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WILLIAM STERN
Ein Beitrag zur differentiellen
Psychologie des Urteilens


 "K.  ließ gleichsam den Reiz an sich herantreten; merkte er keine Veränderung, so wartete er eben noch länger, vielleicht daß sich bei Fortdauer des Reizes die Wahrnehmung einer kleinen Veränderung doch noch einstellen könnte. So kam es denn oft, daß der Versuch nach 20 Sekunden - wenn die Luft des Blasebalgs ausging - abgebrochen werden mußte, ohne daß  K.  reagiert hätte. Bei ihm ist also die Wahrnehmung der Konstanz identisch mit Nichtwahrnehmung einer Veränderung und deshalb immer korrigierbar."


"Differentiell-psychologisch" nenne ich diejenige Betrachtungsweise, welche nicht die in allen Individuen gleichen Gesetzmäßigkeiten des seelischen Geschehens, sondern gerade die Variationsformen, in denen seelische Funktionen bei verschiedenen Individuen auftreten können, zum Gegenstand hat. Alle jene Begriffe für differentielle Eigentümlichkeiten, die im Ganzen der "Individualität" ihr Gepräge geben: Temperament, Charakter, Gedächtnistypus usw. bedürfen, nachdem sie lange genug in den Händen von Laien und Halblaien eine abgegriffene Scheidemünze gewesen sind, einer wissenschaftlichen Neuprägung, die eine der generellen Psychologie nebenzuordnende differentielle zu übernehmen hätte.

Derartige Bestrebungen sind in den letzten Jahren hier und da aufgetaucht (meist unter dem mißverständlichen Namen einer individuellen Psychologie); auch hat man versucht, das Experiment in den Dienst der neuen Aufgabe zu stellen, wobei man freilich zum Teil, indem man ganze Serien der verschiedenartigsten Prüfungen - mental tests - vorschlug, weit über das Ziel des gegenwärtigen Könnens hinausschoß. Wir mir scheint, liegt der Wert des Experiments für differentiell-psychologische Zwecke nach einer ganz anderen Richtung hin: es gilt festzustellen, auf welche Weise gewisse charakteristische Seiten der Individualität überhaupt dem Experiment zugänglich gemacht werden können: und es gilt dann, an Hand solcher Experimente die betreffende Eigenart psychischen Funktionierens des Näheren zu erforschen. Hierbei können auch Versuche, die zu fernliegenden generell-psychologischen Zweck an mehreren Personen angestellt wurden, wertvolle Fingerzeige geben; denn die nie fehlenden Abweichungen in den Resultaten können unter Umständen über differentielle Eigentümlichkeiten der Individuen Aufklärung bieten und dadurch künftigen, eigens zu differentiell-psychologischen Zwecken angestellten Experimenten die Richtung weisen.

In diesem Sinne möchte ich die Versuche, die ich im vorangegangenen Artikel betrachtet habe, hier noch einmal unter einem ganz anderen Gesichtspunkt behandeln. Sie waren angestellt, um die Frage zu beantworten: Wie werden Tonveränderungen verschiedener Geschwindigkeit wahrgenommen? Die Betrachtung der Resultate gestattete aber zugleich, ganz abgesehen von diesem Problem, charakteristische Einblicke  in die typische Art, wie sich die Individuen urteilend äußeren Reizen gegenüber verhalten.  Diese Art ist von Mensch zu Mensch außerordentlich verschieden; sie ist außerdem zur individuellen Kennzeichnung einer Persönlichkeit von hoher Bedeutung. Denn das Verhalten beim Urteilen drückt nicht nur ein passives Aufnehmen von Reizen, sondern eine aktive Stellungnahme des Willens der Außenwelt gegenüber aus.

