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ERNST KAPP
Grundlinien einer
Philosophie der Technik

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"Stein und Ast sind die Embryonen des Werkzeugs. Je nach der Wahl in Bezug auf Form und Beschaffenheit wird der Ast zum Stab, zur Keule, zur Lanze, zum Ruder, zum Bogen und zur Handhabe überhaupt, der Stein unterstützt die klopfende, schneidende, bohrende, schleifende, glättende Hand und entlehnt dagegen von ihr in seiner weiteren Metamorphose, gestielt mit Holz und gefaßt mit Horn, die ersten festeren Maße und Verhältnisse."

"Der Steinwurf des Pavian ist heute wie vor vielen Jahrtausenden derselbe Vorgang, der Steinwurf aus der Hand des Urmenschen war eine Verheißung des Werkzeugs und der Maschinenwelt."

II.
Die Organprojektion

Als im Beginn der sechziger Jahre in einer Sitzung der philosophischen Gesellschaft zu Berlin über das Alter des Menschengeschlechts diskutiert wurde, machte SCHULTZENSTEIN die Bemerkung, daß der Mensch überall, wo er auftritt, sich eine passende Lebensart erst erfinden und durch Kunst verschaffen muß, so daß Wissenschaft und Kunst beim Menschen an die Stelle des Instinkts der Tiere tritt, wodurch er Schöpfer seiner selbst, ja sogar seinr Körperbildung und Veredlung wird. Dem zustimmend erwiderte LASALLE: "Diese  absolute Selbstproduktion  ist eben der tiefste Punkt im Menschen."

Wir stoßen hier auf einen Ausspruch, welcher der richtigen Auffassung dessen, was wir unter Projektion in unserem Sinne verstanden wissen möchten, trefflich zustatten kommt.

Der Sprachgebrauch des Ausdrucks "Projektion" hält in allen Fällen an dessen etymologischer Grundbedeutung fest. Abgesehen vom Geschützwesen, welches alle Geschosse Projektile, von der Architektur, welche eine Vorsprung Projektur nennt, und von den Projekten des Geschäftslebens, ist das Wort besonders in der Zeichenkunst heimisch für jede Art von Vorwurf, Entwurf, Plan, Riß, Skizze, insbesondere aber für das Entwerfen der dem Kartographen nötigen Gradnetze. Wer kennt nich z. B. die so oft genannten parallellinigen Gradnetze "nach MERCATORs Projektion"?

Mehr als dieses Nebensächliche interessiert hier, daß das Wort häufig zur Erklärung der Beziehung der Empfindungen auf äußere Gegenstände und überhaupt für die Bildung der Vorstellungen von Physiologen wie von Psychologen verwendet wird.

In allen diesen Fällen ist Projizieren mehr oder weniger das Vor- oder Hervorwerfen, Hervorstellen, Hinausversetzen und Verlegen des Innerlichen in das Äußere. Projektion und Vorstellung sind dem Wortlaut nach eigentlicht wenig verschieden, insofern der innerlichste Akt des Vorstellens nicht frei ist von einem dem vorstellenden Subjekt gleichsam vor Augen gestellten Objekt.
    In welchem Sinn der Ausdruck in wissenschaftlichen Werken bisher gebaucht worden ist, werden einige Belegstellen dartun: So sagt ROKITANSKY (Der selbständige Wert des Wissens, Seite 25) Bei der Gelegenheit einer Erwähnung des Verlegens der Dinge in den Raum: "Wir sind uns nicht der Bilder in uns, sondern immer nur der aus uns heraus projizierten Dinge bewußt." Weniger direkt bedient sich C. G. CARUS des Wortes: "Beim Sehen ist es die Lichtwirkung der Gegenstände selbst, welche innerlich empfunden, und nicht ein Bild dieser Lichtwirkung, welches erst wieder von einem Anderen gesehen wird, und die sichtbare Welt entsteht uns nur, indem die Empfindung, welche in der Retina erregt wird, sich gleichsam nach außen projiziert." (Physis, Seite 415). C. ROSENKRANZ äußert über LUDWIG FEUERBACHs anthropologischen Standpunkt, er behaupte, daß der Mensch sich sein eigenes Wesen in der Form der Vorstellung eines außer ihm seienden, von ihm unterschieden sein sollenden Subjektes, projiziere, daß er sich in der Religion seines eigenen Wesens durch Projection in Vorstellungen entfremdet, denen keine Realität entspricht. (Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Seite 312)

