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MAX ERNST MAYER
Rechtsnormen und Kulturnormen
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"Wer sich überzeugt hat, daß das Gesetz dem Richter befiehlt, wird von keinem Rechtssatz eine Gemeinverständlichkeit verlangen. Daß die Gesetze deswegen noch nicht dunkel zu sein brauchen, daß sie keine Geheimlehre für Juristen sein sollen, das bedarf keiner Hervorhebung. Aber der Einwand hat uns von unserem Weg abgebracht. Das geltende Recht haben wir ins Auge gefaßt und haben uns vergegenwärtigt, daß es weit von Gemeinverständlichkeit entfernt ist; es ist abgefaßt als eine Instruktion für Juristen, nicht als eine Unterweisung des Volkes. Somit steht fest: Wie das Volk nichts vom Gesetz, so weiß das geltende Gesetz nichts vom Volk; die beiden kennen sich nicht."

"Ein Wucherer steht vor Gericht, er hat es nicht gewußt, daß seine Handlungsweise dem Staat strafbar erscheint; der Richter sagt ihm, Du weißt, daß Unkenntnis des Gesetzes nicht vor Strafe schützt, - aber ihm zu sagen, das Gesetz spricht zu mir, nicht zu Dir, Dich geht es gar nichts an, das kann der Richter nicht wagen."

"Fest steht die Tatsache, daß die Gesetze nicht Befehle an die Untertanen sind. Wir wollen nun wissen, warum die Gesetze, obwohl sie sich nicht an die Bürger richten, doch für die Bürger verbindlich sind. Wir wollen also eine befriedigende Erklärung dafür finden, daß jeder nach geltendem Recht beurteilt wird; wir wollen eine Rechtfertigung des Rechts."

"Nur vom Standpunkt des Individuums kann das Problematische an der verpflichtenden Kraft des Gesetzes gesehen und gelöst werden. Die Rechtfertigung des Rechts und in Sonderheit die Verbindlichkeit der Gesetze beruth darauf, daß die Rechtsnormen übereinstimmen mit den Kulturnormen, deren Verbindlichkeit das Individuum kennt und anerkennt."


Vorwort

Die vorliegende Studie ist in der Hauptsache meiner Vorlesung über Rechtsphilosophie entnommen; sie streft als Teil eines Ganzen eine Fülle von Fragen, ohne sie zu erledigen. Wenn ich allen Problemen, die in die folgenden Ausführungen hineinspielen, hätte nachgehen wollen, so hätte ich ein System der Rechtsphilosophie oder eine systematische Darstellung des Strafrechts veröffentlichen müssen, je nach der Richtung, in der ich weiter gegangen wäre. Da diese Art von Unvollständigkeit jeder monographischen Behandlung von grundsätzlichen Fragen anhaftet, hat sie mir zu Bedenken keinen Anlaß gegeben. Im übrigen habe ich versucht, in der Entwicklung und Prüfung der Gedanken, die das Thema dieser Abhandlung bilden, keine Lücken zu lassen. Und wenn die Ausführungen hierbei vielleicht breiter geraten sind, als es in Monographien üblich ist, so erklärt sich dies aus dem Bestreben, diese Studie so zu gestalten, daß sie für jeden Juristen, namentlich auch für die Studierenden lesbar ist. Ich glaube nämlich, daß sich der Mangel an Interesse für rechtsphilosophische Fragen zum großen Teil darauf zurückführt, daß unsere rechtsphilosophische Literatur den Lesern zu wenig entgegenkommt.

Der erste Teil der folgenden Erörterungen steht unter dem Einfluß der Rechtsphilosophie JHERINGs. Da aber mehr die Prinzipien als die Einzelheiten von JHERING beeinflußt sind, habe ich die Abhängigkeit im einzelnen nicht gehörig zum Ausdruck bringen können. Infolgedessen nennt das Vorwort den Mann, auf den sich diese Studie in erster Linie berufen muß und berufen darf.

Die Aufgabe, mich mit anderen Meinungen ausdrücklich auseinanderzusetzen, habe ich mir nur in geringem Umfang gestellt; dagegen habe ich mich bemüht, meine Stellung zur Literatur in der Begründung der eigenen Auffassung klarzulegen. Diese Methode, die bei der Behandlung spezieller Fragen mehr Mängel als Vorzüge hat, ist nach meiner Überzeugung angebracht für Erörterungen, die allgemein sein wollen.



Einleitung
Vom Wesen des Strafgesetzes

Wer dies und das tut, der wird so und so bestraft. Das ist die Grundform aller Strafgesetze; an einen Tatbestand ist eine Strafdrohung geknüpft. Von unbestimmten Tatbeständen ist das Strafrecht fortgeschritten zu fest umrissenen, von absolut bestimmten zu relativ bestimmten, zu Strafrahmen. Das ist ein Grundzug in der Entwicklung des Strafrechts, der an Bedeutsamkeit der Geschichte der strafbaren Handlungen und der Strafarten um nichts nachsteht. Die scharfe Umgrenzung des Tatbestandes, die es eindeutig machen will, welche Handlungen strafbar sind, und die Ansetzung eines Mindest- und Höchstmaßes, die für die Bemessung der Strafe viele Möglichkeiten läßt, geben den Strafgesetzen unserer Epoche das Gepräge. Aus dieser Gestaltung der Gesetze erwachsen dem Strafrichter zwei Aufgaben, die an sein Können grundverschiedene Anforderungen stellen: zu prüfen, ob die zu beurteilende Handlung einen gesetzlichen Tatbestand erfüllt, und, wenn er diese Frage entschieden hat, innerhalb des zutreffenden Strafrahmens die Strafe auszumessen. Bei der Lösung der ersten Aufgabe ist der Strafrichter der gebundenste, bei der Lösung der zweiten der freieste Richter. Als Jurist unterzieht er sich der ersten Aufgabe, unterstützt von der Strafrechtswissenschaft, die ihm über jedes Wort, das im Gesetz vorkommt, Kommentare vorlegt, - als Kenner der Menschenseele und als Kriminalist tritt er an die zweite Aufgabe heran, meistens ohne sich auf wissenschaftliche Prinzipien zu stützen; Herkommen und gesunder Menschenverstand weisen den oft ziellosen Weg. In dieser Arbeit, die das Gesetz dem Gericht überträgt, ist vieles ungesund; man hat es in den letzten Jahrzehnten deutlicher und deutlicher erkannt und will Verbesserungen einführen. Eines werden wir festhalten: den Richter an einen präzisen gesetzlichen Tatbestand streng zu binden.

Keine Strafe ohne Gesetz! Wir sind uns des Wertes dieses Grundsatzes wohl bewußt. Willkür würden wir es nennen, wenn das Gericht die Strafbarkeit einer Handlung, an die kein Gesetz je gedacht hat, aufgrund seines Gutdünkens behaupten wollte. Nur auf einem verfassungsmäßigen Weg und nur unabhängig von tatsächlichen Vorkommnissen, also nur durch die Gesetzgebung können Handlungen unter Strafe gestellt werden. Die Gesetze sind Garantien der bürgerlichen Freiheit, sie schützen den Bürger vor der schrankenlosen Macht des Staates und der Staatsorgane und stellen ihn in den Schutz der eingeschränkten Staatsmacht, d. h. in den Schutz des Rechts.

Nur dem Gesetz untertan zu sein, über diese Freiheit wachen die Bürger des Rechtsstaates als über ihr höchstes politisches Gut. Bis ins Kleinste geht diese Wachsamkeit; ein vieldeutiger Paragraph wird angefeindet und (nicht ohne Übertreibung) als Gefährdung des gesicherten Rechtszustandes geschmäht. Am wirksamsten wird aber die ausschließliche Herrschaft des Gesetzes unterstützt von der Jurisprudenz. Es ist ihre eigentlichste Arbeit, in minutiösen Interpretationen den Willen des Gesetzes klarzustellen und dadurch jede Anwendung, die demselben fremd ist, auszuschließen. Dabei wird dann manches formalistische Ergebnis zutage gefördert, eine Schwäche die der Stärke des Prinzips anhaftet (1). Und wenn der Laie sich über den Formalismus der Jurisprudenz zuweilen entsetzt, so übersieht er, daß dieser Formalismus nichts anderes ist als die rigorose Durchführung des Grundsatzes, den er schätzt: das Gesetz als eine Schranke der Allmacht des Staates jeder Willkür zu entziehen.

Mit dieser Auffassung der Gesetze, namentlich der Strafgesetze, steht eine zweite, die nicht weniger allgemein und noch mehr eingewurzelt ist, in einem unauflöslischen Widerspruch. Ich meine die Auffassung, daß die Strafgesetze Befehle enthalten, die an das Volk gerichtet sind. Das Strafgesetz sagt allen, denen es gilt, ihr sollt nicht töten, nicht falsch schwören, nicht stehlen usw. Eine ungeheuerliche Fiktion! Was an ihr juristisch unhaltbar ist, das hat BINDING, freilich auf Kosten anderer Wahrheiten, berichtigt. Nicht das Strafgesetz, sondern der Rechtssatz, der demselben zugrunde liegt und ihm somit vorausgeht, enthält den Befehl an die Untertanen. Diese Rechtssätze nennt BINDING  Normen.  Das Strafgesetz lautet, wer vorsätzlich tötet, soll Strafe erleiden; in ihm liegt nach BINDING überhaupt kein Befehl, sondern die feierliche Aussprache der Rechtswillenserklärung, das  ita ius esto [So soll es rechtens sein! - wp]. Einen Befehl läßt das Recht nur in der Norm ergehen, in jenen Sätzen, in denen es dem Verhalten der Menschen eine Richtschnur gibt und Gehorsam beansprucht. "Du sollst nicht töten", so lautet die Norm; sie gehört begrifflich nicht dem Strafrecht an, denn sie schafft kein Strafrechtsverhältnis; die Norm ist ein Satz des öffentlichen Rechts, des gesetzten oder des ungesetzten, dessen Bedeutung sich darin erschöpft, vom Volk Gehorsam zu verlangen.

