estes stehen vor einer halbhohen Mauer, die eine Straße begrenzt, und blicken auf das Meer unter sich.

Die Wellen rollen heran, schlagen über die Felsund Betonblöcke, die vor der Dammauer im Wasser liegen, und schäumen in unregelmäßigen Abständen über den Kai. Kein Mensch ist zu sehen, und alles scheint verlassen. Obwohl es schon s pät am Nachmittag ist, hat man den Eindruck des frühen Morgens.

Die Wirklichkeit ist eine zähe, immer komplizierter werdende Substanz ein Konglomerat möglicher Wahrnehmungen , gewichtet durch die Zensur des Bewußtseins, sagt Schubert nachdenklich, zieht eine Packung Zigaretten aus der Rocktasche und wendet sich zu Estes.

Haben Sie Streichhölzer?

Die Wirklichkeit ist ein Begriff von zweifelhafter Wirklichkeit, ein Begriff ohne wirkliche Bedeutung.

Estes antwortet fast gedankenlos und reicht Schubert ein Feuerzeug. Erst als er sich dem anderen zuwendet, beginnt er über seinen Satz nachzudenken.

In letzter Zeit war es ihm öfter passiert daß durch einen Begriff, durch ein Wort, durch ein schnell geäußertes Abstraktum ganz automatisch eine skeptische, zumindest aber zweifelnde Behauptung oder Reaktion, die in direktem Zusammenhang zu der Äußerung seines Gegenübers stand, über seine Lippen gekommen war. Erst im nachhinein stellten sich, wie jetzt auch, die Gedanken darüber ein.

Die Sprache ist ein seltsames Medium. Man verwendet Begriffe, die sich an der Zweifelhaftigkeit anderer, ungesicherter Begriffe abzusichern versuchen. Die Wirklichkeit. Das Bewußtsein. Die Wirklichkeit ist im Bewußtsein der gesamten Erfahrungen definiert. Das Bewußtsein ist in der Gesamtheit der wirklichen Erfahrung definiert. Das Bewußtsein ist in der Erfahrung der gesamten Wirklichkeit definiert.

Derartige Passagen und Gespräche waren für beide nichts Ungewöhnliches. Sie kannten einander mehrere Jahre, obwohl dieses Zusammentreffen hier an der spanischen Küste in der Nähe von Valencia das erste längere war.

Estes hatte Schubert als Stammgast eines Kaffeehauses, in dem auch er häufig verkehrt war, kennengelernt. 'Ober das gewohnte Sehen hinaus war er mit ihm eines Tages gleichsam aus einem Zufall heraus ins Gespräch gekommen. Seit damals trafen sie einander in unregelmäßigen Abständen, um über die verschiedensten Dinge zu reden. Meistens war es nach Mitternacht. Besuchte Estes schon um zehn oder elf Uhr das Lokal, etwas, das selten vorkam, spielte Schubert Tarock oder Billard, beides Dinge, die Estes überhaupt nicht beherrschte. Schubert kam gewöhnlich zu seinem Tisch, nachdem sich die Spielrunde aufgelöst hatte, trank mehrere Weinbrände, während Estes Kaffee oder eine Mischung aus herbem Weißwein und Mineralwasser zu sich nahm.

Von Anfang an hatte zwischen ihnen Sympathie bestanden, ein Faktum, das nicht nur auf der Gleichheit von Meinungen und Interessen beruhte, sondern möglicherweise mit der Bereitschaft beider, einander zuzuhören und auf bestimmte Probleme einzugehen, in Zusammenhang stand.

Estes hatte Schubert, im Unterschied zu anderen Stammgästen des Kaffeehauses, nie als Spieler und Trinker gesehen, einer Klassifikation, die in derartigen Lokalen gewohnheitsmäßig auftritt. Er hatte solcherart Begriffe immer kritisiert, da sie seiner Ansicht nach ein falsches Bild geben oder Vorstellungen und Konsequenzen im Denken und Verhalten erzeugen, die sich auf die Unzulänglichkeit einzelner Worte zu verlassen suchen.

