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Relative Vielfalt
Leopold von Ranke

  Nicht damals hat man von einer Weltliteratur geredet, als die französische Europa beherrschte; erst seitdem ist diese Idee gefaßt, ausgesprochen und verbreitet worden, seit die meisten Hauptvölker von Europa ihre eigene Literatur selbständig und oft genug im Gegensatz miteinander entwickelt haben. Ist es mir erlaubt, ein kleines Verhältnis mit den großen zu vergleichen, so möchte ich daran erinnern, daß nicht diejenige Gesellschaft Genuß und Förderung gewährt, wo einer das Wort führt und die Unterhaltung leitet, noch auch die, wo alle auf gleicher Stufe oder, wenn man will, in gleicher Mittelmäßigkeit nur immer dasselbe sagen. Da erst fühlt man sich wohl, wo sich mannigfaltige Eigentümlichkeiten, in sich selber rein ausgebildet, in einem höheren Gemeinsamen begegnen, ja wo sie dies, indem sie einander lebendig berühren und ergänzen, in dem Moment hervorbringen. Es würde nur eine leidige Langeweile geben, wenn die verschiedenen Literaturen ihre Eigentümlichkeit vermischen, verschmelzen sollten. Nein! die Verbindung aller beruth auf der Selbständigkeit einer jeden. Auf das lebendigste und immerfort können sie einander berühren, ohne daß doch eine die andere übermeistert und in ihrem Wesen beeinträchtigt. Nicht anders verhält es sich mit den Staaten, den Nationen. Entschiedenes positives Vorwalten einer einzigen würde den andern zum Verderben gereichen. Eine Vermischung aller würde das Wesen einer jeden vernichten. Aus Sonderung und reiner Ausbildung wird die Harmonie hervorgehen.

LITERATUR, Leopold von Ranke, Die großen Mächte, Werke Bd. 33/34, Leipzig 1885