Es ist deutlich, daß die Normentheorie in vielen Beziehungen die Ansicht, das Strafgesetz wende sich an das Volk, berichtigt; der Verbrecher handelt nicht gegen den Strafrechtssatz, sondern in Übereinstimmung mit dem ersten Teil desselben; das Gebot, dem er zuwiderhandelt, das Gesetz, welches er übertritt, ist nicht der Strafrechtssatz, sondern der ihm zugrundeliegende Rechtssatz. Die weittragenden Folgerungen, die sich für die Normentheorie von ihrem Ausgangspunkt aus ergeben, mögen hier auf sich beruhen. Denn in der Frage, die hier zur Sprache kommen soll, ob das Gesetz an das Volk Befehle richtet, ist die Normentheorie nur eine verbesserte Auflage der hier zu bekämpfenden allgemeinen Ansicht.

Alle Gesetze wenden sich an die Verwalter der Gesetze;  die Organe des Staates, die berufen sind, die Gesetze zu handhaben, sind die einzigen Adressaten  (2)  der Befehle, die das Gesetz gibt.  (3) An den Richter, - um es wenn auch ungenau, so doch anschaulicher zu sagen, - an den Richter wendet sich das Gesetz. Die Rechtssätze regeln das Verhalten des Richters, für ihn sind sie Normen, Rechtsnormen, weil sie Sätze des objektiven Rechts sind. - Diese Behauptung soll für alle Gesetze, nicht nur für die Strafgesetze gelten, im folgenden aber wenn nicht ausschließlich, so doch hauptsächlich für die Strafrechtssätze erhärtet werden.


Erster Teil
Die Entwicklung der Theorie

Erstes Kapitel
Die falsche Adresse der Rechtsnormen

Es bedarf keiner großen Weisheit und keiner Gelehrsamkeit, um die Richtigkeit der aufgestellten Behauptung einzusehen; es genügt, die Tatsachen des Lebens und der Rechtspflege unbefangen anzusehen; dann erweist sich die Ansicht, daß das Gesetz an die Untertanen adressiert ist, als eine große Fiktion, und der Bruch mit dieser Anschauung als Befreiung von einer Fessel, die auf vielen Wegen die Schritte des Forschers hemmt (4).

I. Der Behauptung, das Gesetz wende sich an das Volk, steht die unbestreitbare Tatsache entgegen, daß das Volk die Rechtssätze nicht kennt. Jedes Wort hierüber ist zu viel. Wenn einige einiges vom Recht wissen, so berührt das nicht das Faktum, daß die große Menge das Recht nicht kennt. Freilich weiß jeder, daß es verboten ist, Leib und Leben, Freiheit und Ehre der Mitmenschen zu schädigen, jedem ist es bekannt, daß er Pflichten aller Art beobachten muß, aber diese Kenntnis stammt nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Erziehung, die jedem in der Schule und im Elternhaus, im Beruf und im Verkehr zuteil wird; auf die kulturelle Tradition gründet sich die Kenntnis der Gebote und Verbote, die dem Recht angehören. Ich werde nachher hierauf zurückkommen; zunächst soll nur die Tatsache, daß die Gesetzesuntertanen die Gesetze nicht kennen, festgestellt sein. Ja, es ist meistens ein böses Zeichen, wenn ein Nichtjurist über eine auffällig eingehende Gesetzeskenntnis verfügt; die Strafgesetze sind den gewieften Verbrechern bekannt, der brave Bürger sieht es als eine Zumutung an, wenn er im Strafrecht Bescheid wissen soll. Dunkle Ehrenmänner sind es, die mit dem Geheimwissen des Wechsel- und Handelsrechts, mit Bestimmungen über den Viehhandel und unlauteren Wettbewerb intim vertraut sind; der Kaufmann ohne Furcht und Tadel weiß vom Recht, das ihn angeht, nur soviel als er aus seinem Beruf, aus dem allgemeinen Verkehr und aus Ereignissen des Geschäftslebens kennengelernt hat. - In den letzten Sätzen liegt etwas von der Übertreibung, die in allgemeinen Erörterungen dieser Art nicht gut vermeidbar ist; aber es gilt nicht, die tatsächliche Sachlage im Einzelnen getreu zu schildern, sondern sie ihrer prinzipiellen Bedeutung nach zu erfassen.

Wie aus dem Zustand, den wir im Volk vorfinden, so ist aus den Gesetzen selbst zu entnehmen, daß sie nicht an die Untertanen adressiert sind. Ich will mich hier nicht auf die Rechtsnormen berufen, deren Inhalt sich  unverkennbar  an die Verwalter des Gesetzes wendet, also nicht auf die Mehrheit der prozessualen Normen, die dem Richter, dem Staatsanwalt, dem Vollstreckungsbeamten sagen, was er tun soll. Das  thema probandum [was nicht zur Debatte gehört - wp] besteht nicht darin, daß sich  einige  Rechtssätze an die Organe des Staates richten; das hieße offene Türen einrennen. Von den Gesetzen schlechthin ist die Rede, oder da eine Auseinandersetzung mit den Gesetzen aller Zeiten hier nicht stattfinden kann, von den deutschen Gesetzen unserer Tage.

Sie füllen viele Folianten; allein die Strafgesetze des deutschen Reiches machen einen an tausend Seiten starken stattlichen Band aus. Und jedes neue Jahr bringt neue Gesetze; neben der Strafgesetzgebung des deutschen Reiches steht die der Einzelstaaten. Es ist eine Phrase, auch nur von den Strafgesetzen zu behaupten, sie seien an die Untertanen gerichtet; schon die unübersehbare Menge zeugt gegen diese Annahme.

Dieses Argument ist jedoch nicht ausschlaggebend; vergegenwärtigen wir uns aber, daß nur ein mühsames Studium den Sinn der Gesetze erschließt, daß der Laie, der das Gesetz liest, es nicht versteht, so ergibt sich:  Unsere Gesetze müßten von Grund auf anders redigiert sein, wenn sie der Auffassung, Richtschnur zu seine für die Untertanen, auch nur Raum geben sollten.  Um ein Beispiel herauszugreifen: Das Strafgesetzbuch gibt im allgemeinen Teil eine Vorschrift, nach welcher der Versuch eines Verbrechens immer strafbar ist, der Versuch eines Vergehens jedoch nur in den Fällen bestraft wird, in denen das Gesetz es ausdrücklich bestimmt. Niemand kann ohne Rechtsstudium erkennen, was unter Verbrechen und Vergehen zu verstehen ist; niemand kann ohne Studium aus dem Gesetz entnehmen, welche Delikte er straflos versuchen darf und welche nicht. Müßte nicht im Gesetz, das zum Volk sprechen will, bei Mord, Raub, Brandstiftung etc. jedesmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß sich jeder, der die Ausführung auch nur anfängt, strafbar macht? Wenn aber der Gesetzgeber sich diese Methode aneignen würde, dann bekämen wir schwerfällige, unhandliche Gesetze; man müßte alles, was die Handhabung des Rechts vereinfacht, preisgeben, man würde Gesetze schaffen, die an Handlichkeit für die Praxis verlieren, was sie an Verständlichkeit für das Volk gewinnen.

Mancher wird hier einwenden wollen, ein schlecht praktikables Gesetz ist immer noch besser als ein schlecht verständliches; die Gesetze  sollen  so abgefaßt sein, daß der Mann aus dem Volk aus ihnen eine Belehrung über seine Rechte und seine Pflichten schöpfen kann, sie sollen gemeinverständlich sein. Das ist eine Forderung, die mit der Annahme, die Gesetze erteilen dem Untertanen Befehle, steht und fällt. Wenn es sich im Verlauf dieser Erörterungen herausgestellt haben wird, daß auch nicht der geringste Grund dafür spricht, die Annahme, von der man ausgeht, aufrecht zu erhalten, so wird man die Forderung, bei der man anlangt, als unberechtigt fallen lassen. Wer sich überzeugt hat, daß das Gesetz dem Richter befiehlt, wird von keinem Rechtssatz eine Gemeinverständlichkeit verlangen. Daß die Gesetze deswegen noch nicht dunkel zu sein brauchen, daß sie keine Geheimlehre für Juristen sein sollen, das bedarf keiner Hervorhebung. Aber der Einwand hat uns von unserem Weg abgebracht. Das geltende Recht haben wir ins Auge gefaßt und haben uns vergegenwärtigt, daß es weit von Gemeinverständlichkeit entfernt ist; es ist abgefaßt als eine Instruktion für Juristen, nicht als eine Unterweisung des Volkes. Somit steht fest:  Wie das Volk nichts vom Gesetz, so weiß das geltende Gesetz nichts vom Volk; die beiden kennen sich nicht. 

II. Es bleibt nun noch die Möglichkeit, den Tatsachen abzutrotzen, was sie freiwillig nicht hergeben, es bleibt möglich, das Dogma, nach welchem die Rechtsnormen an die Untertanen adressiert sind, als Fiktion zu verteidigen. Oftmals hat die Rechtswissenschaft bewußtermaßen Fiktionen aufgestellt, und man muß einräumen, daß dieses Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt ist. Die Jurisprudenz sucht durch Fiktionen dasselbe zu erreichen wie die Philosophie durch Postulatie. Wenn nämlich eine theoretische Einsicht zu einem Ergebnis führt, dessen Abweisung ein unaufgebbares praktisches Bedürfnis ist, so muß man sich zu einem Gedanken entschließen, der zwar Tatsachen ignoriert, aber das unmögliche Ergebnis abweist und das Resultat, dessen man bedarf, sichert. "Die Not macht erfinderisch," sagt RUDOLF von JHERING an einer Stelle (5), die die Fiktionen rechtfertigt und der Gefahr, aus der Not eine Tugend zu machen, nicht ganz entgeht. Es ist nun jedesmal ein wissenschaftlicher Fortschritt gewesen, "Fiktionen durch die Realität der Dinge zu ersetzen" (LENEL); ohne Not darf man sich zu einer Fiktion nicht entschließen. Unnötig aber ist die Fiktion, wenn entweder das Bedürfnis, das angestrebte Resultat zu sichern, bloß ein vermeintliches ist, oder wenn die theoretischen Einsichten, die ihm entgegenstehen, falsch sind.