    F. A. HARTSEN bezeichnet in den "Grundzügen der Psychologie" sehr bündig das Projektion genannte scheinbare  Heraustreten  der Seele aus dem Körper als "das  Hinauswerfen  geistiger Eigenschaften". Er spricht sowohl von einer Projektion der Empfindungen, wie von Projekten der Begierden, und meint bestätigen zu können, daß die Projektion der Seeleneigenschaften nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit stattfindet. (Seite 32, 59, 104)
Soweit spielte die Projektionstheorie ihre Hauptrolle sowohl in der Untersuchung über die Raumvorstellungen und die Richtung des Sehens, als auch in der Erklärung der aufrechten Stellung des gesehenen Objekts bei verkehrtem Netzhautbild.

Im Allgemeinen treten, je nach der Annahme oder der Verwerfung der Projektion, zwei Hypothesengruppen hervor, welche von HELMHOLTZ als  "empiristische"  und als  "nativistische Theorie"  bezeichnet werden. Zur ersteren zählen, außer der HERBART'schen Schule, HELMHOLTZ nebst den meisten Physiologen, zur letzteren JOHANNES MÜLLER, LUDWIG, FUNKE, LANGE und namentlich ÜBERWEG, durch dessen Abhandlung "Zur Theorie des Sehens" (in "Henles und Pfeuffers Zeitschrift V, 3) die ganze Frage, welche eine Zeit lang zu ruhen schien, aufs neue lebhaft angeregt worden ist. So noch kürzlich durch EDUARD JOHNSON in den philosophischen Monatsheften, durch P. KRAMERs "Anmerkungen zur Theorie der räumlichen Tiefenwahrnehmung" und durch CARL STUMPFs Buch "Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellungen".

Die Streitfrage harrt ihrer weiteren Entscheidung. Ein bedeutsamer Fingerzeig ist in der Bemerkung LUDWIGs gegeben: "Das Wort Nachaußensetzen ist nur ein bildlicher Ausdruck, um eine Erscheinung zu bezeichnen, daß die Seele einen im Hirn vorhandenen Zustand seiner Ursache nach auf einen außerhalb des Auges befindlichen Gegenstand  bezieht."  (Physiologie I, Seite 325)

Eine solche Beziehung des Bildes im Sensorium auf den Gegenstand außerhalb desselben ist Tatsache; sie steht, mindestens gesagt, in allerengster Verwandtschaft mit der Projektion. Selbst JOHANNES MÜLLER, ohne daß er sich des Wortes direkt bediente, scheint mit einem "gleichsam" die Sache nicht ganz fallen lassen zu wollen: "Die Gesichtsvorstellung kann gleichsam als ein Versetzen des ganzen Sehfeldes der Netzhaut nach vorwärts gedacht werden." WILHELM WUNDT äußert sich zugunsten einer Beschränkung auf jene Ansichten, "welche eine angeborene, oder zumindest eine fest gegebene  Beziehung  der Netzhautpunkt zu den Punkten im äußeren Raum voraussetzen" (Physiologische Psychologie, Seite 362). Deutlich genug bezeichnet auch ADOLF HORWICZ die Projektion "als Hinausversetzen der Empfindungen ins Objekt, als  Beziehung  derselben auf ein äußeres Objekt (Analysen auf physiologischer Grundlage, Seite 372).