Um diese charakteristische Seite der Individualität zu untersuchen, ist die Materie, an der sich das Urteil betätigt, relativ gleichgültig; die größere oder geringere Zuverlässigkeit und Gründlichkeit des Urteils, der Grad, in dem es durch Erwartung, Ungeduld, Aufmerksamkeitsschwankungen usw. bestimmt wird, dies und vieles Andere wird sich ziemlich konstant bleiben, ob nun Töne oder Helligkeiten, ob unstetige Unterschiede oder allmähliche Veränderungen zur Beurteilung stehen. Wichtig ist nur, daß die Urteilstätigkeit Gelegenheit hat, sich in verschiedenen, untereinander vergleichbaren Formen zu äußern, und das ist in den Versuchen über Tonveränderung der Fall. Erstens nämlich war das Objekt der Beurteilung in ausgiebigstem Maße abgestuft, indem die Geschwindigkeiten der Veränderung in weiten Grenzen variierten; hier ließt sich beobachten, inwiefern sich diesen objektiven Variationen das subjektive Verhalten des zu Prüfenden anpaßte. Da dieser zweitens durch eine Reaktionsbewegung selbst den Moment, in dem sein Urteil gefällt war, angeben konnte, so war seiner Selbsttätigkeit in besonders hohem Maße Spielraum gelassen; (in weit höheren als in den sonst meist üblichen Versuchsanordnungen, die einen an Umfang und Größe begrenzten Reiz zur Beurteilung vorlegen). Drittens waren die subjektiven Urteilsbedingungen auf zwei qualitativ grundverschiedene Formen gebracht, indem bei sonst durchaus paralleler Versuchsanordnung einmal ein wissentliches, das andere Mal ein unwissentliches Verfahren zur Anwendung kam; das Verhalten des Reagenten in diesem und in jenem Fall gibt zu interessanten Folgerungen Anlaß.

Ein günstiger Zufall hat es nun gewollt, daß meine beiden Versuchspersonen in der Art zu urteilen zwei grundverschiedene Typen repräsentierten, deren Vergleichung ich, soweit es die Versuche ermöglichen, jetzt durchführen möchte. Zugleich werde ich hier und da Aussagen über Selbstbeobachtungen, die ich nach Beendigung der Versuche veranlaßt und protokolliert habe, zur Bestätigung meiner Erwägungen anführen.

Um die beiden Typen im Groben zu bezeichnen, will ich sie den  objektiven  und den  subjektiven  Typus nennen, obgleich ich mir bewußt bin, daß diese Ausdrücke auch nicht im Entferntesten die mannigfachen zarten und feinen Nuancen, in denen sich die Urteilsfähigkeit hier und dort kundgibt, wirklich umfassen.  K.  vertritt den ersteren,  R.  den letzteren.  K.  gibt sich möglichst passiv dem Eindruck hin, verhält sich kontemplativ, paßt sich daher auch in hohem Grad den Variationen des äußeren Reizes an; er wartet mit der Reaktion, bis er zu einem sicheren Urteil gelangt ist. Der "Subjektive"  wartet  nicht, sondern  erwartet  etwas, läßt sich leicht durch vorgefaßte Meinung oder ungeduld bestimmen, zu reagieren, ehe aufgrund seiner bloßen Wahrnehmung volle Sicherheit vorhanden ist und hat überhaupt eine starke Tendenz zu motorischer Entladung; der Moment der Wahrnehmung wird viel weniger durch die Beschaffenheit des Wahrgenommenen, als durch subjektive periodische Auf- und Nieder-Schwingungen der psychischen Aktivität bestimmt. Betrachten wir das im Einzelnen.

Zunächst ist das Verhalten beider in den ungemischten und gemischten Reihen bemerkenswert. Dort, wo die Reagenten wußten, welche Veränderungsrichtung in der Reihe stets dargeboten wurde und nur in Unwissenheit über die im einzelnen Fall angewandte Geschwindigkeit waren, erfolgte die Reaktion rascher als dort, wo bei entsprechenden Geschwindigkeiten die Versuchspersonen jedesmal erst entscheiden mußten, ob sie eine Erhöhung, Vertiefung oder Konstanz vor sich hatten. Diese Differenz ist bei beiden vorhanden; sie ist aber sehr verschieden groß. Während bei  K.  in den gemischten Reihen die Länge der Reaktionszeiten (d. h. die Höhe der Veränderungsschwelle) im Durchschnitt um 14% die der ungemischten übertriffte, beträgt bei  R.  der Zuwachs in den gemischten Versuchen nur 8%.  K.  gönnt sich also dort, wo er vor einer schwierigeren Aufgabe steht, mehr Zeit; er läßt die Veränderung erst beträchtlich größer werden, ehe er durch die Reaktionsbewegung seine Entscheidung registriert; seine Vorsicht wächst mit der Gefahr des Irrtums.