In dem Problem, mit welchem wir beschäftigt sind, drängt die bange Frage, wie man den Bürger nach Gesetzen richten darf, die nicht an ihn gerichtet sind, zu der Fiktion, das Gesetz sei an ihn adressiert. Ein Wucherer steht vor Gericht, er hat es nicht gewußt, daß seine Handlungsweise dem Staat strafbar erscheint; der Richter sagt ihm, Du weißt, daß Unkenntnis des Gesetzes nicht vor Strafe schützt, - aber ihm zu sagen, das Gesetz spricht zu mir, nicht zu Dir, Dich geht es gar nichts an, das kann der Richter nicht wagen. Wenn das Gesetz dem Angeklagten einen Befehl nicht erteilt hat, ihm also seine Handlung nicht verboten hat, dann kann man ihn auch nicht bestrafen, weil er den Rechtssatz übertreten hat. Und so darf man sich scheinbar nicht darum kümmern, wieviel oder wiewenig das Volk von der Rechtsordnung weiß, und ob die Rechtsnormen überhaupt bekannt sein können, man muß fingieren, daß das Recht an das Volk adressiert ist. Man nimmt vielleicht seine Zuflucht zu einem allgemeinen Befehl: Jeder Bürger soll die Gesetze kennen. Dann ist man gedeckt; ist einer diesem Gebot nicht nachgekommen, so hat er sich den Schaden selbst zuzuschreiben.

Man darf diese Anschauungsweise wohl als die herrschende bezeichnen. Die stärkste ihrer Stützen ist die Publikation der Gesetze. Diese bedeutsame Tätigkeit des Staates vermag es allem Anschein nach glaubhaft zu machen, daß jener allgemeine Befehlt tatsächlich vorhanden ist. Vergleicht man aber mit der Publikation von Gesetzen irgendeine Veröffentlichung, die wirklich in weiten Kreisen bekannt werden will, so erscheint die erstere jedenfalls als eine  dürftige  Art der Mitteilung.

Wenn die Verkündigung der Gesetze dem Zweck, das Gesetz allgemein bekannt zu machen dienen sollte, so müßte sie durchaus anders geartet sein als es der Fall ist; das Gesetz müßte in jeder Zeitung abgedruckt werden, es müßte angeschlagen oder öffentlich ausgelegt werden, es dürfte nicht bloß im Reichsgesetzblatt, das selbst von Juristen nur wenig gelesen wird, erscheinen. Eines ist somit von vornherein klar, daß die Verkündigung des Gesetzes dasselbe nicht bekannt macht; diskutabel ist einzig und allein die Frage, ob durch die Publikation nicht der  Schein  gewahrt wird, daß die Untertanen die Adressaten des Gesetzes sind.

Nehmen wir es einmal an. Kein vernünftiger Mensch legt einem Befehl verbindliche Kraft bei, wenn es ihm bekannt ist, daß die Person, welcher der Befehlt gilt, denselben nicht vernommen hat. Der Staat aber tut es, ihn kümmert es nicht, ob der Befehl denjenigen, welchem er erteilt ist, auch bekannt geworden ist, der Staat begnügt sich damit, daß durch die Publikation des Befehls der Anschein erweckt ist, als ob nun auch jeder den Befehl kenne. Der Staat behandelt wider besseres Wissen jeden Untertanen, als ob er das Reichsgesetzblat gelesen und verstanden habe. Wer wollte ernstlich diese ungeheuerliche Annahme als Grundlage unserer gesamten Rechtspflege verteidigen?  Wenn also auch die Publikation im Einklang steht mit der Fiktion des allgemeinen Imperativs, sie macht letztere doch um nichts befriedigender. 

In Wahrheit liegt auch das Wesen der Verkündigung des Gesetzes nicht in der Bekanntmachung; das geht schon daraus hervor, daß eine Bekanntmachung auf einem anderen als dem verfassungsmäßigen Weg, auch wenn sie die Kenntnis des Gesetzes auf das Wirksamste verbreiten würed, als Verkündigung staatsrechtlich ungültig wäre. Die Reichsgesetze können nur im Reichsgesetzblatt verkündigt werden (Artikel 2 der Reichsverfassung), jede andere Publikation ist staatsrechtlich null und nichtig. Die Verkündigung ist nichts anderes als der letzte Akt der Gesetzgebung, durch welchen in authentischer Abdruck des Gesetzes geschaffen und veröffentlich wird; der Minister trägt die Verantwortlichkeit für die Authentizität.  Durch die Herstellung dieses Gesetzestextes soll nicht das Gesetz, d. h. nicht sein Inhalt gemeinkundig gemacht werden, vielmehr soll authentisch erklärt werden, welcher Gesetzesinhalt echt ist.(6) Solange eine derartige Gesetzes-Urkunde fehlt, ist die Gesetzgebung nicht vollendet, auch wenn das Gesetz allgemein bekannt wäre, weil in jedem Rechtsstreit Zweifel geäußert werden könnten, ob der Gesetzestext, der der Entscheidung zugrunde gelegt werden soll, der verfassungsmäßig festgestellte und sanktionierte ist; die Publikation schließt diese Zweifel aus. Hiermit ist die Verkündigung ausreichend erklärt. Ich weise auch die für mich naheliegende Auffassung ab, daß die Verkündigung dazu bestimmt ist, den Beamten das Gesetz bekannt zu geben. Dieses Ziel ließe sich ebensogut und wahrscheinlich besser, auf anderen Wegen erreichen. In der Herstellung und Bereitstellung des authentischen Gesetzestextes erschöpft sich die Bedeutung der Publikation.  Welcher Gesetzestext echt ist, nicht das Gesetz wird gemeinkundig gemacht. 

Somit scheidet die Gesetzesverkündigung aus den Argumenten aus, die für die Feststellung der Adressaten des Gesetzes verwertet werden dürfen; (7) sie ist für unser Problem indifferent. Es würde wohl auch niemand, der den Befehl an das Volk verteidigen will, sich auf die Publikation berufen, wenn er zu dieser Verteidigung nicht gezwungen zu sein glaubte. Und die Verteidigung scheint unumgänglich, weil wir die Verhältnisse so denken müssen, daß es gerechtfertigt bleibt, Recht zu sprechen nach den Gesetzen, die das Volk nicht kennt. Wieder stehen wir vor der Fiktion: "Jeder Bürger soll die Gesetze kennen!" sie scheint der einzige Ausweg zu sein. "Unnötig aber ist die Fiktion, wenn das Bedürfnis, das angestrebte Resultat zu sichern, bloß ein vermeintliches ist." Das ist hier der Fall; nichts zwingt uns zu der Annahme, daß die Rechtsordnung nur verbindlich ist für denjenigen, der die Gesetze kennt oder kennen soll. Wir dürfen die Fiktion verschmähen, weil wir es können. Auf festerer, auf gesunder Grundlage ruht die verbindliche Kraft der Gesetze.


Zweites Kapitel
Der Grund der verpflichtenden Kraft
des Gesetzes

I. Wir fragen nicht, auf welchem  juristischen  Grund die Verbindlichkeit der Gesetze beruth. Für den Juristen ist jener Akt der Gesetzgebung, den man  Sanktion  nennt, das Ereignis, durch welches das Gesetz verbindlich gemacht wird. Die gesetzgebende Gewalt des Staates oder, was genau dasselbe besagt, die Staatsgewalt erteilt durch die Sanktion den Befehl, daß der Wortlaut der vorliegenden Urkunde Gesetz sein soll. Die Sanktion macht aus dem Gesetzesentwurf ein Gesetz und ist somit "der Kernpunkt des ganzen Gesetzgebungsvorgangs." (8)

Man beachte nun wohl, um nachher keinem Mißverständnis zu verfallen, daß der  Befehl,  der in der  Sanktion  liegt, keinen anderen Inhalt hat als diesen:  Die Sätze, die hier formuliert sind, sollen Gesetz sein. Die Erklärung, ita ius esto, diese Rechtswillenserklärung, ist in der Sanktion enthalten, und zwar nur in der Sanktion; sie wirkt im Gesetz fort, ist aber keine selbständige Leistung des fertigen Gesetzes.  Der in der Sanktion liegende Befehl löst vielmehr andere neue Befehle aus, nämlich die selbständigen im Gesetz enthaltenen Imperative (9). Diese sind nicht Rechtswillenserklärung, sind auch nicht "ein Anwendungsfall" derselben; wie könnte es einen Sinn haben, daß das Gesetz immer wieder von neuem erklärt: "Ich bin ein Gesetz, nicht bloß ein Entwurf!"?  Der Befehl, ita ius esto, ist ein einmaliger Vorgang, der nirgends anders am Platz ist als gegenüber der Urkunde, die zum Gesetz erhoben werden soll.  Ist aber der Entwurf Gesetz geworden, so behält dieser Befehl natürlich Geltung bis zur Aufhebung, kann aber niemals zu einer Funktion des Gesetzes werden. Das "Soll", das in den Gesetzen steckt, hat eine ganz andere Bedeutung; es enthält den Befehl des Staate an den Richter: "Wenn diese und jene Voraussetzungen erfüllt sind, dann sollst Du, das Organ, durch welches ich tätig werde, so und nicht anders verfahren und Urteilen."