Der Süden Spaniens besticht, sagt Schubert, ohne sich an Estes zu wenden, besticht wie alle Orte, die den Mitteleuropäer beeindrucken, durch das einfache Leben, das die Einheimischen Armut nennen. Die Befriedigung des Fremden ist eine Funktion seines Wohlstandes zu Hause. Die Sonne und das Meer geben den Rest. Unter den Eindruck der glücklichen Verbindung zwischen der Annehmlichkeit, die man daheim gelassen hat, und der Armut der anderen, in deren Land man ist, kann nur Befriedigung entstehen. Je ärmer das Land, desto glücklicher seine Urlauber. Das Phänomen des Zoobesuchs als Ursache glücklicher Ferien. Es gehört viel dazu, die Not des anderen nicht zu schätzen. Jeder karrenschiebende Bauer wird zum Symbol des eigenen Glücks.

Schubert zieht an der Zigarette, und Estes schweigt.

Aus der Not des anderen die Tugend des Wohl befindens machen. Schubert ist ein eigenartiger Mensch. Er besitzt Eigenart. Die Dissonanz zwischen Wohlbefinden und Armut ist für ihn bedeutungslos. Konsumatorische Akte berühren ihn bis auf wenige Ausnahmen nicht. Der Alkohol. Die Musik. Seine Wahrnehmung hat nicht die Funktion des Glücks. Andere Menschen leben vom Sehen, Essen, Riechen, Berühren; Schuberts Augen und Sinnesorgane aber scheinen Werkzeuge ohne den Wert bedürfnisbefriedigender Bedeutung. Alles, was er wahrnimmt, spielt sich in seinem Kopf ab. Er gewichtet das Sehen, das Hören, das Riechen, das Fühlen über ein Weltbild; ein Weltbild ohne Lösung, er spricht vom Nihilismus, ein Weltbild, extrem dem Nachsinnen und den Problemen verfallen, Dinge, die möglicherweise seine eigenartige Entwicklung mit sich gebracht haben.

Unglückliche Verhältnisse als Ursache. Trotzdem, alles ist zu durchsichtig, zu verdächtig. Der Tod des Vaters, ein Selbstmord, die Dominanz der Mutter, das Verhältnis zu Frauen, seine Zweifel, die Skepsis gegen Glauben, Wissenschaft und die Ideen anderer, das Studium, der Beruf des Lehrers als Ausweg, alles Komponenten von bedeutungsloser Dürftigkeit.

Schubert unterbricht den Gedankengang Estes'. Wir haben die Fähigkeit verloren, aus dem Nichtstun, der Zeit allein, Befriedigung zu ziehen. Wir zwingen uns, wir werden in eine unstete Rastlosigkeit gezwungen. Wenn ich das Meer sehe, fällt mir das auf. Dieser monotone Wellenschlag ist von penetranter Entspannung erfüllt.

Nichtstun macht nur als Ausruhen nach einer Leistung 'Spaß. Die Langweile ist die Verteidigerin der Arbeit. Dieses Denken, diese Art zu handeln hat man in uns verursacht. Der langjährige Einfluß der Kultur. Der Erfolg ist eine Eigenschaft; die Eigenschaft, alles nur aus einer Sicht zu sehen, unter dem Gesichtspunkt der Leistung und Bewältigung.

Eine Eigenschaft?

Ja, geschätzter Freund, eine Eigenschaft. Es gibt einen Geisteszustand, der ohne Erfolg lebt, der erfolglos ist, weil er die Begriffe des Erfolges nicht kennt.

Ein Zustand der Unfähigkeit.

Erfolglos heißt immer unfähig. Für die Kultur ist es ein Zustand der Krankheit.

Ein Zustand, der nicht den Normen der Kultur entspricht, muß von ihr als Krankheit, als Geisteskrankheit bezeichnet werden. Die Therapie heißt Strafe durch Isolation oder Zwangsemigration. Es besteht akute Ansteckungsgefahr. Eine Krankheit, die den Willen zur Ansteckung voraussetzt.

Ich möchte es eher Empfindlichkeit nennen. Empfindlichkeit gegen die Unstimmigkeiten eines Systems.

