H. LammaschG. HeymansK. C. PlanckE. BelingReinach | ||||
Die Idee der Strafe
I. Um was handelt es sich denn beim Streit der klassischen und modernen Strafrechtsschule? Beide gehen davon aus, das Vorliegen eines Verbrechens berechtige und verpflichte den Staat, den Verbrecher wegen des Verbrechens mit einem Übel zu belegen. Der Unterschied des "quia peccatum est" [weil gesündigt worden ist - wp] der Retributionisten und des "ne peccetur" [damit nicht gesündigt werde - wp] der Präventionisten erhebt sich also auf der gemeinsamen Basis des "postquam peccatum est" [nachdem die Sünde geschehen ist - wp]. Ebenso ist beiden Lehren gemeinsam, daß mit der Zufügung des Übels ein Zweck verfolgt wird; es ist also mißverständlich, wenn die Präventionsstrafe als Zweckstrafe bezeichnet wird. Der Schulenstreit basiert vielmehr geradezu auf einer Konkurrenz der Zwecke. Was ist höher zu bewerten bei der Ausgestaltung des postquam peccatum est, erforderten Übels: das Interesse des Staates an seiner Unversehrtheit oder das Interesse am Wohl des Einzelnen; des Verbrechers etwa, oder des Geschädigten, oder der Menschen mit verbrecherischen Neigungen? So wie hier verhält es sich mit allen sozialen Phänomenen. Wir betrachten sie entweder unter dem Aspekt des individualistischen Werttypus und beziehen sie damit auf die Idee einer Vollendung der sittlichen Persönlichkeit; oder wir bewerten sie an einem überindividualistischen Maßstab, sodaß auch das ethische Individuum erst von hier seinen Wert enthält. Überindividualistische ist seiner Idee nach jeder menschliche Verband; vorzüglich aber derjenige, welcher sich am meisten über das Individuum erhebt, der Staat. Unter Wiederaufnahme scholastischer Termini und in Analogie der Ethik zur Logik läßt sich also geradezu von einer Aseität [aus sich selbst sein - wp] und einer Abalietät [Abhängigkeit von etwas anderem - wp] des Staates respektive des Individuums sprechen, je nachdem dem Staat, bzw. dem Individuum ein Eigenwert oder ein nur abgeleiteter Wert zuerkannt wird. Auch in der Volkswirtschaftslehre (2) ist kürzlich die Aufmerksamkeit darauf gelenkt worden, daß die Streitfragen der Nationalökonomie, so, um ein Beispiel anzuführen, der Gegensatz in der Verteidigung von Freihandel oder Schutzzoll, in der Divergenz dieser beiden Grundanschauungen begründet ist. Die Durchführung dieses Gedankens wird sich zweifellos wie für die Rechtswissenschaft so auch für die Volkswirtschaftslehre fruchtbar erweisen. Aber nur, wenn die Erkenntnis lebendig wird: die Rückführung der Theorien auf solch elementare Prinzipiengegensätze müsse zum Vehikel für die Austragung dieses Gegensatzes vor dem Forum der Wissenschaft werden. Mag immerhin die Rechts wissenschaft eine Rechts politik von sich fern halten, weil sie an einer wissenschaftlichen Lösung dieses Problems verzweifeln zu müssen glaubt; und mag mit noch so gutem Recht die Volkswirtschafts lehre, indem sie sich auf ihre wahre Aufgabe, die leidenschaftslose und wertfreie Erkenntnis und Beschreibung der volkswirtschaftlichen Tatsachen, besinnt, allen politischen Tendenzen dieser Wissenschaft den Krieg ansagen: nimmermehr darf darum auch die Frage nach dem Seinsollenden überhaupt verschwinden. Rechtspolitik und Volkswirtschaftspolitik können im System der Wissenschaften nicht fehlen; das hieße an aller Wissenschaft und aller Kultur verzweifeln. So wenig die Philosophie eine kontradiktorische Zweiheit von Weltanschauungen hinnehmen kann, so wenig darf sich das Strafrecht mit einer Rückführung seiner Theorien auf eine solche Zweiheit begnügen. Einen ersten Ansatz für die methodische, eine Lösung anbahnende Fragestellung finden wir gleich vor. Wenn die Rechtswissenschaft darin gipfelt, einen Kontrast fundamentaler Prinzipien zu konstatieren, so hat die Rechtsphilosophie sich gerade dieses Endergebnis zum Problem zu machen. Indem dem Staat ein Eigenwert zuerkannt wird oder ein nur abgeleiteter Wert, wird entweder der Staat Norm für den Menschen, oder umgekehrt der Mensch Prinzip für den Staat. Beide Lehren offenbaren aus ihren eigenen Konsequenzen heraus ihre Einseitigkeit und Unhaltbarkeit. Da, wo dem Staat ein Eigenwert zukommt, mag vielleicht der Gedanke vorschweben, der Staat sei im Sinne einer Idee zu nehmen; in Wahrheit aber läßt sich, wenn der ethische Begriff des Individuums keine Aseität hat, eine Beziehung nur zu einem Staat der Erscheinung herstellen. Zu welchem Staatsgebilde aber? Nun, zu jedem einzelnen, mag die zufällige Gestaltung wie auch immer sein. Es kommt jedem Staat ohne weiteres, allein deswegen, weil er dieses soziale Gebilde ist, Wert zu; und der Wert bleibt der gleiche, mag auch noch so sehr Entrechtung oder Ausschluß ganzer Volkskreise aus dem Staatsleben vorliegen oder Unterdrückung der einen Klasse durch die andere. Denn es fehlt ja jedes ethische Gegengewicht, jede Möglichkeit auch nur, den Begriffe des Individuums zur Kontrolle zu verwenden. Darumf darf der wertvollste Mensch dem wertlosesten Staat geopfert werden. Es ist kein Preis zu hoch, um den Staat in seiner augenblicklichen Gestaltung zu konservieren. SCHILLER, der in seiner Vorlesung "Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon" (3) geradezu paradigmatisch die Entwicklung von Staaten in beiden Auffassungen darstellt, hat dem Resultat dahin Ausdruck gegeben: es wird "die ganze Moralität preisgegeben, um etwas zu erhalten, das doch nur als ein Mittel zu dieser Moralität einen Wert haben kann". Der Staat wird zum Idol, er ist ethisch inhaltslos, eine Form ohne gestaltende Fülle. Unausbleiblich für die Einseitigkeit der Bewertung und die Eingeengtheit des Blicks auf zufällige Gegebenheiten dahin, daß der Staat, der dem einzelnen Menschen so unendlich überlegen sein will,die Menschen dennoch verschieden bewertet; natürlich nicht nach ihrer Bedeutsamkeit für die Idee des Staates, denn der Staat orientiert sich ja nicht an dieser Idee, sondern nach ihrer Nützlichkeit und Brauchbarkeit für die gegebene Erscheinungsform dieser Idee. Zu gleich unhaltbaren Ergebnissen führt die ausschließliche Anerkennung eines originären Wertes für das Individuum. Der Staat ist hier nur unter dem Gedanken eines Zusammenschlusses der Einzelnen zu fassen. Ein solcher Staat kann den Einzelnen nicht über sich selbst erheben. Jeder Einzelne trägt in sich den ausschließlichen Maßstab für eine Bewertung der Handlungen des Staates. Wie in der vorhergehenden Betrachtung die zufällige Erscheinungsform des Staates galt, so hier die gleichmäßige unveränderliche Gleichheit aller, nicht aber die Idee eines Individuums. Wo den Handlungen des Staates hier dem Willen des Einzelnen gegenüber ein überwiegender Wert zuerkannt wird, da löst sich die scheinbare Antinomie dadurch, daß die betreffende Handlung als conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] für den Bestand des Staates, dieser aber als unersetzbar zweckmäßig und nützlich für das Wohl des Einzelnen gedacht wird, sodaß sich die Negation des Willens des Einzelnen in Wahrheit zu einer Position dieses Willens umgestaltet. Es fehlt die Möglichkeit, das Verhalten des Staates gegenüber einem Einzelnen oder umgekehrt eines Einzelnen gegenüber dem Staat zur Norm für die Handlungen des Staates oder des Einzelnen überhaupt zu machen. damit entfällt die Voraussetzung aller Gesetzmäßigkeit, und der Boden für die Unbeständigkeit, wie sie SCHILLER in der oben genannten Vorlesung für Athen darstellt, ist geebnet. Die philosophische Begründung des Staatsrechts muß sich gegen solche standpunktliche Einseitigkeiten wenden. Mit der Front nach zwei Seiten muß sie den Kampf aufnehmen gegen "die Irrlehren der Liberalität und Legitimität". Sie findet ein lehrreiches Beispiel für eine solche Disposition in der philosophischen Rechtslehre des Schweizer Philosophen TROXLER (4), dessen Vaterland in den Systemen ROUSSEAUs und HALLERs "die zwei äußersten Enden von politischen Lehren in seinem Schoß ausgeheckt" hatte, und der gerade aus dieser Zwiespältigkeit der letzten Grundlagen heraus zur Frage nach dem richtigen Verhältnis von Mensch und Staat kam. Bei aller Verschiedenheit, die wir hier gegenüber TROXLER festhalten, besteht die Gemeinsamkeit mit ihm doch in der Grundtendenz, in der Erkenntnis nämlich, daß es zwischen den prinzipien der Restauration und Revolution (diese Bezeichnung der liberalen Weltanschauung hat später STAHL, aber in offensichtlicher Tendenz, verwendet), "etwas sie Beziehendes gibt, daß aber dieses eben das sie beiderseitig Begründende ist". Seine Lösung allerdings, welche durch den Begriff der Menschheit und den daraus abgeleiteten Begriff der Natur gegeben wird, kann hier nicht übernommen werden. An die Stelle dieser vagen Begriffe tritt dasjenige, was wir als eines der höchsten Ergebnisse des deutschen Idealismus hochhalten müssen: die Korrelation von Recht und Staat. Damit der Staat leisten kann, was hier von ihm gefordert ist, eine Bedingung des Rechts zu sein, muß der Gedanke aufgegeben werden, daß er in einer Zusammenfassung der Individuen bestehen kann; man muß aufhören, ihn unter der Kategorie der Mehrheit zu denken. Nur die Allheit [Allgemeinheit - wp] verbürgt seine Unendlichkeit. Die Unendlichkeit würde Auflösung bedeuten, wenn nicht im Begriff des Individuums ein Gegengewicht gegeben wäre, das die Allheit auf die geschichtliche Wirklichkeit bezieht. Die Allheit darf nicht ohne die Einheit gedacht werden, sonst wird sie inhaltslos; und die Einheit nicht ohne die Allheit, sonst fehlt das regulierende Prinzip, das allererst Gesetzlichkeit gewährleistet. Nur die Reziprozität [Gegenseitigkeit - wp] der beiden Werte kann Norm sein. Das ist der Gedanke, welcher dem Staatsrecht KANTs zugrunde liegt. Schon in seiner Formulierung des kategorischen Imperativs kommt es zum Ausdruck, daß die Orientierung an der Allheit die Sittlichkeit fundiert. Von der entgegengesetzten Beziehung, der Bedeutung der Einheit für die Allheit, ist hier noch nicht die Rede. Auch in der Staatslehre ist der Ausgangspunkt zunächst die Einheit; die Allheit ist wie beim kategorischen Imperativ die Voraussetzung der Gesetzmäßigkeit für die Einheit. Aber die Staatslehre kann sich nicht mit einer Ausdehnung der Prinzipien der Kritik der praktischen Vernunft begnügen, die in der Autonomie der sittlichen Persönlichkeit den Grundpfeiler der Ethik erkennt. Ihr genügt nicht der Nachweis, daß die für das Leben im Staat notwendige Anerkennung der "Anderen" die eigene Freiheit nur scheinbar einschränkt, daß die Freiheit hierbei vielmehr ihre Bestärkung und prinzipielle Ausdeutung erfährt. Hier im Staatsrecht erweist es sich, daß ebenso die Allheit nur im Hinblick auf den Einzelnen zu ihrer Definition gelangen kann. Das ist der tiefe Sinn der worte, in welchen KANT das Postulat eines Übergangs vom sogenannten natürlichen in den rechtlichen, den bürgerlichen Zustand aufstellt. Die Bedeutung der Einheit für die Allheit tritt am sinnfälligsten zutage in der Kennzeichnung des Einzelnen als Staatsbürgers und als Gesetzgebers für den Staat. Die Freiheit des Einzelnen gewinnt erst im Staat ihre Bestimmtheit und Begründung, ganz analog ist auch umgekehrt die Freiheit des Einzelnen Norm für den Staat. Nur dasjenige Gesetz ist ethisch gültig, zu welchem jeder Staatsbürger seine Zustimmung gegeben haben könnte. Der Sozialkontrakt, bis dahin in den Systemen des Naturrechts ein historisches Faktum oder eine Fiktion, wird zur normgebenden Grundlage für das Verhältnis von Staat und Mensch. In dieser Idee des Staates kommt die Reziprozität von Einheit und Allheit zum Ausdruck: sie dient uns als Ausgangspunkt für die Erkenntnis des Wesens der Strafe. Wenn hier auf KANTs Staatslehre zurückgegriffen wird, so liegt der Einwand nahe, KANT selbst habe ja in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, wo dann auch sein Staatsbegriff die eingehendste Begründung erfährt, von der Strafe gehandelt; er lehrt ein unzweideutiges Vergeltungsstrafrecht in prononziertester Form, der Versuch, der hier unternommen werden soll, hat also bei KANT bereits seine autoritative Erledigung gefunden. Indessen - ich verweise auf die Ergebnisse meiner Untersuchung über "Kants Strafrecht in Beziehung zu seinem Staatsrecht" (5) - seine strafrechtlichen Lehren gründen sich auf den Staat als Erscheinung, nicht aber auf den Staat als Idee. Sie dürfen deshalb nicht als Werte seines philosophischen Systems angesprochen werden. Sobald einmal die Aufgabe so gestellt ist, die Idee der Strafe sei aus der Idee des Staates abzuleiten, erkennen wir, daß nicht von einer inhaltlichen Bestimmtheit des Strafbegriffs ausgegangen werden darf. Es muß eine offene Frage bleiben, ob Strafe ein Übel für den Gestraften ist. Dem Strafrecht wird die Frage nach der Idee der Strafe nur als Problem entnommen. Dieses aber tendiert nur ganz allgemein auf diejenigen Handlungen des Staates, welche durch das Vorliegen eines Verbrechens zur Auslösung gelangen sollen. Dieser Disposition zufolge gilt es zunächst festzustellen, was, von der Staatsidee aus betrachtet, dasjenige bedeutet, was die Strafe im Gefolge hat. Hierfür ist die Bezeichnung "Verbrechen" geläufig. Aber das "Verbrechen" hat notwendig seine Beziehung zum "Verbrecher". Und was die Strafe und also auch das Verbrechen für den Verbrecher als moralische Persönlichkeit bedeutet, das darf für uns - vorläufig wenigstens - nicht in Betracht kommen. Deshalb müssen wir vom Unrecht ausgehen, als einem nicht auf eine einzelne Person beschränkten Zustand, der in einem solchen Verhältnis zur Idee des Staates steht, daß aus dieser heraus