Mit der Andeutung, daß Beziehungen derartige absolute, in einem inneren notwendigen Verältnis zweier Seiten haftende sind, deren jede sich stets die andere gegenüberstellt, sie voraussetzt, projiziert, lassen wir diesen bis jetzt unerledigten Gegenstand vorläufig auf sich beruhen, und wenden uns zu einem Vorgang, dem es in Wahrheit zukommt, als Projektion bezeichnet zu werden, da ihm nur solche Tatsachen zugrunde liegen, welche eine Verschiedenheit der Ansichten gänzlich ausschließen. Die nähere Bestimmung dieser Art von Projektion, der Organprojektion, wird sich aus dem Verlauf unserer Untersuchung rechtfertigen, deren eigentliches Thema sie ist.

Die ihr zugrundeliegenden Tatsachen sind bekannte, geschichtliche, sind so alt wie die Menschheit. Neu aber ist deren Betrachtung aus ihrem genetischen Zusammenhang heraus, und zwar von dem hier zum erstenmal durchgängig darauf angewendeten Gesichtspunkt der Projektion.

Dieser bisher unbetretene Weg führt zur kulturhistorischen Begründung der Erkenntnislehre überhaupt Ausgangspunkt ist der Mensch, der ja bei allem, was er denkt und tut, ohne von sich selbst abzufallen, von nichts anderem ausgehen kann als von sich, dem denkenden und handelnden Selbst; aber nicht der hypothetische Bathybiusmensch [Th. H. Huxleys "Urmensch" - wp], sondern der Mensch, so weit nur immer von urältester Zeit bis zur Gegenwart Dinge mit von seiner Hand herrührenden Spuren und Veränderungen für sein Dasein zeugen. Dieser nur ist der feste Punkt für den Beginn und für das Ziel allen Wissens. Zeugt er doch überall und immer für sich selbst!

Die bis jüngst zwischen einem geschichtlichen und einem nichtgeschichtlichen Weltalter angenommene, nach biblischer Urkunde aufs Jahr bestimmte Grenze ist nunmehr nach den Anfängen der irdischen Schöpfung hin in eine unendliche, nach vielen Jahrtausenden zählende Schwankung geraten.

Die Höhlenfunde erzählen eine Geschichte, nicht minder unwiderlegbar als Papyrusrollen und Backsteinbibliotheken. Sie bilden eine sehr reale Literatur, eine aus Fossilien, aus Geschirren, Werkzeugen und elementaren Zeichnungen bestehende Lapidar- und Bilderschrift, nach deren Zeugnis auf die Beschaffenheit der Tier- und Menschengeschlechter geschlossen wird, welche sich in ursprünglicher Nahrungskonkurrenz Leben und Herrschaft gegenseitig abzuringen hatten.

Angsichts dieser Funde und auch jener anderen, welche der heutigen Sprachforschung die neu erschlossenen Labyrinthe liefern, verschwimmen die Begriffe des Geschichtlichen und des bisher sogenannt Vorgeschichtlichen ineinander bis zur Unkenntlichkeit, so daß man sich, um doch zu irgendeiner Art von Abgrenzung oder Unterscheidung zu gelangen, einfach zu der Annahme bequemen muß, der eigentlich vorgeschichtliche Mensch sei derjenige, von dessen Dasein die Spuren auch des rohesten Werkzeugs nicht vorhanden sind; denn nur ein solches ist der Urgeschichte Beginn, weil es die erste Arbeit ist. Insofern man die Geschichte als die Aufeinanderfolge der menschlichen Arbeit auffaßt, ist auch die erste Arbeit, um das Geringste davon auszusagen, der geschichtartige Anfang, und die Urgeschichte selbst läßt sich weiterhin erst von da zu erkennbarer Geschichte an, wo eine berufsgleiche Scheidung der Arbeitenden in der Arbeitsteilung zu erscheinen beginnt, und die allmähliche feste Sonderung in Kasten und die staatliche Gliederung zu Ständen vorbereitet.