Die sehr geringe Differenz bei  R.  läßt, ansich betrachtet, zweierlei Deutung zu. Sie kann sich nämlich darauf gründen, daß in den gemischten Reihen so schnell reagiert wird, wie in den ungemischten - aber auch darauf, daß in den ungemischten so langsam reagiert wird, wie in den gemischten. Eine geringe Differenz muß derjenige zeigen, welcher, schnell fertig mit dem Urteil, sich auch dort keine Zurückhaltung auferlegt, wo die Möglichkeit des Irrtums in hohem Maße vorhanden ist, eine geringe Differenz muß aber auch jener phlegmatisch Bedächtige aufweisen, der selbst dort, wo eine Fehlreaktion ausgeschlossen ist, erst den denkbar höchsten Grad der Sicherheit abwartet, ehe er sein Urteil abgibt.

Die Versuche bieten nun aber eine Möglichkeit der unzweifelhaften Entscheidung dieser Alternative:  die Anzahl der Fehler,  die in den gemischten Reihen gemacht worden sind, beweist auf das Bündigste, daß die geringe Differenz bei  R.  nicht auf all zu großer Bedächtigkeit, sondern eher auf dem Gegenteil beruth. Man vergleiche Tabelle IV des vorangehenden Artikels, welche zeigt, daß  R.  in den gemischten Reihen 26% Fehlurteile aufzuweisen hat. Wenn man bedenkt, daß es in seinem Belieben gestanden hatte, mit der Urteilsfällung noch länger zu warten, so ist hier die Fehlerzahl nicht etwa ein Zeichen für die zu geringe Feinheit seiner Gehörsempfindung, sondern geradezu ein Index für den Zuverlässigkeitsgrad seines Urteils.  K.,  der sich bei den gemischten Versuchen mehr Zeit ließ, hat auch viel weniger, nämlich nur 16% Fehler gemacht. Mit diesen Schlußfolgerungen stimmen die Protokolle der Aussagen beider überein.  K.:  "Ich gehe bis zur Grenze einer nach meinen Begriffen sicheren Sinneswahrnehmung."  R.:  "Ich reagiere, sobald ich überhaupt glaube, eine Veränderung wahrgenommen zu haben. Ich könnte das schließlich noch sicherer konstatieren, aber oft habe ich die Empfindung, es ist ganz überflüssig, noch länger zu warten."

In potenzierter und daher besonders charakteristischer Weise treten die eben genannten Verhältnisse bei einer bestimmten Form von Reizen nämlich bei den  Konstanzen  auf. Beginnen wir mit den gemischten Reihen, bei den die Reagenten wußten, daß Erhöhungen, Vertiefungen und Konstanzen regellos abwechselten. Hier verhielten sich nun  K.  und  R.  grundverschieden.  K.  ließ gleichsam den Reiz an sich herantreten; merkte er keine Veränderung, so wartete er eben noch länger, vielleicht daß sich bei Fortdauer des Reizes die Wahrnehmung einer kleinen Veränderung doch noch einstellen könnte. So kam es denn oft, daß der Versuch nach 20 Sekunden - wenn die Luft des Blasebalgs ausging - abgebrochen werden mußte, ohne daß  K.  reagiert hätte. Bei ihm ist also die Wahrnehmung der Konstanz identisch mit Nichtwahrnehmung einer Veränderung und deshalb immer korrigierbar. Infolgedessen hat er auch nur sehr selten eine Veränderung fälschlich für eine Konstanz angesehen, während der umgekehrte Fehler ziemlich häufig (wenn auch viel seltener als bei  R.)  vorkam. - Ganz anders  R.  Bei ihm war der Drang zu rascher Betätigung viel zu groß, als daß er so rein kontemplativ hätte bleiben können. Er reagierte bei jedem Versuch, auch dann, wenn er keine Veränderung merkte; in letzterem Fall bedeutete eben die Reaktion, daß er mit seinem Urteil "Konstanz" fertig war. Diese Reaktion erfolgte durchschnittlich schon nach 10 Sekunden, obgleich er doch wußte, daß auch Veränderungen ganz langsamer Geschwindigkeit vorkamen, die namentlich im Anfang ihrer Dauer leicht mit Konstanzen zu verwechseln sind. Wahrnehmung der Konstanz ist bei ihm der positive Eindruck der Gleichheit und daher, wie er glaubt, nicht weiter aufhebbar. Die Folge dieses Verhaltens ist, wie nicht zu verwundern, eine völlige Unfähigkeit, Konstanzen objektiv zu beurteilen. Ziemlich oft hält er langsame Veränderungen, insbesondere Vertiefungen für Konstanen, während er andererseits die Hälfte aller wirklichen Konstanzen (siehe Tabelle IV) fälschlich als Veränderungen beurteilt. Dieser impulsive Drang, auch dort nach relativ kurzer Zeit zu reagieren, wo er keine Veränderung bemerkt hat, im Gegensatz zum ruhig wartenden  K.,  ist meines Erachtens einer der charakteristischsten Züge in diesen Typenbildern. - Man vergleiche wieder die Protokolle.