sich Forderungen zur Änderung dieses Zustandes ergeben. Dabei bedarf es sogleich einer Abgrenzung des Unrechts gegenüber dem Nichtrecht. Unrecht und Nichtrecht haben dies gemeinsam, daß sie im Gegensatz zum Recht stehen, mithin einen Zustand bezeichnen, welcher der Idee der allgemeinen Freiheit nicht adäquat ist. Man darf nicht meinen, Unrecht und Nichtrecht in engeren Definitionen fassen zu können, so etwa, daß man sich begnügt, den Mangel oder den Verlust desjenigen zu betonen, der durch das Unrecht oder Nichtrecht betroffen wird. Die Idee des Staates bedeutet eine gegenseitige Bedingtheit der Freiheit Aller. Darum ist begrifflich ein Mangel oder Verlust an Freiheit für einen Einzelnen ausgeschlossen, der nicht zugleich ein Mangel oder Verlust an der Freiheit Aller wäre. Man darf die Staatsidee als ein System der Freiheit bezeichnen. Jedwede Störung an irgendeinem Punkt dieses Systems muß durch das ganze System hindurchgehen und an jedem anderen Systempunkt sich mehr oder minder bemerkbar machen. Dieser begriffliche Gegensatz zu "Recht" ist Unrecht und Nichtrecht gemeinsam. Ihre Verschiedenheit ist nicht weniger prägnant. Das Nichtrecht ist ein "Nochnichtrecht", das Unrecht ein "Nichtmehrrecht"; wir konnten deshalb eben von Mangel und von Verlust an Freiheit sprechen. Die Idee der Freiheit als bestimmendes und richtunggebendes Prinzip kann nun aber weder Mangel noch Verlust an Freiheit dulden; sie erfordert in beiden Fällen eine - notwendig verschiedene - Aktion. Bleiben wir zunächst beim Nichtrecht. Es ist das weite, endlose Gebiet, dem eine rechtliche Regelung, d. h. eine Ausgleichung der Willkür zur Freiheit im philosophischen Sinne, fehlt. Aber während ein Teil des Nichtrechts seine Charakteristik im Fehlen des Rechts erschöpft, wird dieses in einem anderen Teil zur Frage nach dem Recht. Für dieses und jenes Nichtrecht haben wir im Deutschen keine verschiedene Bezeichnungsmöglichkeit; im Griechischen kommt die Verschiedenheit der Negation durch oux und me [nicht - wp] zu Ausdruck. Dadurch, daß die ungeregelte Fülle des sozialen Lebens, als des Gegenstandes des Rechts, sich zu Lösungen erforderlichen Problemen verdichtet, verwandelt sich das oùx on zu einem fragenden me on, das Nichtrecht zu einem "Noch nichtrecht" im prägnanten Sinne des Wortes. In der Problemfassung ist der Ansatz zur Lösung mit gegeben. Die Fragen nach dem Recht finden dadurch ihre Erledigung, daß die Idee der allgemeinen Freiheit auf sie angewandt wird. Ein sehr instruktives Beispiele bietet SOHM (6) in der Darstellung der Geschichte des römischen Rechts. Er findet, wo er von der Unfreiheit der Sklaven spricht, den glänzende pointierten Satz: "Die Bestimmung der Unfreiheit ... ist ihr Aufsteigen zur Freiheit." - Es bedarf keines näheren Hinweises, daß in diesen Ausführungen COHENs Urteil des Ursprungs zur Geltung kommt. Wir das Nichtrecht als Nochnichtrecht, so wurde vorhin das Unrecht als Nichtmehrrecht bezeichnet. Man darf nicht meinen, nur die Verletzung eines solchen Rechtszustandes darf als Unrecht angesprochen werden, der in einer restlos adäquaten Darstellung der Idee des Rechts bestanden habe. "Recht" bedeutet hier die Tendenz zum Recht, und die Verletzung solcher Tendenzen qualifiziert sich als Unrecht. Die Verletzung des Rechts muß eine andere Wirkung der Freiheitsidee im Gefolge haben als das Fehlen des Rechts. Aus der Aktion, in der sich die Idee dem Nichtrecht gegenüber äußert, muß hier eine Re aktion werden; an die Stelle der Herstellung tritt eine Wieder herstellung des Rechtszustandes. In der für die Heilung der Rechtsverletzung geforderten Reaktion muß der Begriff der Strafe wurzeln. Wir müssen uns aber hüten, die ganze Reaktion nur unter dem Gesichtspunkt einer gegen den Rechtsverletzer vorzunehmenden Handlung betrachten zu wollen. Das würde die in der Wohl des Terminus "Unrecht" statt "Verbrechen" liegende Disposition aufheben und die Untersuchung einengen. Wie die das Unrecht ausmachende Störung das ganze Freiheitssystem erschüttert, so muß auch die hierdurch geforderte Reaktion der Idee des Rechts eine gleiche Wirkungsweite haben. Aber, so wendet man vielleicht ein, hat denn die Vergeltung hier nicht ihre Rechtfertigung? Sie will doch die durch das Unrecht hervorgerufene Störung aufheben! Nun, die Retribution [Vergeltung - wp] besteht darin, daß der Verbrecht gestraft, d. h. daß ihm ein Übel zugefügt wird; wie sollte dadurch die ungestörte Freiheit Aller wiederhergestellt werden können? Nur der Ausweg eines dialektischen Prozesses bleibt übrig; daß nämlich die Position des Systems der Freiheit durch Negation der in einem Verbrechen sich ausprägenden Negation dieses Systems erreicht werden soll. Aber selbst wer diese Formel von der Negation der Negation gläubig hinnimmt, kann nimmermehr sagen wollen, daß die Bestrafung des Verbrechers eine solche Negation der Negation ist. Negiert wird der Verbrecher (wenn er hingerichtet wird) oder seine Freiheit (z. B. seine Freiheit im gewöhnlichen Sinn des Wortes bei der Freiheitsstrafe, oder seine Ehre usw.), aber nicht sein Verbrechen, nicht die durch ihn verursachte Negation des Systems der Freiheit. Auch wenn man das Wesen der Strafe in der läuternden und reinigenden Natur des Schmerzes sieht, kann man nicht behaupten wollen (7), durch die Einführung einer solchen Betrachtung sei die Lücke im Strafrecht HEGELs ausgesfüllt. Eines aber darf vor allem nicht übersehen werden; es richtet sich wie gegen die Vergeltungslehre so überhaupt gegen jede der heutigen strafrechtlichen Theorien: tilgen läßt sich das Unrecht überhaupt nicht Die positive Seite des Unrechts, dasjenige, was das Unrecht vom Nichtrecht scheidet, darf nicht übesehen werden. Gewiß, das Unrecht ist als etwas Negatives anzusehen; die Orientierung erfolgt an der Idee des Rechts, und es ist nicht wie bei SCHOPENHAUER umgekehrt das Recht von der Seite des Unrechts aus zu bestimmen. Aber darum hat das Unrecht dennoch auch dieses Positive: es hat sein untilgbares Dasein in der Zeit, dies, daß bestehende Tendenzen des Rechts einmal zerstört worden sind. Das läßt sich in keiner Weise wegdeuten oder dialektisch fortschaffen. Darum nützt auch die Formel (8) nichts, die sonst nahe genug liegt: es müsse der Zustand hergestellt werden, der bestände, wenn das Unrecht nicht eingetreten wäre. Aber wenn derart das Unrecht über das Nichtrecht auch hinausgeht: methodisch betrachtet muß es dennoch als ein Nichtrecht aufgefaßt werden, und zwar als ein solches mit dem Negationswert des me. Denn das Unrecht ist ein Problem für das Recht in allen Fällen. Das Nichtrecht erfordert nicht in seinem ganzen Umfang eine Regelung durch die Idee des Rechts; und es mag zweifelhaft bleiben, ob es nicht in ihm eine Sphäre gibt, welche sich rechtlicher Gestaltung