II. Wir haben uns mit der Bedeutung der Sanktion auseinandersetzen müssen, nur um den Weg für die Lösung unseres Problems frei zu machen. Fest steht die Tatsache, daß jeder Bürger dem Gesetz untertan ist; jeder ist durch das Gesetz verpflichtet, d. h. er hat Pflichten, deren Nichtachtung gesetzliche Folgen hat. Und unter der Bedingung, daß unser Problem sich befriedigend löst, steht auch die Tatsache fest, daß die Gesetze nicht Befehle an die Untertanen sind. Wir wollen wissen, warum die Gesetze, obwohl sie sich nicht an die Bürger richten, doch für die Bürger verbindlich sind. Wir wollen also eine befriedigende Erklärung dafür finden, daß jeder nach geltendem Recht beurteilt wird; wir wollen  eine Rechtfertigung des Rechts.  (10)

Diese Rechtfertigung kann nicht vom Standpunkt des Staates, sondern nur von dem des Individuums aus gegeben werden. Denn daß es für den Staat notwendig ist, ein allgemein verbindliches Recht aufzustellen und zu handhaben, das hat keiner bezweifelt, das bedarf keiner Rechtfertigung. Wer sich vor dieser Notwendigkeit beugt, der überschlage die nächsten Seiten. Dieser Untersuchung aber kommt es darauf an, zu zeigen, warum es  dem Individuum  nicht als staatliche Willkür erscheinen muß, gerichtet zu werden nach Gesetzen, die es nicht kennt, noch zu kennen verpflichtet ist. Neben der Überzeugung von der Notwendigkeit des Rechts steht die Notwendigkeit einer Rechtfertigung. Vom Standpunkt des Staates kann man das Dasein des Rechts erklären, nicht aber es sich  befriedigend  erklären. Nur vom Standpunkt des Individuums kann das Problematische an der verpflichtenden Kraft des Gesetzes gesehen und gelöst werden.

 Die Rechtfertigung des Rechts und in Sonderheit die Verbindlichkeit der Gesetze beruth darauf, daß die Rechtsnormen übereinstimmen mit den Kulturnormen, deren Verbindlichkeit das Individuum kennt und anerkennt. 

Normen sind Regeln, und zwar Regeln praktischer Art, d. h. Anweisungen für das menschliche Handeln. Sie treten auf mit dem Anspruch maßgebend zu sein; sie wollen befolgt werden, sie sind also Imperative, entweder positive (Gebote) oder negative (Verbote). "Je nachdem der Imperativ bloß das Handeln im einzelnen Fall oder einen Typus des Handelns für alle Fälle einer gewissen Art vorzeichnet, unterscheiden wir konkrete und abstrakte Imperative. Letztere decken sich mit der Norm.  Die Norm ist demnach zu bestimmen als abstrakter Imperativ für das menschliche Handeln."  (11)

Von den Rechtsnormen scheiden wir die Kulturnormen.  Den Ausdruck "Kulturnormen" gebrauche ich als einen Sammelnamen für die Gesamtheit derjenigen Gebote und Verbote, die als religiöse, moralische, konventionelle, als Forderungen des Verkehrs und des Berufs an das Individuum herantreten. 

Wenn nun die Pflichten, die dem Einzelnen aus der Rechtsordnung erwachsen, identisch sind mit den Pflichten, die ihm von der Kultur auferlegt sind, so kann sich keiner beklagen, er werde nach Normen gerichtet, die ihm nicht mitgeteilt worden sind. Vielmehr wird jeder nach Gesetzen beurteilt, deren Verbindlichkeit er anerkannt hat;  seine Anerkennung bezieht sich nur nicht auf die in Rechtsform gegossene Norm, sondern auf die gleichlautende, die er aus der Kultur, unter der er lebt, kennen gelernt hat.  Daß die Gesetze, auch ohne daß sie sich an das Volk wenden, verbindlich sind, das wird uns soweit gerechtfertigt erscheinen, wenn die beiden Voraussetzungen,
    - daß das Individuum die Kulturnormen kennt und anerkennt,

    - daß die Rechtsnormen mit den Kulturnormen überstimmen,
in den tatsächlich gegebenen Verhältnissen verwirklicht sind.

1. Wird die erste Voraussetzung überhaupt von einem Zweifel angetastet? Das kann nur der Fall sein, wenn man die Richtigkeit eines allgemeinen Grundsatzes danach bemißt, ob derselbe auch den Erscheinungen, die sich als Ausnahmen bekennen, gerecht wird. Richtig aber ist ein Prinzip, wenn es in die Breite der Erscheinungen Licht und Einheit bringt; wenn es mit der einen oder anderen Tatsache, die an der Periperie des Kreises, den es erleuchten will, kollidiert, so mindert das nicht seine Richtigkeit. Immer und immer wieder wird "der positive Jurist" an der Rechtsphilosophie irre, weil er eine künstlerische Wiedergabe der Wirklichkeit beurteilt als ob sie eine Photographie sein sollte. -

Einen Menschen, der von den religiösen und moralischen Vorschriften nichts weiß, nennen wir einen Idioten. Der Zurechnungsfähige kennt seine Pflichten und erkennt sie an. Und wenn sich der eine oder andere lossagt von allgemein anerkannten Geboten, so weiß er doch, daß seine Privatmoral nicht anerkannt ist. Der Anarchist, der den Fürstenmord glorifiziert, weiß sehr wohl, daß er gegen die anerkannten Kulturnormen kämpft. Dieses Schicksal teilt mit dem sozial Minderwertigen der Heros, der nach einer neuen, besseren Ordnung lebt als der Bürger einen neuen Zeit (12). Ihn rechtfertigt das kommende Jahrhundert, die Rechtsordnung seines Zeitalters kann für ihn nicht gerechtfertigt werden. Wenn wir aber den Blick auf die große Menge des Volkes richten, dann finden wir in jedem Einzelnen das Bewußtsein seiner Pflichten und eine volle Übereinstimmung zwischen den von ihm und von der Allgemeinheit anerkannten Pflichten, wir finden in jedem Individuum ein Mitglied der Kulturgemeinschaft. An jeden treten die Forderungen der Kultur auf die mannigfachste Weise heran; die kulturelle Tradition, die in jedem Volk von Generation zu Generation getragen wird, hat tausend Wege. WEnn wir auf die Erziehung in Schule und Elternhaus, auf die Teilnahme am kirchlichen und öffentlichen Leben, auf die Lehren, die die Militärdienstzeit den einen, die Ausbildung im Beruf den andern zuteil werden läßt, verweisen, so ist das eine ganz grobe Schilderung eines unendlich feinen Vorgangs. Die kulturelle Tradition läßt sich im einzelnen nicht kontrollieren, wie die Luft dringt sie überall hin. Daß dieselbe es vermag, den Willen auf dem guten Weg zu halten, das behaupte ich natürlich nicht. Pflichten kennen und anerkennen heißt noch nicht sie befolgen wollen, geschweigen denn sie befolgen. Im Bewußtsein der Pflichten, von dem wir sprechen, liegt nichts von den moralischen Akzenten, unter denen das Pflichtbewußtsein steht. Die Seele als Wille und die Seele als Vorstellung, das sind zwei Welten. Die Grundlehre der hellenischen Ethik, die Tugend und Wissen einander gleichsetzt, hat der kritische Verstand längst als eine glückselige Naivität unter die unwiderbringlichen Jllusionen eingereiht.

2. Schreiten wir fort zu der Prüfung, wie weit die Rechtsnormen mit den Kulturnomen übereinstimmen. Hierbei ist zunächst daran zu erinnern, daß Religion, Moral und Recht im Kindheitsalter der Völker nicht differenziert sind, ungeschieden liegen im Geist der Zeit, wie sie auch heute noch in der Seele des Kindes und des naiven Menschen ein Ganzes sind. Ursprünglich stimmen Kultur- und Rechtsnormen nicht bloß überein, ursprünglich sind sie identisch. Allmählich aber hört das Volk oder der Stamm auf, die einzige soziale Einheit zu sein,  die  Gesellschaft zersplittert sich in Gesellschaften, es bilden sich immer mehr Interessen und Interessengemeinschaften, die sozialen Reibungsflächen werden größer und größer, die Gemeinschaften verlangen vom Individuum vielerlei, und so scheiden sich aus der einen Ordnung Ordnungen aus. In diesem Ausscheidungsprozeß sondern sich die Rechtsnormen von den Verhaltensmaßregeln, die der religiösen, der sittliche und konventionellen Ordnung angehören. Aber nicht ein besonderer  Inhalt  scheidet die eine Ordnung von der anderen; wie sollte es denkbar sein, daß irgendein Zeitalter eine Rechtsordnung aufrichtet, die nicht seiner Kultur entspricht! Die Inhalte aller sozialen Ordnungen stehen im gleichen Fluß; die eine kann wohl zeitweise hinter andern zurückbleiben, aber keine kann einen selbständigen Lauf nehmen. (13) Das Recht hat sich in diesem Ausscheidungsprozeß keine neuen Inhalte angeeignet, sondern eine eigene Form und eine eigene Garantie. Kulturforderungen, die sich längst bewährt haben, werden in eine neue Form gegossen; in steter technischer Vervollkommnung, deren wichtigstes Instrument die Aufzeichnung ist, wird die  Gesetzesform ausgeprägt; die Geschichte dieser Ausprägung ist die der  Absonderung der Rechtsnormen. (14) Und Hand in Hand mit dieser technischen Entwicklung geht eine zweite; das Recht wird dadurch selbständig, daß es sich  eine  der sozialen Garantien zur ausschließlichen Verwendung vorbehält. Eines der Mittel, die geeignet sind eine Gewähr dafür zu bieten, daß sich das Individuum in einer dem Willen der Gesellschaft entsprechenden Weise, d. h. sozial verhält, wird unter die Kautelen [Vorbehalte - wp] gestellt, die allein die Rechtsordnung bietet; diejenige soziale Garantie, die selbst der stärksten Garantien bedarf, weil sie dem Individuum die schwersten Wunden schlägt, wird in die Hand des Richters gelegt: ihr Symbol ist  das Schwert,  ihr Name  äußerer Zwang.  Die Normen, die die Handhabung physischer Zwangsmittel vorsehen, sind Rechtsnormen. (15) Und da im Laufe der Zeiten der Staat den äußeren Zwang monopolisiert hat, ist für uns nur das staatliche Recht eine Rechtsordnung im vollen Sinne des Wortes. Je mehr man sich in diese Entwicklung, von der hier nur die äußersten Umrisse skizziert worden sind, vertieft (16), um so natürlicher erscheint die Übereinstimmung von Rechts- und Kulturnormen. Eigentümlich ist dem Recht nur eine besondere Form, die Rechtsnorm, und dies, daß es an (kultur)normwidriges Verhalten  seine  Folgen, die Unrechtsfolgen des Rechts knüpft; aber es gibt kein Verhalten, welches der Staat verbietet, ohne daß es vor ihm die Kultur verboten hat.