K.:  "Bei Gleichheit würde ich in infinitum warten." "Da ich tatsächlich zuweilen erst bei 20 Sekunden eine langsame Veränderung wahrnehme, warte ich so lange."

R.:  "Wenn eine gewisse Zeit vergangen ist, vergleiche ich den gegenwärtigen Ton mit der Erinnerung des Anfangs. Merke ich dann keine Veränderung, so habe ich die Empfindung: das ist  todsicher  gleich und wird sich auch nie mehr verändern."

Aber auch in die ungemischten Reihen waren Konstanzen eingestreut worden. Während die Reagenten glaubten, es würden ihnen in einer Reihe nur Erhöhungen, bzw. nur Vertiefungen in verschiedener Geschwindigkeit dargeboten, enthielt jede Reihe neben 7 wirklichen Veränderungen einer Richtung noch 2 Konstanzen, so daß hier im Ganzen bei  K.  (mit 8 Doppelreihen) 32 Mal, bei  R.  (mit 10 Doppelreihen) 40 Mal Konstanz vorgekommen war, neben 112 bzw. 140 wirklichen Veränderungen. Hier haben wir nun eine Möglichkeit, die durch Erwartung bedingte  Suggestibilität  der Versuchspersonen zu prüfen. Die Erwartung ist in einer solchen Reihe ausschließlich auf Veränderung einer bestimmten Richtung eingestellt; wie stark ihre halluzinatorische Valenz bei einer dazu disponierten Person ist, kann man daraus ersehen,  daß R. von den 40 Konstanzen  nur  10  erkannte, dagegen in den 30 anderen Fällen eine Veränderung in der erwarteten Richtung zu hören glaubte! K.' dagegen zeigt auch hier wieder seine größere Objektivität, indem er in 3/4 aller Konstanzfälle dieselben richtig beurteilte (oder was ja nach Obigem dasselbe bedeutet, den Versuch vorbeigehen ließ, ohne zu reagieren). Es ist also bei ihm der wirkliche Wahrnehmungsinhalt ein mächtigerer Faktor zur Bestimmung der Richtung, in der sich seine psychische Aktivität betätigt, als das subjektive Moment der Erwartung.