überhaupt entzieht. Da jedoch, wo eine Zerstörung des Rechts erfolgt ist, kann eine solche Neutralität nicht gedacht werden. Unrecht darf und kann niemals Unrecht bleiben. Auch das Unrecht muß Ursprung des Rechts sein, wie das Nichtrecht. Oder vielmehr: das Unrecht in seiner besonderen vom Nichtrecht verschiedenen Gestaltung muß für die Idee des Rechts den Wert des Nochnichtrechts haben. Beachtet man den positiven Charakter des Unrechts, so ergibt sich ohne weiteres: dem Unrecht gegenüber kann die Idee des Rechts, die Forderung der Wiederherstellung der ungestörten Freiheit Aller nur auf die Herstellung eines neuen Gleichgewichtszustandes gehen. In diesen muß das Unrecht als bestimmendes Prinzip eingehen. Das neue Freiheitssystem unterscheidet sich gerade dadurch vom alten, durch das Unrecht gestörten, daß es dieses Mehr enthält. Die Gestaltung des neuen Freiheitssystems wird also durch dreierlei bedingt: durch die inhaltlichen Bestimmtheiten des alten Systems, durch den positiven Charakter des Unrechts und durch die Idee des Rechts. Will man es anders ausdrücken: das Positive im Unrecht besteht darin, daß es dem Staat Aufgaben stellt, daß es die sittlichen Tendenzen des Staates erneut auslöst. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Wenn es sich nun um Systeme handelt, ist eine durchgehende Umgestaltung innerhalb des alten Systems bei seiner Umwandlung in das neue erforderlich. Wieweit dabei tatsächliche Veränderungen notwendig werden, das allerdings läßt sich nicht a priori sagen. Niemals darf eine Position innerhalb des alten Systems, mag sie noch so sehr in dieser besonderen Lage der Idee des Rechts entsprochen haben, als solche Wert beanspruchen; stets muß vielmehr durchgehend eine erneute Nachprüfung am Maßstab dieser Idee erfolgen, sonst wird der Idealismus, der alles in Bewegung auflöst und in ein ewiges Fortschreiten zu immer offener sich entschleiernden Zielen, ein starrer Idolismus. Gleiche Stellung innerhalb des alten und neuen Systems hat nur, was im Verhältnis der beiden Systeme zueinander den gleichen Rang beansprucht. In diesem neuen Freiheitssystem muß auch derjenige, von dem die Verletzung des Systems ausgegangen ist, der das Unrecht begangen hat, wieder seinen Platz haben. Wenn wir die Untersuchung nach dieser Richtung hin fortsetzen wollen, dürfen wir die Orientierung an der Staatsidee nicht aufgeben und den Begriff des Verbrechers anderweitig ableiten wollen, so etwa, daß wir den Begriff der sittlichen Persönlichökeit einführen. Es gilt vielmehr auch hier, aus der Staatsidee heraus die nötigen Folgerungen zu ziehen. Aber die Bezeichnung "Verbrecher" ist nunmehr gefahrlos. Man wird nicht auf den Gedanken kommen, die Bedeutung des neuen Freiheitssystems für das Verhältnis zwischen dem Verletzer und dem Verletzten bestehe darin, daß das Lust-Unlustkonto dieser beiden erneut ausgeglichen wird, daß also, weil der Verletzer dem Verletzten Unlust zugefügt und dadurch dem Verletzten Lust verschafft werden müsse. Es gibt kaum einen zweiten so unphilosophischen Gedanken. Es ließe sich ja vielleicht sogar bemerken: auch die nötige Weite, die Rücksicht auf das ganze Freiheitssystem, werde gewahrt; denn soweit sich die mit dem Verbrechen gegebene Lust und Unlust in der Person des Verletzers und des Verletzten über beide hinaus erstreckt hat, soweit reicht auch die durch die Bestrafung des Verbrechers ausgelöste Unlust und Lust. Indessen - hier handelt es sich um die Idee des Rechts, und nicht um Lust und Unlust. Wohl aber muß zwischen dem Verletzten und dem Verletzer der Umfang ihrer Freiheit erneut ausgeglichen werden. Im neuen Freiheitssystem darf also der Verletzer nicht mehr haben, was er sich unter der Ausdehnung seiner Freiheit mit Willkür verschafft, was er also an Freiheit zuviel erlangt hat; und der Verletzte muß wieder haben, was er unter Verletzung seiner Freiheit verloren hat (9). Das ist eine Folgerung aus der Idee des Rechts und bezeichnet deshalb nach beiden Seiten hin eine Aufgabe des Staates. Er muß dem Verletzer etwas abnehmen, dem Verletzten etwas geben. Die Erfüllung beider Aufgaben ist voneinander unabhängig, sodaß die Ersatzpflicht also nicht nur eintritt, wenn und insoweit sich die Rückführung der Willkür des Verletzters auf Freiheit, mithin die Fortnahme des zuviel Erlangten, realisieren läßt. Aber, wie gesagt, nur ein Teil der Reaktion kann damit erfüllt sein. Dabei bleibt noch ungeprüft, wie der Ausgleich an Freiheit möglich ist. Hier, wo nur von Prinzipien gehandelt wird, kann uns diese Sorge nicht kümmern. Deshalb findet hier auch die Frage keine Beachtung, ob und in welcher Weise innerhalb der Rechtssphäre ein Ersatz der einzelnen Werte möglich ist, eine Frage, die allerdings fundamentale Bedeutung hat. Denn das wird doch nicht verkannt werden, daß, wenn oben von einer Rückgabe des an Freiheit Verlorenen gesprochen wurde, nicht an materielle Güter gedacht werden durfte. Das geht schon deswegen nicht, weil auch hier wieder, ähnliche wie bei Unrecht und Nichtrecht, ein Verlust an Freiheit und ein Mangel an Freiheit, und Raub an Freiheit und ein Übermaß an Freiheit scharf auseinandergehalten werden müssen. Schon der einfachste Fall zeigt die hier bestehenden Schwierigkeiten. Der Diebstahl eines bestimmten Gegenstandes wird, soweit der Verlust an Freiheit in Betracht kommt, nicht dadurch ausgeglichen, daß dieser Gegenstand zurückgegeben wird. Im neuen Freiheitssystem hat er nicht den gleichen Wert wie im alten; die Tatsache, daß er durch Diebstahl fortgenommen worden war, bleibt bestehen. Das Positive des Diebstahls bewirkt, daß die Freiheitssphäre des Bestohlenen nach Rückgabe des gestohlenen Gegenstandes allein nicht dasselbe bedeutet wie vor dem Diebstahl. Daß die Ausgleichung der Freiheitssphären beim Verletzenden und dem Verletzten nicht die ganze durch die Freiheitsidee geforderte Reaktion restlos ausmacht, geht schon daraus hervor, daß in diesem Fall der Sinn einer Strafe aufgehoben wäre; die Grenze zwischen Zivil- und Strafrecht wäre vernichtet. Auch was die Person des Verbrechers für unser Problem bedeutet, muß von der Rechtsidee aus bestimmt werden. In welcher Richtung diese Bestimmung zu erfolgen hat, kann nicht zweifelhaft sein. Wie das Unrecht, so ist auch der Verbrecher eine Anomalie für das System der Freiheit. Ein Abweichen von der Reziprozität der Werte Einheit und Allheit ist in vier facher Hinsicht denkbar: der Staat oder der Einzelne können einseitig die Einheit oder die Allheit betonen. Welche Folgen eintreten, wenn der Staat eine dieser Desorientierungen begeht, davon war schon die Rede; wir sahen: Allheit ohne Einheit ist leer, Einheit ohne Allheit ist regellos. Die ausschließliche Bewerung der Allheit durch den Einzelnen hat zur Folge, daß er isoliert bleibt. Neben