Ein Überblick über die gegenwärtigen Verhältnisse zeigt uns das gleiche Bild wie das Werden des Rechts. Jeder Deutsche kennt die zehn Gebote. Nun ist aber die Zahl der Rechtssätze, die für den verbindlich sind, der die zehn Gebote kennt, nahezu unübersehbar. Vielleicht der größte und sicherlich der wichtigste Teil des Strafrechts enthält Gebote, die sich inhaltlich mit den zehn Geboten decken. Die zehn Gebote verhalten sich zum allgemeinen Strafrecht ähnlich wie die Kriegsartikel zum Standesstrafrecht der Militärpersonen. Auf die nicht-strafrechtlichen Gesetze soll diese Abhandlung nur nebenbei eingehen; nur soweit, um keinen Zweifel darüber zu lassen, daß die hier vertretenen Lehren, von geringfügigen Modifikationen abgesehen, für alle Gesetze gelten wollen. Daß die  grundlegenden  Gesetze des Zivilrechts mit Kulturforderungen übereinstimmen, das wird am ehesten zugegeben werden; zwar kann man sich zum Beweis hier nicht auf eine ehrwürdige Kodifikation berufen, die jeder in der Kindheit kennen lernt, wohl aber auf die zehn Gebote des täglichen Lebens, die elementaren Lehren, die jeder im Verzehr mit andern erlernt, wenn auch mancher in diesen Beziehungen erst durch Schaden klug wird. Anders ist es in prozessualen Fragen und in vielen formellen Dingen, die im Recht unumgänglich sind, anders, weil es keine allgemeinen, im Volk bekannte Forderungen gibt, auf welche sich diese Rechtsnormen gründen. Aber diesen besonderen Verhältnissen trägt das Rechtsleben auch in besonderer Weise Rechnung, etwa indem es die Parteien auf Anwälte anweist oder indem es dem Gericht die Pflicht auferlegt, den Angeschuldigten über seine prozessualen Rechte zu belehren, ihm kund zu geben, er könne gegen diesen Beschluß Beschwerde einlegen, er dürfe auf diese Frage die Antwort verweigern und dgl. mehr. Auch ist zu beachten, daß viele Formvorschriften gerade den Zweck haben, den  Unerfahrenen  sicher zu stellen; ihm ihn vor Nachteilen zu schützen, versagt die Rechtsordnung seinen in mangelhafter Form geschlossenen Geschäften die Gültigkeit (17). Und schließlich, daß derjenige, der das Recht kennt, dem Unkundigen in der Austragung von Rechtsstreitigkeiten überlegen ist, daß es ein Vorteil ist, das Gesetz zu kennen, - niemand will es bestreiten. Diese Überlegenheit des Rechtskundigen vermag unser Prinzip allerdings nicht zu rechtfertigen. Aus der Übereinstimmung der Rechts- mit den Kulturnormen rechtfertigt es sich, daß die Gesetze verbindlich sind auch für denjenigen, der nichts von ihnen weiß; die  Klugheit,  sich besseres Wissen und dadurch größere Macht zu verschaffen, rechtfertigt sich selbst; unser Problem hat mit diesen utilitaristischen Erwägungen nichts zu tun.

Nun gibt es aber gerade in der entwickelten Rechtsordnung unserer Tage, wie im Zivilrecht so im Strafrecht, derartig spezialisierte sachliche Bestimmungen, daß man sich scheinbar vergeblich nach Geboten der Kultur umsieht, aus denen diese Rechtsnormen die verbindliche Kraft entnehmen könnten. Sind nicht im Wechselrecht, in den Gesetzen über das Versicherungswesen, in der Gewerbeordnung, in den Nahrungsmittelgesetzen usw. Bestimmungen enthalten, die man einzig und allein aus dem Gesetz kennen lernen kann? Ist es nicht eine Ungeheuerlichkeit zu behaupten, der Margarinefabrikant werde von der Kultur über seine Pflichten belehrt? Leidet unsere Theorie nicht an diesen spezialisierten Bestimmungen Schiffbruch? 3. Vier Erwägungen werden die Frage verneinen.

a) Viele der Bestimmungen, die wir hier im Auge haben, ohne ihren Kreis näher zu umgrenzen, gehen von vornherein nur eine bestimmte Berufsart an; sie sind spezialisiert, weil sie für einen  besonderen  Verkehr gelten. Es kann nicht jeder in die Lage kommen, nach ihnen beurteilt zu werden, sondern nur der Handwerker oder der Frachtführer, der Seemann oder der Viehhändler, je nach dem Gesetz, um welches es sich handelt. In jedem Berufszweig gibt es aber eine Tradition, die jeden Einzelnen wie über die Technik des Berufes so darüber belehrt, was gang und gäbe, was verboten und geboten ist. Ein guter Teil der spezialisierten Bestimmungen ist nichts anderes als der Niederschlag dessen, was unter den ehrlichen Leuten des betreffenden Berufs gang und gäbe ist. Diejenigen, die das Gesetz angeht, kennen daher dasselbe, auch ohne es je in der Hand gehabt zu haben, sie kennen es aus den Forderungen, die ihnen die Erziehung in ihrem Beruf übermittelt hat. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß in vielen Fällen diese Übereinstimmung zwischen Rechtsnormen und der Kultur einer Berufsart vorhanden ist; zweifelhaft kann nur sein,  wie weit  dieser Einklang reicht, wie viele Fälle er deckt. Diese Frage lasse ich offen; denn an dem Punkt, an dem diese erste Erwägung uns im Stich läßt, führt die zweite das Prinzip durch und baut es aus.

b) Der Staat ist berufen, durch seine Rechtsordnung die Kulturentwicklung zu fördern; das Recht soll sich der Kultur gegenüber nicht bloß rezeptiv, sondern produktiv verhalten. Es  muß  also vorkommen, daß Gesetze erlassen werden, aus denen dem Individuum neue Pflichten erwachsen, aus denen sich Anforderungen ergeben, die nur aus dem Gesetz erfahren werden können. Es ist kaum möglich, hier ein Beispiel zu geben. Die kleine Zahl von Normen, die hier in Frage stehen, regeln alle bestimmte Beschäftigungsweisen, sie gelten dem Verhalten in einem besonderen Verkehr, (etwa dem Verkehr von Nahrungsmittel). Was aber in den Kreisen der Beteiligten als  neue  Pflicht empfunden wird, das kann nur der beurteilen, der dem Kreis angehört. Im Strafrecht vollends sind solche Gesetze mit neuem Inhalt kaum mit Bestimmtheit zu verzeichnen. Sie kommen häufig nur auf dem Gebiet des Polizeirechts vor und dieses scheidet zunächst aus unserer Betrachtung aus, um uns nachher zu beschäftigen. Keinesfalls aber darf man an Strafsatzungen denken, die den Wucher oder das Zuhälterwesen oder den Diebstahl an Elektrizität unter Strafe gestellt haben; wenn diese Handlungen auch vorher straflos waren, von der Kultur sind sie längst verpönt gewesen. Es ist also mehr die Vermutung, daß die Rechtsordnung Forderungen enthält, die die Kultur nicht kennt, und die grundsätzliche Überzeugung, daß sie solche Normen enthalten  muß,  welche uns weiter zu gehen heißen, und nicht so sehr eine auf Paragraphen verweisende Erfahrung. Und warum dem so ist, das wird sich im folgenden mehr und mehr klären. Ein kulturfremdes Gesetz kann sich auf die Dauer nicht halten. Nur das Gesetz, welches sich  einlebt,  d. h. von der Kultur rezipiert wird, vermag ein dauernder Bestandteil der Rechtsordnung zu sein. Hat sich aber das Gesetz in kurzer oder längerer Zeit eingelebt, so übermittelt die Kultur dem Interessenten die Kenntnis des Inhaltes; die neuen Forderungen sind schnell alt geworden. Es mag also wohl sein, daß ein Gesetzesinhalt eine Zeitlang nur aus der Rechtsordnung kennen gelernt werden kann, ist das Gesetz gut, so lebt es sich ein und wird fortan von der kulturellen Tradition gemeinkundig gemacht.  Der Einfluß, den das Recht auf die Kultur hat,  schließt die Lücke, die bisher noch unserer Theorie von der verpflichtenden Kraft des Gesetzes angehaftet hat, und zwar in folgender Weise:

Der Gegenüberstellung von Kultur- und Rechtsnormen, die wir verwerten, darf uns nicht übersehen lassen, daß Recht und Kultur keine Gegensätze sind. Das Recht ist einer der wichtigsten Kulturfaktoren. Wie die Gesetze nun ihren Inhalt aus der Kultur schöpfen, so lassen sie ihn auch in die Kultur einströmen. Das Recht selbst arbeitet mit an der Erhaltung und Weiterbildung von Brauch und Sitte, von Sittlichkeit und Rechtsgefühl. Die Übereinstimmung zwischen Rechts- und Kulturnormen erklärt sich aus der Wirkung der Kultur auf das Recht nur zum Teil,  sie erklärt sich vollständig aus der Wechselwirkung zwischen Recht und Kultur. 