Alle Arbeit ist Tätigkeit, aber nur die bewußte Tätigkeit ist Arbeit. Kein Tier arbeitet. In den Schwärmen der sogenannten Tierstaaten der Bienen und Ameisen findet sich nur Emsigkeitsteilung. Teilung der Arbeit, der bewußten Berufsarbeit, sie ist es, welche den Geschichtsstaat macht und ist schon Geschichte.

Zwischen der eigentlichen Vorgeschichte, d. h. dem menschlichen Dasein vor aller Geschichte, und der wirklichen Geschichte hat man der Urgeschichte ihre Stelle angewiesen.

In den vom Standpunkt der Abstammungslehre über diese Gegenstände veröffentlichten Werken hat sich die Phantasie der Verfasser mit der Skizzierung der Leibesbeschaffenheit und der Lebensweise des Urmenschen oft recht ausführlich ergangen. Demzufolge hätte man sich den Urmenschen bald als Vieh zwischen Vieh, bald als ein von vornherein mit dem Keim der Geschichtsfähigkeit begabtes tiergleiches Geschöpf vorzustellen.

In Anbetracht der wilden und ungeschlachten Tierwelt, in deren Nähe wir uns den "angehenden" Menschen vorzustellen haben, können wir die physischen Eigenschaften desselben nicht hoch genug veranschlagen. Ohne Zweifel war er mit gorillamäßiger Kraft und Behendigkeit ausgestattet. Er besaß, abgesehen selbstredend von geschulten Kunstleistungen, alles was die Geschichte von der Riesenstärke einzelner Menschen berichtet und was wir täglich inner- und außerhalb eines Zirkus gewahr werden. Die sporadischen Kraftproduktioonen unserer modernen Athleten und Herkulesse waren beim Urmenschen selbstverständlich Naturgeschicklichkeit und kamen als solche der Gesamtheit zu.

Solange der Mensch ohne Waffen den reißenden Tieren gegenüberstand, mußte er ihnen an Stärke des Gebisses und der Nägel, an Faust- und Armkraft, wie an affenartiger Geschwindigkeit ebenbürtig sein. Die Wucht und Fertigkeit, die mit der Faust ein Rind zu Boden schlägt, mit den Händen Eisen bricht, mit dem Gebiß zentnerschwere Lasten balanziert, sich am Trapez schwingt und über Abgründen seiltanzt, ein  einem  Menschen vereinigt gedacht, gibt eine Ahnung von der physischen Ausstattung, welche die Urmenschen in den Stand setzte, im wahrsten Sinn des Wortes den Kampf auf Leben und Tod mit einer feindseligen Natur und ihren Riesenbestien zu bestehen.

Man ist demnach zu der Annahme gezwungen, daß die Urmenschen vor aller Waffen- und Geräteanfertigung, abgesehen von gewaltiger Muskelkraft und Behendigkeit der Gliedmassen, auch mehr oder minder den tierischen ähnliche natürliche Angriffs- und Verteidigungsmittel in ihren Nägeln und Gebissen entgegenzusetzen gehabt haben.

Der Gebrauch und die Vervollkommnung künstlich hergestellter Waffen hatte von selbst eine verhältnismäßig verminderte Anstrengung und eine Schonung der angeborenen natürliche Waffen zur Folge. Zur Erschaffung von Mitteln, berechnet auf Schutz und Sicherheit, sowie auf die annähernde Behaglichkeit des Daseins und dadurch sich steigernde geistige Tätigkeit, trat allmählich die zu ungewöhnlicher Anstrengung und Kraftäußerung nicht mehr genötigte Physis ins Gleichgewicht. Das Raubtierähnliche schwand in demselben Grad, in welchem das Geistige zu harmonisch menschlicher Bildung hervortrat. Die verwundenden und tödlichen Eigenschaften der Körperbildung wurden allmählich in ein dem Menschen Äußeres, in die Waffe, verlegt. Das Gebiß trat mit in den Bereich der Sprachorgane, der krallenartige Ausläufer der auch wohl als Fuß gebrauchten Hand wurde zur schützenden Nageldecke des werktätigen Fingers, während gleichzeitig der ganze anfänglich nur nach tierartiger Lebensweise ausgeformte, roh modellierte Leib mit seiner aufrechten Stellung in die Milderung der Ansprüche eines geselligen Daseins einging.
    Wie diese Vorgänge stattgefunden haben mögen, ist natürlich nur in ganz allgemeinen Zügen durch Rückschlüsse vom Standpunkt der heutigen Ethnographie aus zu skizzieren; welche Zeiträume aber von ihnen ausgefüllt worden sein mögen, darüber stellt die vergleichende Geologie grandiose Zahlenreihen auf.