ihm kann es wohl andere Einzelne geben, aber alle bleiben bedeutungslos für die Allheit, und darum auch ohne Beziehung zu den anderen Einzelnen. Der "Andere" kann niemals zu einem "Nebenmenschen" werden. Es mag den Anschein erwecken, als bedeute die übermäßige Betonung der Allheit eine Selbstentäußerung, als opfere der Einzelne geradezu sein Selbst dem Staat auf. In Wahrheit beraubt er ihn des in ihm liegenden Wertes; der Staat verarmt, weil ihm ein Teil seines Inhaltes entzogen wird. Schließlich noch die letzte der oben angegebenen vier Möglichkeiten einer Desorientierung. Sie gibt uns die Definition des Verbrechers. Verbrecher ist, wer die Orientierung am Gedanken der Allheit verliert. Die der Kontrolle der Allheit entzogene Freiheit ist Willkür. Die unzulässige, d. h. dieser Kontrolle nicht gewachsene Ausdehnung der individuellen Rechtssphäre, das ist dasjenige, was vom Standpunkt der Staatsidee aus das Verbrechen charakterisiert. Der Verbrecher stellt sich durch sein Verbrechen außerhalb des Kreises derjenigen, die dem Staat zur Orientierung dienen. Er mißachtet die Tendenz des Staates, ihn in der Allheit mitzuumfassen; er widerstrebt dem Staat, er wird rechtlos. Für eine solche Charakteristik des Verbrechers dürfen wir uns auf das germanisch-deutsche Recht (10) beziehen. Hier ist das Verbrechen Friedbruch. Mag auch immerhin anstelle des Staatsbegriffs das losere Gefüge einer Volksgemeinschaft stehen, dennoch oder vielleicht gerade deswegen kommt das öffentlich-rechtliche Moment im Verbrechen zu einem Ausdruck, dessen grandioses Pathos wohl kam mehr erreicht worden ist. Wer den Frieden, d. h. "den gesicherten und geordneten Zustand im Volk unter der Herrschaft des Rechts" bricht, "dessen Tat schneidet ... unbarmherzig das ganze Band durch, das ihren Täter bisher mit der Friedensgenossenschaft verknüpft hat". Er steht damit außerhal der Rechtsgemeinschaft. Mit welcher geradezu erschütternden Logik dieser Gedanken die Auffassung des Verbrechens bestimmt, das zeigen die Wirkungen, welche aus der Friedlosigkeit für den Verbrecher hervorgehen. In gleicher Richtung bewegen sich auch KANTs Gedanken, soweit eine Orientierung an einer Staats idee vorliegt (11). Der Übertreter es öffentlichen Gesetzes, so heißt es bei ihm, verliert seine Fähigkeit, Staatsbürger zu sein, also das Recht unter dem Gesichtspunkt betrachtet zu werden, als ob seine Zustimmung zu einem Gesetz die notwendige Voraussetzung der Gültigkeit desselben sei. Er verliert weiter seine Gleichheit, ebenso auch die Befugnis zum Zwang gegen Andere - beides Grundrechte des Staatsbürgers, so daß auch durch diese Aussprüche der das Verbrechen ausmachende Verlust der Staatsbürgereigenschaft prägnant wird. Schärfer als KANT hat FICHTE (12) entsprechende Formulierungen gegeben: "Wer den Bürgervertrag verletzt ..., verliert alle seine Rechte als Bürger und als Mensch und wird völlig rechtlos." "Jede Vergehung schließt vom Staat aus." Die Rechtlosigkeit des Verbrechers läßt sich auch von KANTs Standpunkt aus behaupten, doch hat hier dieser Begriff eine viel tiefere, viel innerlichere Bedeutung. Bei FICHTE ist die Rechtlosigkeit ein Übel für den Verbrecher, der Staat bleibt unbehelligt, während der Verlust der Fähigkeit Gesetzgeber zu sein und die hierdurch definierte Rechtlosigkeit unmittelbar den Staat angeht. Es kann hier nicht auf die Feststellung ankommen, ob der Satz: Verbrechen sei eine unzulässige Ausdehnung der individuellen Rechtssphäre - auch umgekehrt werden darf, ob also überall da, wo der Einzelne die Orientierung an der Allheit verliert, ein Verbrechen vorliegt. Es genügt hier die Richtung zu bestimmen, in welcher die Definition des Verbrechens sich zu vollziehen hat. Der Begriff der Strafe, zu welchem wir auf dieser Basis gelangen, kann folgerichtig ebenso nur die Richtung aufweisen wollen, in der die Strafmaßregeln zu suchen sind. Mag sein, daß eine umfassendere Ausgestaltung des Staatsrechts oder anderer Systemglieder, oder daß eine scharfe Scheidung von Ethik und Recht unsere Definition einengt: vom Standpunkt der Rechtsidee aus muß (um des darin geforderten methodischen Zusammenhangs von Ethik und Recht willen) der Rechtsbegriff des Verbrechens und der ethische Begriff der Sünde (oder welches andere Wort man hier stattdessen einsetzen mag) in der gleichen Richtung liegen; und auch wenn die Voraussetzungen eines staatlichen Eingriffs sich dahin erweitern, daß statt der verbrecherischen Handlung der "gefährliche Zustand" (13) ausreicht, oder wenn der Kampf um die "Sicherungsstrafe" sich zugunsten derselben entscheidet - kann es nur auf eine organische Entfaltung der Strafprinzipien hinauslaufen, zu denen wir kommen. Wir sind zu dem Ergebnis gelangt, daß der Verbrecher infolge seiner Desorientierung rechtlos wird. Was geschieht mit diesem Rechtlosen? Bleibt er seiner Rechtlosigkeit überlassen? KANT hat die hier auftauchenden Fragen nicht gelöst. Was soll erreicht werden, wenn der Staat des Verbrechers Rechtlosigkeit auch noch ausdrücklich betont? Soll die Rechtlosigkeit - und das ist doch die Tendenz der hier einsetzenden Handlungen des Staates - etwa dadurch verschwinden, daß dem Verbrecher der Makel seiner Rechtlosigkeit bestätigt wird? Die Rechtlosigkeit ist eine Folge des Verbrechens, ist also grundverschieden von Maßregeln, welche durch diese Folge bedingt werden. Deshalb kann diese Rechtlosigkeit niemals Strafe sein. Aber auch FICHTE gelangt nicht zu haltbaren Ergebnissen. Er fordert den Abschluß eines Abbüßungsvertrags zwischen dem Verbrecher und dem Staat. Es zeigt sich hier sofort die zwiespältige, unausgeglichene Begründung seines Strafrechts. Um eine Sicherheit des Staates zu ermöglichen, wird der Strafandrohung (und auch dem Strafvollzug) die Aufgabe einer Generalprävention zugewiesen. Dadurch ist bereits der Charakter der Strafe als eines Übels für den Gestraften festgelegt. Wenn nun von einem anderen Ausgangspunkt seiner Strafrechtslehre, der durch das Verbrechen bedingten Rechtlosigkeit des Verbrechers, aus eine Abbüßung dieser Rechtlosigkeit postuliert wird, dann ist die Frage von vornherein so gestellt: wie durch Erleiden eines zur Sicherheit des Staates bereits geforderten Übels die Rechtlosigkeit verloren wird. Man braucht diese Frage nur zu stellen, um zu erkennen, daß hier keine Lösung des Problems erhofft werden kann. Ganz ebenso, wenn man von der mit der Abschreckungstheorie versuchten Grundlegung absieht. Dann bleibt dem Abbüßungsvertrag - wie sehr auch in der Durchführung dieses Gedankens FICHTEs Humanität und ethische Begeisterung zum Durchbruch gelangt - doch stets der Makel anhaften, daß er auf einem Gnadenakt des Staates beruth. Der Verbrecher ist rechtlos, für den Staat verloren; und der Staat müßte seinen Ausschluß bewirken; aber