Die Unempfindlichkeit des Normalen und die Überempfindlichkeit des Abnormalen, des Krankhaften. Krankheit ist stets Überempfindlichkeit, auch Geisteskrankheit. Für mich ist in diesem Zustand nichts Fremdes, im Gegenteil, er ist wünschenswert; er befreit mich von Forderungen, die ich nicht erfüllen will, Forderungen, die man an mich stellt, gegen meinen Willen. Gut. Man verspricht mir dafür Entlohnung und Belohnung, also einen angeblich positiven Effekt, de facto aber etwas, das mich nur noch fester an das System bindet. Ich will es anders erklären: Ich verabscheue es, Dinge zu tun, die man hinlänglich als erwünschte Leistungen deklariert, Leistungen, die anderen Profit, mir aber Bindungen bringen. Kein Merkmal dieses Geschäftes ist für mich wünschenswert.

Die Leistung ist eine Belastung, als solche freudlos, die Belohnung gleichgültig, da Geld als vorweggenommene Bedürfnisbefriedigung in mir nur Gedanken erzeugen kann, die in diesem System möglich sind. Ich kann mir etwas leisten. Innerhalb meiner beruflichen Möglichkeiten gestattet mir einzig und allein der Selbstbetrug eine befriedigende Lösung, Ich lerne die Widerwärtigkeiten meines Berufes lieben, ich gewöhne mich an sie und betrachte das Geld als nützlichen, brauchbaren Abfall. Betrachte ich aber meine Berufsaussichten realistisch, ist mir die Vorstellung, ein geisteskranker Sozialfall zu sein, angenehmer. Die Freiheitsgrade sind hierbei weitaus größer Das Ganze ist schwierig zu erklären. Es ist sinnlos, da ich wohl auch weiterhin das tun werde, was man von mir verlangt. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.

Wovon, heißt es bei WITTGENSTEIN, verzeihen Sie. Estes bleibt stehen und wartet, bis Schubert neben ihm ist.

Ich verstehe Sie schon, man muß die Sprache überwinden, um die Dinge richtig zu sehen.

Ja, wir nehmen immer an, die Wirklichkeit müsse den Regeln unseren erfunden Regeln der Logik folgen, wobei die näherliegende Ansicht die ist, daß die Sprache, die Begriffe, das Denken dem Wesen nach bestimmte Regeln haben, die in der Logik zum Ausdruck kommen. Die Logik oder die Ordnung hat aber nichts mit dem Prozeß der Wirklichkeit zu tun, sondern nur mit der Methode seiner Beschreibung; die Logik ist das Wesen des symbolischen Prozesses, den wir Sprache nennen, mehr nicht.

Haben Sie die Studien zu einer sterbenden Kultur gelesen?

Estes beginnt zu lachen.

Sie haben recht, ich habe sie gelesen. Aber allen Ernstes, ich meine, die Sprache ist als Mittel der Beschreibung durch ihre Unfähigkeit der Hauptproduzent menschlicher Schwierigkeiten. In ihr ist alles Übel.

Wir verstehen einander doch?

Schubert zieht an der Zigarette, bleibt stehen und schaut Estes gerade ins Gesicht.

Estes spürt etwas von Emotionalität, er spürt, daß einen Moment lang Gefühle verhandelt, ausgetauscht, Verständnis und Wille zum Verständnis gefordert werden.

Das hat nichts mit der Sprache zu tun. Eine Spur von Peinlichkeit liegt ihm nach diesem Satz im Ohr.

Wind kommt auf, und die Wellen brechen sich laut in den Felsblöcken der Kaimauer. Das Meer ist tiefblau, der Himmel wolkenlos. Man hört nur das monotone Geräusch der Wellen. Schubert betrachtet Estes und denkt über die letzten Sätze nach.

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. Glauben Sie, daß dieser Satz mit Psychologie zu tun 'hat?

Mit Psychologie?

Ja.

Für mich hat er nur mit ihr zu tun; er ist eine Absage ans Gefühl, eine Absage an die Metaforik des Seelenlebens. Für WITTGENSTEIN aber bedeutet er sicher einen Angriff auf die Sprache.

Darin sehe ich keinen Unterschied, aber bleiben wir bei der Interpretation der Absage, sie ist konkreter und von höherem Nutzen.