Vervollständigt werden endlich noch die Typenbilder durch die  zeitlichen  Verhältnisse des Urteilens. Denn außer der Erwartung gibt es noch einen subjektiven Faktor, der die einfache Anpassung an die objektiven Reizbedingungen durchkreuzt; das ist die  Periodizität  im Auf- und Niederschwingen der psychischen Energie.' Wie ich an anderen Stellen ausführlich dargetan, macht sich dieser Wechsel von Höhepunkten und Tiefständen der seelischen Aktivität besonders dort bemerkba, wo das Individuum zu einer ununterbrochenen Anspannung der Aufmerksamkeit gezwungen ist, also z. B. bei Veränderungsversuchen. Da nun unseren Versuchspersonen selbst die Wahl des Moments überlassen war, in dem sie durch eine Bewegung über den Abschluß ihres Urteils zu quittieren hatten, so ist es kein Wunder, daß diese Handlung zum großen Teil von der Kulmination der psychischen Periodik abhing. Und so zeigt es sich in der Tat, daß in den Reaktionen gewisse Zeitwerte außerordentlich häufig, andere wiederum sehr selten vorkommen. Eine erste Vorzugszeit für die Urteilsfällung liegt um 4, eine zweite um 8 Sekunden herum; auch die Zeiten 12 und 16 zeigen noch merkbare, wenn auch kleine Kulminationen. Selbstverständlich ist, daß der objektive Faktor der Veränderungsgröße durch diesen subjektiven Faktor der Optimalzeiten an Einfluß auf den Vollzug des Urteil verliert. Nach jenem nämlich würde das Urteil erfolgen, wenn die Veränderung eine bestimmte Größe erreicht hat, nach diesem, wenn die Veränderung eine gewisse Zeit gedauert hat. Bemerkenswert ist es nun, daß die Wirkung der beiden Momente individuell sehr verschieden ist. Gewisse Personen, sind, obzwar das Optimalzeitphänomen sich auch bei ihnen bemerklich macht, immerhin imstande, ihr Urteil einigermaßen dem Umfang und der Geschwindigkeit der Veränderung anzupassen; Andere aber stehen so sehr unter der Herrschaft des zeitlichen Faktors, daß die Größe der Veränderung für sie fast ganz gleichgültig ist; ihr Urteil emanzipiert sich stark vom objektiven Reiz und folgt mehr oder weniger blindlings der subjektiven Tendenz."

Diese Differenzierung ist es nun wieder, welche bei unseren beiden Versuchspersonen vorliegt. Um sie zu konstatieren, habe ich die Methode angewandt, die mir früher dazu diente, das Vorwiegen bestimmter Zeitwerte nachzuweisen: Die Zählung der Zeiten. Ich abstrahierte von den verschiedenen, bei meinen Versuchen angewandten Geschwindigkeiten und bestimmte die  Häufigkeit,  in der die einzelnen  Veränderungsdauern,  sowohl in den gemischten wie in den ungemischten Reihen vorgekommen waren. Zu diesem Zweck zählte ich immer diejenigen Zeitwerte zusammen, welche die gleiche Zahl vor dem Komma hatten (z. B. 4,3; 4,8; 4,1; 4,5 Sekunden); so erhielt ich die Häufigkeit, mit der die Zeit zwischen 4 und 5 Sekunden vertreten ist, ebenso die anderen Häufigkeiten. Die Resultate habe ich in untenstehender Figur graphisch dargestellt; die Abszissen entsprechen den Zeiten, die Ordinaten den Häufigkeiten; die ausgezogenen Kurven beziehen sich auf die ungemischten, die punktierten auf die gemischten Reihen.

k und r

Das erste, was in die Augen fällt, ist die weitaus größere Steilheit der Kurven von  R.,  dem Vertreter des subjektiven Typus. Bei ihm konzentriert sich das weit überwiegende Gros aller Zeiten auf die Dauern zwischen 2 und 5 Sekunden, während die längeren Zeiten nur sehr spärlich vorkommen und sich noch einmal zwischen 8 und 9 Sekunden zu einer kleinen Kulmination aufraffen. Zwischen 2" und 5" liegt die erste Optimalzeit. In dieser kurzen Zeitspanne gelangen also die meisten der an Geschwindigkeit doch so sehr verschiedenen Veränderungen zur Wahrnehmung; es läßt eben der zu einer bestimmten Zeit hervorbrechende Drang nach psychischer Betätigung die materialen Unterschiede des Empfindungsstoffes, an dem er sich zu betätigen hat, durchaus in den Hintergrund treten.  R.  muß reagieren, wenn seine Zeit gekommen ist, wobei es sich ziemlich gleich bleibt, ob die Änderung, die zur Beurteilung steht, eine langsame oder eine schnelle ist. Bei den langsamen strengt er sich besonders an, um sie in dieser Kulminationszeit der Energie zu erkennen und in ihrer Richtung zu beurteilen; bei den schnellen wartet er, bis sich im gegebenen Moment das Urteil von selbst einstellt;  nicht er beherrscht den Gegenstand, sondern er wird beherrschft von seinem eigenen subjektiven Zustand. 