wie der Verbrecher gern alles tun wird, um diesen schrecklichen Folgen zu entgehen, so ist auch für den Staat die Erhaltung seiner Bürger "zweckmäßig". Diese Zweckmäßigkeit hat natürlich eine Grenze an der Idee der Sicherheit der Bürger. So kann es uns nicht Wunder nehmen, daß der Satz (14) auftritt, die Strafe der absoluten Rechtlosigkeit lasse sich nicht abbüßen. Dahin kommt man, wenn man die Sicherheit der Bürger zur Norm für den Staat erhoben hat und der Staatsvertrag unter diesem Gesichtspunkt gewertet wird. Dann allerdings kann die Rechtlosigkeit des Verbrechers wohl zu einem Problem des Staates werden (das nach Gründen der Zweckmäßigkeit gelöst werden mag), nimmermehr jedoch zu einem Anstoß für sittliche Aufgaben des Staates. Der tiefere Grund für die Unhaltbarkeit dieser Auffassungen FICHTEs vom Staat und von der Strafe liegt - worauf hier nicht näher eingegangen werden kann - in der prinzipiellen Trennung von Recht und Sittlichkeit. Damit geht die Bedeutung des Staates für die Sittlichkeit verloren. Die Ausgestaltung des Staatsrechts in den späteren Werken FICHTEs, seine Idee des Nationalstaates bleibt hier füglich unbeachtet. Das aber ist es gerade, was wir aus der kantischen Staatsidee zu lernen haben: Auch am Verbrecher hat sich diese Staatsidee zu bewähren. Der Übergang vom natürlichen in den bürgerlichen Zustand ist ein Postulat; wenn dem so ist, dann kann auch der Verbrecher nicht in einem natürlichen Zustand, also außerhalb des Staates gedacht werden. Die Einheit ist ebenso Norm der Allheit, wie die Allheit Prinzip der Einheit. Eine Wiederaufnahme des Verbrechers, der sich selbst vom Staat ausgeschlossen hat, kann also weder dem Gutdünken des Staates anheimgegeben sein, noch in seinem eigenen Belieben stehen. Die Errichtung eines neuen Freiheitssystems ist eine ethische Notwendigkeit; in diesem System aber muß der Verbrecher wieder seinen Platz finden. Auch die Handlungen, die auf die Verwirklichung dieser Aufgabe hinzielen, sind deshalb ethisch gefordert; und aus der Korrelation von Einheit und Allheit ergibt sich, daß diese ethischen Forderungen sich in gleicher Weise an den Verbrecher und an den Staat richten müssen. Sich selbst und dem Staat stellt der Rechtlose Aufgaben. Wir müssen hier wieder an die oben getroffene Unterscheidung zwischen Nichtrecht und Unrecht anknüpfen. Ganz analog nämlich ist hier zwischen zwei Kategorien von Rechtlosen zu scheiden. Rechtlos ist ebenso derjenige, der noch nicht Staatsbürger ist, wie derjenige, der es nicht mehr ist. Beide sind nicht Staatsbürger, also auch nicht unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, als ob ihre Zustimmung zu einem Gesetz die notwendige Voraussetzung der Gültigkeit desselben sei. Aber in ganz verschiedenem Sinn. Ganz ebenso wie beim Nichtrecht ist auch in der Zahl derjenigen, die noch nicht Staatsbürger sind, die Gruppe derer gesondert zu betrachten, welche der Sphäre der Staatsbürger so nahe stehen, daß sie die Forderung und damit das Problem einer Aufnahme in den Staatsbürgerverband erheben. Sie sind bis dahin "Objekt" der Gesetzgebung. Die Allheit schließt sie aus. Oder vielmehr, wenn ihre Forderung, Staatsbürger zu werden, berechtigt ist, erhellt sich ja, daß die Allheit in Wahrheit nur Mehrheit ist, daß mit anderen Worten der Staat den ethischen Forderungen nicht genügt, die an ihn ergehen. Der Staat ist solange, statt Allheit, Mehrheit, als er - um Beispiele anzuführen - die Zugehörigkeit zu bestimmten Familien, ein bestimmtes Religionsbekenntnis, eine bestimmte politische Überzeugung, ein bestimmtes Geschlecht für diejenigen verlangt, welche in ihrer Gesamtheit als Gesetzgeber betrachtet werden sollen; in diesen Fällen schließt er nämlich diejenigen von den staatsbürgerlichen Rechten aus, die mitzuumfassen er gleichwohl den Anspruch erhebt. In einem natürich ganz anderen Sinne ist der Angehörige eines fremden Staates rechtlos; sein Verhältnis zur Staatsbürgereigenschaft ist das der einfachen Negation. Doch es kommt ha hier wiederum nur auf Prinzipien an, nicht darauf, den Kreis derjenigen zu bestimmen, die Aufnahme in die Allheit, Orientierung der Allheit an ihnen fordern dürfen. Wie äußert sich die Wirkung der Staatsidee denjenigen gegenüber, die nicht Staatsbürger sind? Der Mangel wird einfach dadurch geheilt, daß die Staatsbürgerfähigkeit nicht länger verkannt wird. Der Staat muß sich umgestalten, um diejenigen in Wahrheit aufnehmen zu können, die er bis jetzt hatte abseits stehen lassen; es ist ja klar, daß jede Erweiterung des Kreises, dem Sinn der Allheit entsprechend, dieser einen neuen Inhalt geben muß. Ebenso aber müssen diejenigen, die Staatsbürger werden sollen, innerlich auf den Staat eingestellt sein; sie müssen seine Bedeutung für Recht und Sittlichkeit erkennen; sie müssen es erlernen, Gesetzgeber zu sein. Damit erhebt sich in diesem ganzen Umkreis die pädagogische Aufgabe einer staatsbürgerlichen Erziehung, also einer Hinlenkung des Einzelwillens auf die Allheit, einer Erweckung des Willens zum Staat. Es kann nicht Wunder nehen, daß die Erziehung zum Staatsbürger derart den Nerv der Persönlichkeit trifft. Das macht, weil Recht und Staat korrelate Begriffe sind, weil Recht nur im Staat und durch den Staat, also nur für den Staatsbürger möglich ist. Analog der früheren Untersuchung über Nichtrecht und Unrecht sehen wir, daß das Fehlen der Staatsbürgereigenschaft zum Ursprung der Staatsbürgereigenschaft wird. Wie nun das Unrecht vom Nichtrecht inhaltlich getrennt, methodisch mit ihm gleichgesetzt wurde, so gilt es auch hier im Verbrecher das Moment des me on zu erkennen, zugleich aber auch aufzuweisen, was den Nichtmehr-Staatsbürger vom Nochnicht-Staatsbürger scheidet. Wir sehen: nicht jeder Nichtrecht-Zustand muß sich zum Recht entwickeln, ganz ebenso nicht jeder Nicht-Staatsbürger zum Staatsbürger; dagegen erhebt jedes Unrecht das Problem einer Umwandlung in Recht und jeder Verbrecher als ein Nichtmehr-Staatsbürger die Forderung einer Aufnahme in den Staatsbürgerverband. Deshalb muß die Frage der Unverbesserlichkeit für uns ausscheiden. Es darf sich als ethisches Problem nichts derartiges ergeben. Hier waltet nur die Kriminalanthropologie ihres Amtes. Wo nach dem Verdikt dieser Wissenschaft die Ziele der Strafe nicht zu erreichen sind, die Aufnahme in den Staatsbürgerverband nicht möglich ist, da handelt es sich um fundamental anders geartete Aufgaben des Staates. Sie mögen ähnlich in Erscheinung treten, das darf die Unterschiede nicht verdunkeln. Der Verbrecher steht als niemals, wie es bei KANT und FICHTE scheinen möchte, außerhalb des Staates. Gewiß, der Verbrecher hört auf, Gesetzgeber zu sein; aber im gleichen Augenblick, in welchem er seine Fähigkeit, Gesetzgeber zu sein, verliert, stellt er auch die Aufgabe