    Nach den allgemeinen Entwicklungsgesetzen, für welche auf Erden Tausende von verschiedenen Vergleichspunkten geboten sind, nimmt unter anderen K. SIEGWART in seiner Schrift "Über das Alter des Menschengeschlechts" an, daß der Mensch vier verschiedene Kulturstufen durchlaufen hat:

      1. Den rohen, tierähnlichen Naturzustand des Wilden läßt er Millionen von Jahren gedauert haben;

      2. Dem Zustand des Halbwilden, charakterisiert durch die Anfänge der Steinperiode, räumt er Hunderttausende von Jahren ein;

      3. Den Zustand beginnender Kultur (Übergang aus der höheren Steinperiode in die Bronzeperiode) in staatlicher, religiöser und gesellschaftlicher Fortentwicklung, berechnet er auf sieben Jahrtausende; und

      4. Den Zustand höherer Zivilisationi eines gesonderten Menschenstammes (die alten Griechen und Römer) auf Jahrhunderte.

    Die Dauer der nachtertiären Zeit und das bisher bekannt gewordene Alter des Menschengeschlechts berechnet SIEGWART auf 224 000 Jahre.
Die betreffenden Versuche, den Menschen so gleichsam aus dem Groben herauszuarbeiten, können unbedingt nur auf dem Grund der organischen Entwicklungstheorie vor sich gehen. Ob dies am geeignetsten unter der Verwertung der Formel, welche DARWIN mit der "Entstehung der Arten" zur Erklärung seiner Lehre gegeben hat, oder mit Verwerfung derselben geschieht, also unter Annahme besonderer, den Arten als solchen zukommender "Uranagen" - dies entzieht sich bei dem obwaltenden Streit der Ansichten für jetzt noch der endgültigen Entscheidung.

Unter den hier einschlagenden Werken behauptet "Die Urgeschichte der Menschheit" von OTTO CASPARI hervorragende Stelle. Der Verfasser gehört keiner der extremen Parteien an und tritt zunächst, nachdem er die Leistungen derer hervorgehoben hat, die sich als Führer um die Wissenschaft vom Menschen auf allgemein völkerpsychologischer Grundlage verdient gemacht haben, mit den Worten in seine Untersuchung ein: "... Eine nicht minder hohe Verehrung glaube ich DARWIN schuldig zu sein. Scheint es mir doch, als hätte ich seine Erneuerung der Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] auf naturgeschichtlichem Gebiet, womit er einen fruchtbaren Einblick in den Wert der organischen Entwicklungsgeschichte eröffnet hat, nur zu übertragen versucht auf das Gebiet des frühesten Geisteslebens der Menschheit." (Bd. 1, Seite XX) Trotzdem kommt ihm für eine gedeihliche Entwicklung dann doch alles darauf an, "daß wir gemeinsam das Ideal ins Auge fassen, und uns nicht beirren lassen durch den Geist desjenigen Skeptizismus, der überhaupt keine Ziele der Menschheit kennt." (Bd. II, Seite 444).