Ein berühmter Philosoph hat uns vor dem Begriff  Wechselwirkung  gewarnt. Mit gutem Grund, auch hier würde das Wort einen logischen Fehler verhüllen, wenn wir das auf die Kultur einwirkende Recht und das Recht, auf welches die Kultur einwirkt, identifizieren würden. Indessen ist das Recht, welches aus der Kultur quillt, ein anderes als das Recht, welches sich in die Kultur ergießt. Wir müssen unterschieden zwischen dem Recht als Satzung, das ist das Gesetz und dem Recht als Tätigkeit, das ist die gesamte Tätigkeit der Staatsorgane, die sich in Befolgung von Rechtsnormen abspielt; die Rechtspflege, diesen hauptsächlichen (nicht einzigen) Akt des Rechtes als Tätigkeit wollen wir hier herausgreifen. Die Rechtssatzung also solche hat keinen unmittelbaren Einfluß auf die Kultur einer Nation; die Satzung ist in dieser Beziehung rein rezeptiv. Sie befindet sich entweder vom Tag ihres Inkrafttretens an in Übereinstimmung mit der Kultur, das ist der Regelfall, - oder sie wird im Verlaufe ihres Geltens von der Kultur rezipiert, das ist der Fall, von dem wir hier behaupten:  Nicht aus eigener Kraft erwirkt sich die Rechtssatzung die Aufnahme in die Kultur, sie ist nicht produktiv; produktiv ist in dieser Hinsicht die Rechtspflege.  Sie ist es, die die anfangs fehlende Übereinstimmung der Rechtsnormen mit Kulturnormen herbeiführt, indem sie durch eine stete Anwendung des Gesetzes im Volk oder in einem Interessentkreis die Anschauung kultiviert, die sich inhaltlich deckt mit dem Willen des Gesetzes. Natürlich wird auf diese Weise auch die Satzung  mittelbar  tätig, da ja in der Rechtspflege das  Gesetz  zur Anwendung gelangt. Wer aber beobachten will, wie sich rechtliche Anordnungen einleben, der muß dem Recht, welches auf dem Papier steht, den Rücken wenden und das Recht, so wie es eingreift in die Lebensverhältnisse, ins Auge fassen. Das geschriebene Recht bleibt der Menge immer fremd, seine abstrakten Bestimmungen werden der Allgemenheit nie ganz verständlich, das Gesetzbuch schafft sich der Bürger nicht an oder stellt es in einen vergessenen Winkel. Das Recht jedoch, welches das Gericht gesprochen hat, setzt sich fest bei denen, die an der Frage interessiert sind; daß der Nachbar seinen Prozeß verloren hat oder daß des Nachbars Sohn eingesperrt worden ist, - das ist das Recht, welches auf die Kultur einwirkt, welches die Sitten modifiziert, die sittlichen Anschauungen beeinflußt, dem Rechtsgefühl die Wege weist, welches als ungehörig brandmarkt, was in diesem oder jenem Kreis gang und gäbe gewesen ist. Allmählich vollzieht sich dieser Prozeß; widerwillig beugt sich die erste Generation dem Rechtszwang, gleichgültig folgt die zweite dem Willen des Staates, weil es alter Brauch ist, richtet die dritte Generation ihr Verhalten so und nicht anders ein. Die  rechtliche Tradition  macht aus den (guten) anfänglich kulturfremden Gesetzen Bestandteile der Kultur. Die rechtliche Tradition mündet ein in die kulturelle, ihre Wellen vermengen und verstärken sich.

Der Gesetzgeber weiß sehr genau, wie hoch diese rechtliche Tradition zu schätzen ist; er wahrt bei neuen Gesetzen die Kontinuität mit den alten, er scheut sich, dem Volk ein völliges Novum zuzumuten. Das Neue, und wäre es noch so rationell, würde bei der Menge kein Verständnis finden, es wäre nichts da, aus dem es seine verbindliche Kraft saugen könnte. Andererseits soll die Gesetzgebung kulturelle Fortschritte anbahnen und kann daher nicht beim Eingewurzelten still stehen. Es ist eine der schwierigsten Aufgaben der Gesetzgebung, die richtige Mitte zu finden zwischen dem Anschluß an die bestehenden Normen und der Erziehung des Volkes zu neuen Richtmaßen. Nur das Gesetz, das sich in die bestehende Kultur einfügt und doch diese Kultur weiterbildet, erfüllt seine soziale Mission vollkommen.

c) Die letzten Erörterungen haben den spezialisierten Bestimmungen, die sich einleben, gegolten; sie haben aberb auch schon erkennen lassen, wie über die Gesetze, die sich nicht einleben, zu urteilen ist. Es sind schlechte Gesetze, sie setzen "unrichtiges Recht", sie sind nicht zu rechtfertigen. Und das gleiche gilt von den Gesetzen, die sich ausgelebt haben, d. h. denjenigen, die von der Kultur überholt worden sind, einst als die Gesetze in Kraft traten, befanden sie sich in Übereinstimmung mit ihren kulturellen Grundlagen, aber im Lauf der Zeiten haben sich diese Grundlagen verschoben, - etwa infolge von Veränderungen in wirtschaftlichen Verhältnisse oder infolge von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen - sodaß sich nunmehr Recht und Kultur widersprechen. Diese Gesetze, die sich nicht einleben können oder sich ausgelebt haben, erscheinen bei konsequenter Durchführung unseres Standpunktes verwerflich; ihnen gegenüber tritt der  kritische Gehalt  unseres Prinzips hervor: Wir weisen die Gesetze zurück, die in einem unversöhnlichen Widerspruch mit Kulturforderungen stehen. Diese Gesetze sind verbindlich, nur weil es Gesetze sind, sie haben bloß juristisch verbindliche Kraft. Aber sie sind nicht zu rechtfertigen, weil ihnen die Übereinstimmung mit den Kulturnormen fehlt. Diese Kritik hat ihre Richtigkeit sowohl vom Standpunkt des Staates als von dem des Individuums. Es ist politisch unklug, wenn der Staat sich einer Niederlage aussetzt; und er tut es jedesmal, wenn er ankämpft gegen Anschauungen oder Gebräuche, die als berechtigt empfunden werden und daher stärker sind als die staatlichen Anordnungen. Man denke beispielsweise an das frühere Gesetz zur Bekämpfung der gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie. Gegen Ideen, die die Völker bewegen, sind Ideen taugliche Waffen, Verurteilungen sind machtlos. Es mag wohl sein, daß der Bürger klug genug ist, sein Verhalten äußerlich nach dem Willen des Staates einzurichten, aber der Wille des Staates erscheint ihm willkürlich; der Staat erzeugt Erbitterung, er züchtet eine staatsfeindliche Gesinnung und er selbst hat den Schaden zu tragen. Ganz anders der Staat oder der Herrscher, der nichts befiehlt, was tief gründenden Interessen feindlich ist.
    "Es ist kein schönrer Anblick in der Welt,
    Als einen Fürsten sehen, der klug regiert;
    Das Reich zu sehen, wo jeder stolz gehorcht,
     Wo jeder sich nur selbst zu dienen glaubt,
    Weil ihm das Rechte nur befohlen wird." 
Hiermit ist auch schon gesagt, warum vom Standpunkt des Individuums die dauernd kulturfremden Gesetze unberechtigt sind.

Wer solchen Gesetzen verfällt, wird gerichtet nach Normen, die ihm entweder überhaupt nicht bekannt oder ihm unanerkennbar erscheinen. Das Recht hat etwas verboten, was die Kultur gebietet oder doch gestattet.

Wir haben somit konstatiert, daß es Rechtsnormen gibt, deren Inhalt nicht mit der Kultur übereinstimmt. Aber unser Prinzip hat dieser Tatsache nicht weichen müssen, sondern die Tatsache dem Prinzip. Mit anderen Worten: Unsere Theorie hat sich an dem Punkt, an welchem ihr die Tatsachen widersprechen, als kritisches Prinzip bewährt. Das ist die dritte von den vier angekündigten Erwägungen gewesen. Sie beansprucht ebensowohl Gültigkeit für allgemeine Bestimmungen wie für die spezialisierten, von denen wir ausgegangen sind. Und da unser Ergebnis - weit entfernt, irgendetwas Neues zu enthalten - sich mit einer altbewährten, stets wiederkehrenden Beurteilung von Gesetzen deckt (18), glaube ich, auf der kritischen Seite des Prinzips die Richtigkeit der dogmatischen bestätigt zu sehen.

d) Wenn wir nun aufgrund eines kritischen Vorgehens aus einem Rechtssystem alle Rechtssätze ausscheiden, die unberechtigt sind, so bleiben doch noch Bestimmungen übrig, die nicht mit Kulturnormen übereinstimmen. Es sind die Rechtsnormen, deren Materie überhaupt nicht von der Kultur erfaßt wird. Bestimmungen diser Art wären z. B.: "Wer den polizeilichen Anordnungen über vorzeitige Beerdigungen entgegenhandelt, wird mit Geldstraf bis zu 150 Mark oder mit Haft bestraft." (StGB § 367, 2) Oder: "Schaumwein, der aus Fruchtwein hergestellt ist, muß eine Bezeichnung tragen, welche die Verwendung von Fruchtwein erkennen läßt." (Weingesetz § 6)