an den Staat, daß er dereinst wieder Gesetzgeber wird. Deshalb hört er nie auf, Beachtung als zukünftiger Gesetzgeber zu fordern. Und der Staat hört nie auf, ihn mitzuumfassen, wie früher als Staatsbürger, so jetzt als zukünftigen Staatsbürger und jetzigen Verbrecher. In diesem Sinne muß der Staat sich am Verbrecher als Verbrecher orientieren. Das bedeutet aber keineswegs - wie es das Ergebnis einer neueren strafrechtlichen Untersuchung (15) ist - Anpassung des Staates an den Verbrecher. Denn in der hier geforderten Orientierung bleibt der Blick stets auf die Zukunft geheftet, auf den Menschen also, der als Einzelner sein Korrelat in der Allheit hat. Die Aufnahme in den Staatsbürgerverband bedeutet für den Verbrecher eine Wieder aufnahme. Deshalb kann sie nicht unverändert wie beim Nochnicht-Staatsbürger durch eine Erziehung des Verbrechers und eine Umwandlung des Staates bedingt sein. Beide Forderungen kehren naturgemäß wieder, aber in etwas veränderter Gestalt. Die Forderung einer Umwandlung des Staates schwächt sich ab zur Forderung einer Prüfung, ob der Verbrecher nicht deswegen die Orientierung an der Allheit verloren hat, weil der Staat ihm gegenüber nur Mehrheit war, weil also der Verbrecher seine vom Standpunkt dieser Mehrheit aus bestimmte, also zu eng umgrenzte Freiheitssphäre erweitern mußte, wenn er nicht auf seinen eigenen Wert verzichten, also ethisch verkümmern wollte. In diesem Fall erwächst auch hier dem Staat die sittliche Aufgabe einer Erweiterung seiner Grenzen, hier also im echtesten Sinne einer Anpassung an den "Verbrecher", der sich in Wahrheit an der Allheit orientiert hatte und nicht an der fehlerhaften Darstellung der Allheit. Die andere Forderung der Erziehung des Willens zur Allheit bleibt unverändert bestehen. Die Erziehung muß umso intensiver sein, als sich ein Willensmangel bereits deutlich offenbart hat. Doch es tritt noch etwas weiteres hinzu. Die Erziehung erstreckt sich nur auf die Zukunft. Wie aber sollte sie möglich sein, ohne daß der Verbrecher zur Erkenntnis seines Verbrechens geführt würde, also ohne daß sein Wille den im Verbrechen sich offenbarenden Willensmangel negierte? Und daß es sich um einen Willensmangel handelt, kann ja nicht zweifelhaft sein; eine Erfolgshaftung kommt für eine ethische Begründung der Strafe nicht in Frage. Eine solche muß von der "Schuld", nicht von der "Rechtswidrigkeit" ausgehen. Diese Notwendigkeit, einen in der Vergangenheit vorliegenden Willensmangel zu heilen, stellt uns vor ein ähnliches Problem, wie wir es in der Diskussion des Unrechtsbegriffs antrafen. So wenig wie das Unrecht getilgt werden kann, so wenig darf der Verbrecher hoffen, sein Verbrechen ungeschehen machen zu können. Auch der Willensmangel hat seine positive Seite. Vom Standpunkt der Vergangenheit aus betrachtet, ist allerdings der Willensmangel dann geheilt, wenn der Verbrecher, vor die gleichen Willensentscheide gestellt, die Reziprozität der beiden Werte Einheit und Allheit achten würde. Aber eine solche rückwärts gerichtete Revision des eigenen Willens kann für die Vergangenheit keine Wirkung mehr hervorbringen; sie kann das Dasein des Willensmangels in der Zeit, dieses positive Moment, nicht negieren. Der Blick muß von der Vergangenheit abgelenkt werden; die Negation des eigenen in der Vergangenheit wirksam gewordenen Willens kann sich nur an den gegenwärtigen und zukünftigen Spuren der Vergangenheit offenbaren und vollziehen. Es erhebt sich also die Forderung, daß der Verbrecher die Folgen seines Verbrechens aufhebt. Wir haben oben gesehen, daß die Forderung besteht, es müsse der Verletzte Ersatz für die Verletzung erhalten. Nunmehr sehen wir genauer, wie sich dieses Postulat in den Kreis der gegen den Verbrecher gerichteten Maßnahmen einbezieht. Gleichwohl bleibt damit eine Aufgabe des Staates postuliert, die überall da ihre konkrete Bedeutung zeigt, wo aus irgendeinem Grund Ersatz durch den Verbrecher nicht zu verwirklichen ist. Durch diese Forderung des Ersatzes scheiden sich die Ansprüche, die sich aus der Idee des Rechts heraus dem Nochnicht-Staatsbürger und dem Verbrecher gegenüber erheben. Die Verschiedenheit im Intensitätsgrad der Erziehung ist sekundär. Es bedarf keiner Ausführungen, daß das Maß der Erziehung und des Ersatzes von der Größe des Verbrechens abhängig sind, d. h. von der Größe der Verletzung, welche der Idee der Allheit zugefügt worden ist, und damit auch der Größe der hierdurch hervorgerufenen Entfremdung der eigenen Persönlichkeit von der Idee der Allheit. Die beiden Begriffe "Erziehung" und "Ersatz" umfassen das Problem der Strafe nun aber keineswegs in dem sinne, daß sie getrennt voneinander ihre Aufgabe zu erreichen hätten. Sie durchdringen und ergänzen einander. Es bleibt eine pädagogische und kriminalpsychologische Frage, auf welchem Weg das sich das Ziel am schnellsten und leichtesten erreichen läßt. Die Erziehung des Willens zur Allheit kann die selbständige Erkenntnis und den freiwilligen Entschluß im Gefolge haben, die Früchte des Verbrechens wieder herauszugeben und Ersatz zu leisten. Es kann jedoch auch umgekehrt der Zwang zur Ersatzleistung die Revision der eigenen Handlungen bewirken und so den Willen zur Allheit vorbereiten. Wie sich die Forderung der Ersatzleistung in der Praxis durchführen läßt, ist eine Frage, die über den Rahmen dieser Untersuchung hinausgeht. Festzuhalten ist daran, daß es sich in der Strafe um eine sittliche Aufgabe des Staates handelt. Pflicht des Staates ist es, den Verbrecher wieder zum Staatsbürger zu machen. Es ist kein Gnadenakt, wenn der Staat dem Verbrecher die Möglichkeit gibt, wieder zum Staatsbürger zu werden; und es steht nicht im Belieben des Einzelnen, der zum Verbrecher geworden ist, ob er den vielleicht dornenvollen Weg gehen will oder nicht. Die Strafgewalt des Staates ist Straf recht und Straf pflicht. Das rechtfertigt den Zwang, welchen der Staat bei der Durchführung seiner Aufgabe anwendet. Der Inhalt der Strafe, wie er hier formuliert worden ist, hat zu seinem begrifflichen Korrelat die Läuterung. Indem die Strafe verwirklicht wird, vollzieht sich auf seiten des Verbrechers die Läuterung. Mit diesem Begriff der Läuterung hat COHEN (16) KANTs Strafrecht, soweit dieses in der Staatsidee seine Wurzeln hat, fortgebildet; wir haben hier, ohne näher darauf einzugehen, nur die Parallele aufzuzeigen, in der die hier vorgetragenen Lehren zu COHENs Begründung des Strafrechts stehen. Die Strafe muß dem Verbrecher das sittliche Selbstbewußtsein wiedergewinnen; die Besserung und Befreiung kann einzig durch den Verbrecher selbst vollzogen werden, der Staat kann ihm lediglich Hilfe gewähren, ihm die Möglichkeit der Sühne geben; die Entsühnung vollzieht sich durch die in der Strafe zum Ausdruck kommende objektive