K.  zeigt einen ganz anderen Aspekt: eine viel weitere Streuung der Zeiten, entsprechend den verschiedenartigen Geschwindigkeiten der Änderung. Die Periodizität der psychischen Dynamik kann freilich auch er nicht ganz verleugnen; sie ist eben eine allgemeingültige seelische Gesetzmäßigkeit. Aber bei ihm ist es nicht  eine  Vorzugszeit, in der sich alles zusammendrängt. Zwar führt wieder die erste Optimalzeit (zwischen 3 und 5 Sekunden) am häufigsten zum Urteil; aber die Tendenz, hier zu reagieren, ist nicht allmächtig; was in dieser Zeit nicht erledigt werden kann, wird später erledigt und hierbei macht sich denn eine zweite Kulmination (bei den gemischten Versuchen), ja sogar noch eine dritte und vierte bei 12 und 16 deutlich bemerkbar.

Erwähnenswert ist, daß sich eine ganz entsprechende Differenzierung im Verhalten von  K.  und  R.  auch bei den nach ganz anderer Methode angestellten früheren Versuchen hatte konstatieren lassen.

Endlich zeigen die Kurven noch im Speziellen die Zeitverhältnisse in den  gemischten  Versuchen. Eines haben  K.  und  R.  gemeinsam: die besondere Anspannung der Energie in der ersten Optimalzeit. Es ist, als ob sich alle Kraft der Aufmerksamkeit auf eine ganz kurze Zeitspanne konzentriere, um in dieser, was nur möglich, zu leisten. Zwischen 3 und 4 Sekunden drängt sich die Haupttätigkeit zusammen. Die erste Optimalzeit kulminiert nicht nur spitzer, sondern - wegen der starken Anspannung - auch früher, um dafür desto schneller zu sinken: die Zeit um 5 Sekunden herum, eine Dauer, die bei den ungemischten Versuchen noch oft vorkommt, ist bei den gemischten schon mit weit geringeren Häufigkeitswerten vertreten. - Worin weichen nun aber die beiden Versuchspersonen voneinander ab? Bei  R.  ist mit dem geschilderten einmaligen Impuls die Arbeit im Wesentlichen erledigt; die größere Schwierigkeit der Aufgabe macht sich nur in stärkerer momentaner Energieentfaltung, nicht etwa in größerer Besonnenheit bemerkbar, ein Zug, den man wohl als Charakteristikum des sanguinischen Temperaments anzusehen pflegt. - Bei  K.  fehlt zwar ebenfalls nicht die größere Energie; bezeichnender aber ist für ihn, daß er nicht im ersten Anlauf um jeden Preis seine Aufgabe zu erledigen sucht, sondern seine Hauptkraft auf die  zweite  Optimalzeit konzentriert, in der nun der weitaus größte Teil der gemischten Versuche beurteilt wird. Gerade diese sowohl in Breite und Höhe bedeutende zweite Kulmination unterscheidet das Verhalten  K's  nicht nur von dem  R's,  sondern von seinem eigenen Verhalten in den ungemischten Versuchen und zeigt, wie sofort durch die Erschwerung der Aufgabe auch der Mechanismus seines seelischen Verhaltens eine durchgreifende Veränderung erfährt.

So hat die Diskussion der verschiedenen Versuchsergebnisse ein, wie ich glaube, anschauliches und in sich wohl zusammenstimmendes Bild geliefert von der typischen Art, wie sich zwei verschiedene Persönlichkeiten nach einer gewissen Seite psychischer Betätigung hin verhalten. Das ursprünglich zu ganz anderen Zwecken angewandte Verfahren hat somit nachträglich seine Befähigung dargetan, gewisse, für die Charakteristik der Personen nicht unwichtige Besonderheiten zu erschließen. Die Methode dürfte, wenn sie eigens und allein in letztgenannter Absicht Anwendung finden sollte, mancher Vereinfachung und Verbesserung zugänglich sein.

Zum Schluß möchte ich mir gestatten, an obige Ausführung eine Anregung allgemeinerer Art zu knüpfen. Fast stets werden psychologische Versuche an mehreren Personen in übereinstimmender Weise angestellt. Mögen sich nun die Experimentatoren daran gewöhnen, bei der Durcharbeitung der Resultate die etwa gefundenen individuellen Abweichungen, statt sie lediglich als lästige Störungen zu betrachten, auf ihre differentiell-psychologische Brauchbarkeit hin zu prüfen.
LITERATUR - William Stern, Ein Beitrag zur differentiellen Psychologie des Urteilens, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 22, Leipzig 1900