Es ist ausgeschlossen, derartige Rechtssätze als unberechtigt abzuweisen, es ist andererseits unverkennbar, daß diese Rechtsnormen zwar nicht in Widerspruch, aber auch nicht in Übereinstimmung mit Kulturnormen stehen; ihr Inhalt ist kulturell indifferent. Wir lernen also hier ein Gebiet kennen, welches weder von einem positiven noch von einem kritischen Gehalt unseres Prinzips beherrscht wird, das Gebiet des Polizeirechts. Wir konstatieren: Es gibt berechtigte Rechtsnormen, die nicht mit Kulturnormen übereinstimmen, weil die Kultur die betreffende Materie überhaupt nicht ergreift; sie charakterisieren sich als Polizeirechtsnormen. Es würde hier den Gedankengang unterbrechen, diese Charakterisierung des Polizeirechts breiter auszuführen; dieselbe gehört weniger in die Entwicklung, als vielmehr zu den Ergebnissen unserer Lehre und wird daher im Abschnitt über die Leitungen der Theorie weiter verfolgt werden. (Vgl. unten 2. Teil, Kapitel 5)

III. Hier aber ist noch auf eines zu verweisen, auf einen Inhalt der Rechtsnormen, über den die kulturelle Tradition nur ungenaue Auskunft gibt, ich meine die Unrechtsfolgen und in Sonderheit Art und Maß der Strafe. Das Individuum weiß wohl, daß dieses oder jenes Verhalten unrecht ist, vielleicht auch, daß es der Staat bestraft, aber es weiß in der Regel nicht, wie schwer die Strafe ausfallen kann. Die Kulturnormen verbreiten sich nicht über die Rechtsfolgen, die das normwidrige Verhalten haben wird, - womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß eine völlige Unkenntnis über die Strafdrohungen herrscht; von einigen ist viel, von anderen wenig bekannt. Eine genaue Auskunft gibt die kulturelle Tradition dem Einzelnen nur darüber, ob die Handlung  pflichtwidrig  ist, und darüber, wie schwer das Unrecht für die  moralische  Beurteilung wiegt. Daß diese moralische Einschätzung an Genauigkeit der Entscheidung der Alternative, recht oder unrecht, nicht gleichkommen kann, und daß die letztere bei moralischen Konflikten unmöglich werden kann, das versteht sich ohne weiteres. Die Frae, die sich uns aufdrängt, ist aber diese: Ist es in letzter Linie nicht doch unbillig, den Bürger zu richten nach Gesetzen, die er nicht kennt, noch kennen muß, wenn er nicht gewußt hat, welchen Nachteilen er sich durch sein normwidriges Verhalten aussetzt?