Sie wandern die Gasse hinauf, vorüber an einer Bar, aus der spanische Musik klingt, bis Estes vor einem mit unzähligen Muscheln verzierten Haus stehen bleibt.

Schauen Sie, schauen Sie, das Haus.

Schubert ist in Gedanken versunken. Die Interpretation eines Satzes, der selbst eine Interpretation darstellt, nimmt ihn gefangen. Seine Nachdenklichkeit ist ein eigenartiges Phänomen. Es ist ein Streben nach Autismus, der Drang, sich abzusondern, allein zu sein, ein Bedürfnis, die Welt in Gedanken zu erleben. Er hat kein Interesse an dem, was passiert. Er hat die Welt im Kopf, ist begeisterungslos weil es ihm an Neuigkeiten mangelt. Estes zweifelt, ob für Schubert so etwas wie Überraschungen überhaupt möglich sind. In seinen Augen war er stets erwartungslos. Seine Gedankenwelt macht das Neue zu Gebrauchtem, zu abgestandenem Material. Die Außenwelt ist für ihn ein reizloser Auslöser von Gedanken. Der Autismus ersetzt ihm die Umwelt, das Desinteresse an der Umgebung ist die Folge seines Denkens. Er hat das Einfache verloren.

Gehen wir? Es wird kühl.

Schubert überhört die Aufforderung. Er schaut am Haus vorbei auf das offene Meer hinaus.

Diese Abwesenheit, diese Geistesabwesenheit hat Estes oft beunruhigt; beunruhigt, weil sie ihn an eine Krankheit erinnerte.

Wir leiden an einem seltsamen Zustand, sagt Schubert plötzlich halblaut, ein Zustand, den man fast als Krankheit ansehen kann. Eine Krankheit mit dem Namen Sprache. Nichts von alldem läßt sich sagen, was gesagt werden muß. Die Krankheit des Sprechens, des Denkens, die Krankheit der ungeklärten Begriffe. Tod heißt Sprachlosigkeit, Trennung, Abstoßung, Entfernung vom anderen.

Die Krankheit besteht in der Reduktion der menschlichen Möglichkeiten. Die Abstoßung zweier Magnetkugeln. Sprechen heißt Anziehung. Stehen die Pole falsch, das heißt, haben wir die falschen Begriffe, ist eine Berührung unmöglich. Aber auch im umgekehrten Fall ist Sprache nicht mehr als eine kurze Berührung, eine Berührung, die nicht das Wesentliche, nicht die Form ändert. Bekräftigung, Verstärkung, Einreden, Ausreden, Reden. Ein Verstärker definiert sich in der Änderung der Auftrittswahrscheinlichkeit des kontingenten Verhaltens. Das kontingente Verhalten ist die Sprache, das Sprechen. Die Sprache beeinflußt das Sprechen, das Sprechen die Sprache. Ein übler Zirkel.

Schauen Sie das Haus, wiederholt Estes, um Schubert von seinen Gedanken abzulenken.

Schubert blickt auf das Haus.

Seltsam dieses Haus, seltsam.

Das Haus ist über und über mit Muscheln bedeckt; geordnet, nach Farben verteilt, bildet die Unzahl der Muscheln selbst ein ähnliches Gebilde. Erdfarbe, Braun, Gelb, Rot und Ocker liegen neben Blau und Weiß.

Eine Muschel bietet dem Tier Platz und Schutz, denkt Estes. Ein Haus in der Form, in der Art des Symboles eines Hauses. Schutz, durch Symbolik verstärkt. Symbolische Architektur. Psychologie und Architektur. Ohne Begriffe, ohne die Wertigkeit von Symbolen ist es ein Haus. Die Sprache als Ausdruck der Architektur. Sprachlose Architektur ist reiner Funktionalismus.

Seltsam dieses Haus, sagt Schubert; das Unglück des Erbauers war sein Individualismus.

Unglück?

Ja, Unglück. Als Architekt wäre er bekannt geworden. Ohne Beruf, ohne Bezeichnung ist er skurril, ein Einzelgänger, ein Mensch mit störender Eigenwilligkeit, ein Störfaktor im Gefüge der Architektur.