Anerkennung des Rechts. Überall ist die Analogie deutlich ersichtlich; es muß dabei nur beachtet werden, daß in COHENs Ethik das Problem anders orientiert ist, es handelt sich ihm ausschließlich um Fragen der Ethik und um das Heil des Einzelindividuums. Aber namentlich der Begriff der objektiven Anerkennung des Rechts ist bedeutsam und fruchtbar. COHEN (17) bezeichnet die Vergeltung als das tiefste Prinzip der Strafe. Und diese läuternde Strafe könnte allerdings als Vergeltung auftreten. Jedoch sehen wir sofort: nur als eine Vergeltung um des Verbrechers willen, nicht aber als eine Vergeltung für das Verbrechen. Das ist nicht der Sinn, wie er der Strafe vom Vergeltungsgedanken diktiert wird. Dieser hat das Wohl des Staates, nicht des Verbrechers im Auge. Die Vergeltung wird vollzogen, um dem Staat Genugtuung zu verschaffen. Daß das seelische Heil des Verbrechers bei solchen Erwägungen keine Rolle spielt, ergibt sich zur Genüge schon daraus, daß hier die Todesstrafe ihre feste Wurzel hat. Soll er Mörder etwa deshalb getötet werden, damit er selbst von seinem Verbrechen gereinigt wird? Ist es nicht geradezu ein Schlagwort der modernen Vergeltungstheoretiker, es sei die Tat und nicht der Täter zu bestrafen? Zudem würde selbst im günstigsten Fall Vergeltung nur einen Teil des hier aufgestellten Strafbegriffs decken. Ebensowenig darf aber eine Subsumtion unter die sogenannte Zweckstrafe statthaben. Abschreckung und Sicherung müssen ganz außer Betracht bleiben. Genugtuung und Besserung haben hier, wenn überhaupt eine Zugehörigkeit angenommen werden soll, einen ganz anderen Sinn. Es kann nicht Wunder nehmen, daß sich in unserer Idee der Strafe Spuren der klassischen und der modernen Schule zeigen. Die Staatsauffassungen, auf denen beide Lehren beruhen, werden überbrükt durch die These von der Reziprozität von Einheit und Allheit. Darum prätendiert [behauptet - wp] die Strafe, wie sie das Ergebnis dieser Untersuchung bildet, Retribution und Prävention in sich aufzunehmen und dadurch zu überwinden. Zugleich aber stellt sie sich beiden, wie überhaupt jedem Straf begriff, als Straf idee bewußt gegenüber. Sie orientiert sich an einer Idee, nicht wie diese an Gegebenheiten, an einem bestimmten Staat oder an einer bestimmten Gesellschaft, kurz am positiven Recht. Auch da, wo man sich zum Gedanken eines "positiven Staates überhaupt" oder einer "Gesellschaft überhaupt" erheben will, wird dieser Gegensatz nicht aufgehoben. Beide Begriffe bedürfen zuvor einer Rechtfertigung und Ableitung aus der Idee des Staates; ihre Einseitigkeit muß sich dabei erweisen. Aber daraus, daß die Strafidee auf eine Idee des Staates bezogen ist, erwächst notwendig eine Schwierigkeit. Der Staat der Erscheinung wird stets der Strafe im Sinne der Vergeltung als eines Mittels zur Verhütung des Autoritätsverlustes bedürfen. Ebenso kann die Gesellschaft niemals auf ihre konstitutionellen Garantien verzichten;, sie muß durch Abschreckung, Genugtuung, Sicherung die Erhaltung und Förderung ihrer Sicherheit wollen. Die Strafe des positiven Rechts kann also die Strafidee nicht restlos zur Darstellung bringen; ihr positiver Charakter muß ihr rudimentär anhaften. Aber gerade dies ermöglich den Fortschritt. Es ist aufgezeigt, nach welcher Richtung hin sich die Reaktion des Staates gegen das Verbrechen entwickeln soll. In verschiedenen Graden findet jede Strafrechtstheorie Ansätze zu einer solchen Entwicklung in sich vor. Die den einzelnen Theorien anhaftende Einseitigkeit ihrer Tendenzen muß zum Ausgleich gebracht werden. Dies ist nur möglich, wenn die einander widerstreitenden Strafrechtslehren möglichst rein zur Darstellung gebracht werden. Von Kompromissen dagegen, wie sie heute erstrebt werden, ist ein Fortschritt in der Erkenntnis des Wesens der Strafe nicht zu erhoffen. Für die Strafidee ist der Begriff des Staatsbürgers eine notwendige Voraussetzung. "Wie der Sklave keinen Teil am Frieden hat, kann er auch keinen verlieren." (18) Ohne "Mannheiligkeit" keine Friedlosigkeit. Wo der Verbrecher kein Staatsbürger ist, oder ein Staatsbürger minderen Rechts, da kann die Strafe niemals über eine positiv-rechtliche Begründung hinaus. Diese Erwägung trifft die Fälle nicht, in denen wegen mangelnden Alters der Aufstieg zum Staatsbürger noch nicht vollzogen ist; zeigt schon jedes Verbrechen des Erwachsenen, daß der Staat seiner Erziehungspflicht nicht genügt hat, und ist schon hier die Strafe zu einem Teil als Ersatz des früher Versäumten aufzufassen: so beim Jugendlichen erst recht. Dem Nichtbürger gegenüber jedoch kann die Idee der Strafe nicht wirksam werden. Diese setzt voraus, daß es überhaupt keinen Nichtbürger, also auch keinen "Ausländer" gibt. Sie fordert, daß der Staat sich zum Weltstaat erhebt, und daß hier letzten Endes das Recht seine Fundierung findet.
1) GUSTAV RADBRUCH, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1910. RADBRUCH folgt einer Anregung von EMIL LASK, Rechtsphilosophie in WINDELBAND, Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts, Seite 283. 2) LUDWIG POHLE, Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre, 1911, Seite 59f 3) FRIEDRICH SCHILLER, Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, Cottasche Säkular-Ausgabe XIII, Seite 57f 4) IGNAZ PAUL VITALIS TROXLER, Philosophische Rechtslehre der Natur und des Gesetzes mit Rücksicht auf die Irrlehren der Liberalität und Legitimität, 1820 5) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 33, Seite 1f 6) RUDOLPH SOHM, Institutionen des römischen Rechts, § 9 7) JOSEF KOHLER, Hegels Rechtsphilosophie, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 4, Seite 113 8) Nach dem Gedanken des § 249 BGB. 9) Zur Forderung einer Schadloshaltung des Verletzten finden sich einzelne Ansätze in der Literatur, z. B. OETKER, Rechtsgüterschutz und Strafe, in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 17, Seite 525, Note 84 und LANDSBERG, Die Familie und das Opfer des Verbrechers" in Monatsschrift für kriminalistische Psychologie, Bd. VI, Seite 65 10) Vgl. zum Folgenden die jetzt wohl eindringlichste Untersuchung von BINDING, Die Entstehung der öffentlichen Strafe im germanisch-deutschen Recht, Leipziger Rektoratsrede, 1908. 11) Vgl. meinen oben Anm. 5 zitierten Aufsatz, Seite 29f 12) FICHTE, Grundlage des Naturrechts, Ausgabe von MEDICUS, Bd. II, Seite 264. 13) Über den gegenwärtigen Stand dieser Frage vgl. das Protokoll der Brüsseler Tagung der Internationalen kriminalistischen Vereinigung (Mitteilungen der 1. K. V., Band 17). 14) 14) FICHTE, Naturrecht a. a. O., Seite 273 15) THEODOR STERNBERG, Die Selektionsidee in Strafrecht und Ethik, 1911. 16) HERMANN COHEN, Ethik des reinen Willens, 2. Ausgabe, Seite 377f und 383f. 17) COHEN, a. a. O., Seite 379 18) BINDING, a. a. O., Seite 14 |