Wer diese Frage bejaht, würde das Bewußtsein der Strafbarkeit und darüber hinaus das Bewußtsein,  wie  die Handlungen bestraft werden, zur Voraussetzung für die Bestrafung machen; er würde nur denjenigen strafen können, der juristische Kenntnisse hat. Davon kann natürlich nicht die Rede sein; aber der Grund, daß diese Forderung die Rechtspflege lahm legen würde, enthält, so stichhaltig er ist, nicht die Rechtfertigung, die wir verlangen. Diese liegt vielmehr in der Abweisung des opportunistischen Standpunktes. Es kann nämlich die Forderung, das Individuum müsse die Strafdrohung gekannt haben, lediglich auf den  einen  Grund gestützt werden, daß die Abwägung der aus der Handlung zu erwartenden Vorteile und Nachteile für die Entschließung wesentlich sei. Diese Begründung ist opportunistisch; die in ihr enthaltene Regel kann man als Lebensklugheit empfehlen, nicht aber in der Debatte über die Rechtfertigung des Rechts verwerten. Moralisch ungerechtfertigt Erwägungen sind in unserer Frage null und nichtig. Wir müssen festhalten, daß wegen einer Nichtbeachtung von Normen nur bestraft werden kann, wer die Norm kannte; was sich der Delinquent über die staatliche Reaktion gedacht hat, das ist für unsere prinzipielle Frage unerheblich. Wie es für den Staat vollständig gleichgültig ist, aus welchen Motiven jemand die verbotene Handlung unterlassen hat, - ob aus Furcht vor Strafe oder aus sittlichen Motiven oder weil es Sitte ist, sittlich zu scheinen, - so ist es unerheblich, wenn derjenige, der die verbotene Handlung begangen hat, sich damit entschuldigt, daß er die unrechte Tat unterlassen haben würde, falls er die Größe der Strafe gekannt hätte. Diese Entschuldigung kann vom Staat nicht angenommen - und was hier den Ausschlag gibt - vom Individuum nicht vorgebracht werden, weil sie unmoralisch ist. Es ist somit nicht unbillig, die angedrohte Strafe zu verhängen, auch wenn der Delinquent sich über die Schwere derselben getäuscht hat. Stillschweigend setzen wir dabei voraus, daß die Strafdrohung an und für sich der Tat entspricht.
LITERATUR Max Ernst Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, Strafrechtliche Abhandlungen, Bd. 50, Breslau 1903
    Anmerkungen
    1) Das tiefste rechtsphilosophische Wert seit JHERING, STAMMLERs "Lehre vom richtigen Recht", 1902, enthält eine Theorie der Grenzen und der Korrektur der formalistischen Betrachtungsweise. (Vgl. die Seiten 8, 34, 105f u. a.) Die vorliegende Abhandlung hat diese Tendenz aus STAMMLERs Lehre übernommen. Der Begriff der Kulturnormen leistet in den folgenden Ausführungen teilweise die gleichen Dienste wie STAMMLERs "soziales Ideal", d. h. die Gemeinschaft frei wollender Menschen. STAMMLERs Methode des richtigen Rechts habe ich nicht befolgen können, sie ist im Strafrecht meines Erachtens undurchführbar, und zwar in letzter Linie deswegen, weil auf diesem Rechtsgebiet das soziale Ideal und das Vorbild des richtigen Rechts, d. h. "die Sondergemeinschaft" (vgl. Seite 276f) zusammenfallen oder doch nicht mehr  wesentlich  unterschieden sind. (Vgl. Seie 196 - 198 und 303 - 304). Die Sondergemeinschaft der Streitteile (Seite 284) - dieser für die Durchführung der Methode notwendige Gedanke - ist offenbar auf Zivilrechtsfälle zugeschnitten; der Gedanke erfüllt seine Aufgabe, den bedingten Stoff zu gestalten,  nicht,  wenn die Sondergemeinschaft, wie es im Strafrecht der Fall sein muß, den Delinquenten und die Gesamtheit der Rechtsunterworfenen umfaßt; diese Gemeinschaft kann nicht mehr als  Sonder gemeinschaft gedacht werden. - - - Ob die Methode im Zivilrecht praktikabel ist, wage ich nicht zu entscheiden. Ihre großen Verdienste muß man aber jedenfalls, selbst wenn es gegen die Intentionen des Autors ist, darin sehen, daß uns die Prinzipien sachlich richtiger Entscheidungen ins Bewußtsein gerufen werden; ob wir dann im Einzelfall den Weg STAMMLERs gehen können, das ist wohl eine sekundäre Frage. In diesem Sinne kann auch die Strafrechtswissenschaft viel von der Lehre vom richtigen Recht lernen und diese Studie hat es, so hoffe ich, getan. (Vgl. besonders den zweiten Teil.)
    2) Über eine Ausnahme vgl. den zweiten Teil, Kapitel 5.
    3) Vgl. JHERING, Der Zweck im Recht I, Seite 332f (1893); gegen JHERING MERKEL, Gesammelte Abhandlungen II, 1899, Seite 58. Weiter unten (Kap. 4) habe ich eingehend zu JHERING und MERKEL Stellung genommen. - Auch JOSEPH SCHEIN, Unsere Rechtsphilosophie und Jurisprudenz, 1889, hat die Lehre, "das Recht ein Reglement für den Staat, nicht aber für die Bürger" (Seite 11) vertreten, hat aber die vielen guten Gedanken, die er vorbringt, durch Übertreibungen und Einseitigkeiten stark beeinträchtigt. - Die Ansicht, daß die Rechtssätze ebensowohl den Bürgern wie den Staatsorganen Befehle erteilen, darf wohl als die allgemeine bezeichnet werden; sie ist bestritten worden von BINDING, "Die Normen I" (1890), Seite 7f und hierzu unten Kap. 3 auch Kap. 6 des zweiten Teils. Namentlich im Kampf um die Normentheorie ist öfters betont worden, daß die Strafgesetze die Staatsorgane binden und ihnen somit Befehle erteilen; vgl. z. B. von BAR, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 15, 1873, Seite 562, BIERLING, Göttingische Gelehrte Anzeigen, 1873, Seite 402; WACH, Gerichtssaal, Bd. 25, 1873, Seite 436; THON, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, Seite 9 und 10; HUGO MEYER, Lehrbuch des Strafrechts (1895) Seite 106, Anm. 10; Literaturangaben in dieser Richtung auch bei BINDING, a. a. O., Seite 14, Anm. 26. Vgl. ferner BINDING, Handbuch des Strafrechts, 1885, besonders Seite 187f und die Literaturangaben ebd. Anm. 2.
    4) Man beachte, was MERKEL, (Gesammelte Abhandlungen II, Seite 521) gelegentlich von den Fiktionen sagt: "Sie sind freilich die Lieblingskinder unseres juristischen Logizismus, aber es sind doch nur die Platzhalter einer wirklichen Einsicht, welche nur allzuhäufig die letztere, weil sie deren Stelle besetzt halten, nicht zur Aufnahme und Anerkennung gelangen lassen."
    5) JHERING, Geist des römischen Rechts I, 1891, Seite 334
    6) Ich weiche hiermit von der im Staatsrecht herrschenden Lehre ab; da die staatsrechtliche Literatur, - soviel ich sehe, ausnahmslos - von der Ansicht, das Gesetz wende sich an das Volk, ausgeht, hält sie konsequenterweise die Publikation für eine Bekanntmachung des Gesetzes. Vgl. LABAND, Staatsrecht II, 1901, Seite 20/21 und 40f. - Andererseits fehlt der Gedanke, daß die Verkündigung  "keine gewöhnliche Bekanntmachung"  ist, keineswegs und tritt gerade bei LABAND (Seite 49) in den Vordergrund; vgl. auch LABAND, Seite 21: "Die Verkündigung ist ein Willensakt des Gesetzgebers und kann deshalb nur ausgehen vom Gesetzgeber oder von demjenigen, den er dazu beauftragt hat. Deshalb sind Abdrücke eines Gesetzes in Sitzungsberichten, Zeitungen, wissenschaftlichen Werken usw.,  trotzdem sie gerade die Gemeinkundigkeit des Gesetzes am meisten fördern,  keine Verkündigung." - Da es nun ferner unbestritten ist, daß durch die Publikation der authentische Abdruck des echten Gesetzestextes hergestellt wird, muß man zu der hier vertretenen Auffassung gelangen, sobald man die Fiktion, das Gesetz wende sich an das Volk, als überflüssig und hinderlich erkannt hat.
    7) Es kann nicht verkannt werden, daß die Verkündigung der Gesetze auf die Auffassung, das Gesetz wende sich an das Volk,  zurückzuführen  ist. Die früher üblichen Formen der Gesetzesverkündigung (vgl. STOBBE, Geschichte der deutschen Rechtsquelle II, Seite 224f; SCHRÖDER, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Seite 652 und 855; GIERKE, Privatrecht, Seite 132; JELLINEK, Gesetz und Verordnung, Seite 328) beweisen deutlich, daß das Gesetz dem Volk bekannt gemacht werden sollte. Wenn das Gesetz in der Volksversammlung verlesen wurde oder wenn es an den Gerichtsstätten und auf dem Markt, in den Kirchen und Rathäusern verkündet oder angeschlagen wurde, so war das zweifellos eine wirksame allgemeine Kundmachung, zumal wenn sich die Verlesung jährlich wiederholte. Es bestehen auch nicht im geringsten Bedenken, zuzugeben, daß die Rechtssätze einstmals tatsächlich Befehle an das Volk gewesen sind; sie waren einstmals auch ganz anders redigiert. Diese Funktion der Rechtssätze ist mit der Zeit verloren gegangen. - - - Man darf nun aber, wenn man schon historische Argumente beibringen will, auf der anderen Seite nicht übersehen, daß in der Rechtsgeschichte viele Einrichtungen und Gedanken zu finden sind, in denen sich die Auffassung, der Richter sei der Adressat des Gesetzes, unverkennbar spiegelt. Ich will wenigstens Beispiele geben. Aus dem römischen Recht wären vor allem die kaiserlichen Konstitutionen zu nennen. Die  mandata principis,  die freilich in erster Linie administrative Bedeutung hatten, in denen aber auch Rechtssätze nicht fehlten, sind  "Instruktionen des Kaisers an seine Beamten,  insbesonder an die Provinzstatthalter" (CHYHLARZ). Die  rescripta principis  sind  "Antwortschreiben des Prinzeps auf Anfragen der Gerichtsbeamten  oder auf Bittschriften einer Partei;" da diese Gutachten, die für einen bestimmten Teil erstattet wurden, auch für andere gleichartige Fälle maßgebend waren, erfüllten sie die Aufgabe eines Gesetzes. - Aus dem deutschen Recht sind die  capitula missorum  als Beispiel hervorzuheben; diese Instruktionen, die den Königsboten der Karolingerzeit mitgegeben wurden, sind das Urbild von  Rechtsnormen, die sich nicht an das Volk wenden.  - Die peinliche Gerichtsordung KARLs V. ist wie ihre Vorgängerinnen abgefaßt als eine Unterweisung der ungelehrten Schöffen,  sie richtet sich an die Männer, die mit der Rechtsprechung betraut sind.  - Aus der neueren Zeit könnte auf jene Einrichtungen verwiesen werden, nach denen die Staatsgewalt die Gesetze nur den Gerichten mitteilte, während die Publikation Sache der Gerichte war. Vgl. LABANDs Ausführungen über das Enregistrement nach französischem Recht, a. a. O., Seite 15. - - - Alle diese historischen Tatsachen, die mit der hier vertretenen Lehre im Einklang oder im Widerspruch stehen, haben mit unserem Gegenstand, welche Auffassung des Gesetzes bei den in unserer Zeit gegebenen Erscheinungen des Rechtsleben richtig ist, schlechterdings  nichts  zu tun. Heute ist es verkehrt, im Gesetz einen Befehl an die Untertanen zu sehen; und mit der richtigen Auffassung steht die heutige Form der Gesetzesverkündigung im Einklang. Weiter reichen meine Behauptungen nicht.
    8) Vgl. LABAND, Staatsrecht II, Seite 3f und 26f.
    9) BINDING verlegt die Rechtswillenserklärung in das Strafgesetz; das "Soll" der Strafgesetze ist ihm "ein Anwendungsfall des ita ius esto". Hierdurch wird die Sanktion der Gesetze und die selbständige Funktion der fertigen Gesetze verwechselt.  Der juristische Grundirrtum der Normentheorie liegt darin, daß die Rechtswillenserklärung, die lediglich ein Akt des Gesetzgebungsvorganges ist, als eine Leistung des Gesetzes hingestellt wird.  Vgl. Normen I, Seite 8 und 19f, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 21, Seite 544f (gegen Thon); besonders deutlich tritt der Irrtum zutage im Handbuch, Seite 197/98. Daselbst ist durchaus richtig ausgeführt, daß die  Rechtserzeugung  in zwei Akte zerfällt, in die Aufstellung des Rechtsgedankens, - des Gesetzentwurf, wenn es sich um ein Gesetz handelt, - und in die Erhebung desselben zum Rechtssatz, d. h. die Zufügung der Rechtswillenserklärung. Unmittelbar vor diesem Passus heißt es aber: "Jeder  Rechtssatz  - also auch jedes Gesetz - besteht ... aus zwei ganz verschiedenen Sätzen: dem Ausdruck des Rechtsgedankens und dem Ausdruck des Rechtswillens." BINDING identifiziert also die Akte der Rechtserzeugung und die Bestandteile des Gesetzes, die schaffenden Handlungen mit dem geschaffenen Produkt. - Nun ist es freilich wiederum durchaus richtig, daß das  ita ius esto  im Gesetz zum Ausdruck kommt, nämlich dadurch, daß das Gesetz  gilt;  diese Rechtswillenserklärung kann im Gesetz aber nicht lokalisiert werden, sie liegt dem ganzen Gesetz zugrunde. Und es ist auch durchaus richtig, daß im Gesetz neben dem Rechtsgedanken ein Rechtswille liegt, aber der Rechtswille des Gesetzes hat einen ganz anderen Inhalt als der Akt der Gesetzgebung, der dem Entwurf die Rechtswillenserklärung zufügt. - Wie durchaus unbefriedigend BINDINGs Lehre über den sogenannten Gesetzesbefehl ist, das hat namentliche BIERLING, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe II, 1883, Seite 336f ausführlich dargestellt.
    10) Die mannigfachen Theorien über den Grund der verpflichtenden Kraft des Gesetzes bespricht BIERLING, a. a. O. I, 1877. Zu BIERLINGs Grundgedanken, daß die verpflichtende Kraft des Gesetzes auf der Anerkennung beruth, nehmen die Ausführungen des Textes Stellung. - Vgl. auch JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 1920, Seite 162f: "Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates."
    11) JHERING, Zweck im Recht I, Seite 331
    12) "Daher in den Annalen der Strafjustiz in der Zahl der dem Henker Überlieferten mit dem Auswurf der Menschheit sich deren idealste Gestalten vereinigt finden. In dieser Hinsicht hat der Vorgang auf Golgatha, der Kreuzestod CHRISTI inmitten der beiden Mörder, eine typische Bedeutung." (MERKEL, Gesammelte Abhandlungen II, Seite 563).
    13) Die Religion ist die am wenigsten wandelbare Ordnung, weil sie sich "auf den Menschen, wie er sich mitten in allem Wandel und Fortschritt der Dinge gleichbleibt, bezieht." HARNACK, Das Wesen des Christentums, Akademische Ausgabe, Seite 5.
    14) JHERING, Geist des römischen Rechts II, Seite 35: "Das Gesetz ist der Akt, wodurch das Recht aus dem Zustand der Naivität heraustritt und in offizieller Weise zum Selbstbewußtsein gelangt."
    15) Falsch aber wäre es, zu behaupten, daß Normen, denen die Garantie des äußeren Zwangs fehlt, nicht Rechtsnormen sind!
    16) Vgl. aus der neueren Literatur namentlich RICHARD SCHMIDT, Allgemeine Staatslehre, Bd. 1, 1901, Seite 166f, hervorzuheben: "Inhaltlich sind die Rechtssätze nur Sätze, die ohnehin in den Anschauungen des Volkes als beherrschende Normen Bestand haben. Wohl aber erlangen sie dadurch eine eigenartiges Gepräge, so oft für sie, die unentbehrlichsten der sozialen Normen, das Bedürfnis nach dem Besitz äußerer Garantien ihrer Durchführung rege wird." (Seite 169) und Seite 170: "Kurzum, man darf formulieren, daß das Recht als Ganzes, in der Durchschnittserscheinung der Rechtssätze, der unter öffentliche staatliche Garantien gestellte Teil der Volksmoral und Volkssitte ist."
    17) Über die Vorteile und Nachteile der Förmlichkeiten spricht von JHERING, Geist des römischen Rechts II, Seite 478f.
    18) Vgl. etwa RICHART SCHMIDT, Allgemeine Staatslehre I, Seite 177, "... nur die populären Bestandteile der Rechtsordnung sind auf die Dauer lebensfähig."