Denken Sie an Gaudi, an den Parque Guell, die Sagrada Familia, an den Wahnsinn, die Phantasie seiner Architektur. Die Casa Mila. Die Abschaffung der Ordnung. Die Rundung, der geschwungene Bogen zum Gesetz erhoben. Palmen aus Stein, überwachsen von Efeu.

Gaudi war Architekt, zum Glück seiner Nachwelt.

Vom Produkt her kommt es auf dasselbe hinaus. Die Klassifikation, die Berufsbezeichnung; die Sprache privilegieren den Autor, verwandeln Eigenwilligkeit und Skurrilität in Qualität und in anerkannte Architektur.

Die Sprache als Schutz vor der Wirklichkeit. Damit sind wir wieder beim Thema. Sprache und Ordnung. Ordnung und Klassifikation, sprachliche Klassifikation. Begriffe bestimmen die Ordnung.

Sie sagen das so, als wäre die Wirklichkeit mit dem Wahnsinn gleichzusetzen und die Erfindung des Denkens, der Gebrauch der Sprache das einzig ordnende Element in der Welt.

In der Sprache definiert sich die Wirklichkeit. Im Sprachgebrauch unsere Ordnung. Der Wahnsinn aber ist ebenfalls ein Produkt des Denkens, eine Folge der Sprache. Nur ignoriert der Wahnsinn den Sprachgebrauch, er negiert die Ordnung.

Sprache und Sprachgebrauch sind jedoch auch im gleichen Maße Quellen des Glücks und der Zuf riedenheit.

Sie meinen die Vorstellungen, die durch die Sprache verursacht werden.

So kann man es nennen.

Sie sind ein Solipsist.

Estes spürt die Ironie in Schuberts Satz und lächelt. Meinen Sie?

Solipsismus heißt, an die Sprache gebunden sein, auf die Bilder der Sprache vertrauen, sie als Wirklichkeit akzeptieren. Alles bleibt innerhalb eines Begriffsfeldes, nichts ist vergleichbar.

Ich habe mich damit abgefunden, klassifiziert zu werden. Ich sehe alles konkreter, nicht so kompliziert wie Sie; die Vermeidung des Komplexen, die Vermeidung der schwankenden Hypothesen schafft Zufriedenheit und verhindert Probleme. Ich glaube nicht, was ich spreche, sondern was ich sehe, wenn Sie allerdings meine Sinne als etwas Privates betrachten, bin ich tatsächlich Solipsist.

Sie sehen die Dinge, fassen Sie aber in der Sprache. Ich bin damit zufrieden, wie ich es mache.

Geschätzter Freund, ich wünsche mir Ihre Zufriedenheit, verstehen Sie mich nicht falsch; aber es liegt einfach nahe, was ich sage und denke, es liegt in mir.

Das glaube ich Ihnen, trotzdem sind die Dinge einfacher, als Sie annehmen.

Schubert reicht Estes eine Zigarette und gibt ihm Feuer. Estes macht einige Züge und wendet sich zum Gehen.

Kommen Sie, es wird dämmrig, von oben hat man die beste Aussicht, wir wollen noch etwas sehen.

Sie beginnen die schmale Straße hinaufzuwandern. Die Schatten sind härter geworden, zwischen den Häusern liegt die Dämmerung. Wortlos gehen sie nebeneinander her. Estes ist von unsteter Neugierde erfüllt. Alles, jedes Detail interessiert ihn.

Die Einfachheit des Südens. Die Mauern sind gekalkt, die Fenster ohne Rahmen. Löcher in den Wänden. Wind kommt auf und fegt einzelne umhierliegende Papierfetzen durch die Luft. Die Gasse führt steil aufwärts. Sie ist in geometrischen Mustern mit Steinen belegt. Die Ritzen der Fugen sind mit Zement ausgegossen. In unregelmäßigen Abständen laufen Wasserrinnen über die Straße Ein offenes Kanalsystem. In der Mitte der Straße sieht man Fahrspuren, Zeichen dafür, daß der Weg alt und lange mit Fuhrwerken befahren worden ist.

LITERATUR - Helmut Eisendle, Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand, Salzburg 1976