CASPARI befaßt sich daher mit seiner Aufgabe, den Urmenschen über die Tierwelt hinaus den Idealen der Menschheit entgegenzuheben, nicht ohne die Voraussetzung  "ursprünglichen Anlage"  wiederholt zu betonen. Den Fortschritt des Menschen vom Tier empor erklärt er dann weiter dadurch, daß dem Tier die Uranlage zu Handgeschicklichkeit und Sprache absolut ermangelt. "Wir müssen anerkennen, daß die letzte Wurzel zur Ausbildung dieser Entwicklungsfaktoren doch nur in Anlagen geistiger und physischer Art gesucht werden muß. Von dieser inneren Wurzel einer trefflicheren Charakteranlage und eines bildungsfähigeren Naturells ging die ganze ursprüngliche Entwicklung überhaupt aus." (Bd. 1, Seite 140, vgl. Seite 214 - 218, 130, 241, 318)

So stehen wir nunmehr vor dem Menschen, wie er sich aus dem ursprünglichen Zustand unablässiger Verteidigung gegen blutrünstige Raubtiere zu Angriff und Vertilgung instand setzt durch die Anwendung von mit eigener Hand gefertigten, die natürliche Arm- und Handkraft mächtig steigernden Vorrichtungen und  Werkzeugen. 

Hier ist die eigentliche Schwelle unserer Untersuchung, nämlich der Mensch, der mit dem ersten Gerät - seiner Hände Werk - sein historisches Probestück ablegt, dann überhaupt der historische, im Fortschritt seines Selbstbewußtseins befindliche Mensch. Dieser ist der einzige sichere Ausgangspunkt aller denkenden Betrachtung und Orientierung über die Welt. Denn das absolut Gewisseste für den Menschen ist zunächst nur er selbst.

Die Mitte einnehmend zwischen den Zielen der Forschung, den geologischen Anfängen und der teleologischen Zukunft, ist der Mensch der feste Punkt, von dem aus das Denken nach rückwärts und nach vorwärts die Grenzen des Wissens erweitert und zu dem es aus den Verirrungen subjektiver Ausdeutung solcher Gebiete, welche jeder Forschung unzugänglich sind zu erneuter Gesundung zurückkehrt.


III.
Die ersten Werkzeuge

Es ergibt sich nunmehr die Frage, wie die ursprünglichen Werkzeuge und Geräte beschaffen waren und wie sie bei Völkerschaften niederster Kultur zum Teil noch heute beschaffen sind. Ihrer Beantwortung schicken wir eine kurze Verständigung über einige sprachliche Bezeichnungen voraus.

Das Wort "Organon" bezeichnete im Griechischen zunächst ein Körperglied, sodann dessen Nachbild, das Werkzeug, und weiterhin sogar den Stoff, den Baum oder das Holz, woraus es verfertigt wird. Die deutsche Sprache wechselt, jedoch nur in physiologischer Anwendung, beliebig mit den Ausdrücken Organ und Werkzeug, macht also keinen Unterschied z. B. zwischen Atmungsorgan und Atmungswerkzeug, während auf dem mechanischen Gebiet lediglich von Werkzeugen die Rede ist. Die genauere Unterscheidung läßt füglich das Organ der Physiologie und der Werkzeug der Technik. Wie in der inneren Gliederung des Körpers die dessen Ernährung und Erhaltung besorgenden Gebilde Organe heißen, und ebenso die als Schwelle von außen nach innen die Wahrnehmung der Dinge vermittelnden Sinne, so kommt auch der äußeren Gliederung, den Extremitäten, die Benennung  Organe  zu.

Unter den Extremitäten gilt die Hand wegen ihrer dreifachen Bestimmung in einem verstärkten Sinn als Organ. Einmal nämlich ist sie das angeborene Werkzeug, sodann dient sie als Vorbild für mechanische Werkzeuge und drittens ist sie als wesentlich beteiligt bei der Herstellung dieser stofflichen Nachbildungen, wie ARISTOTELES sie nennt, - "das Werkzeug der Werkzeuge".

Die Hand ist also das natürliche Werkzeug, aus dessen Tätigkeit das künstliche, das Handwerkszeug hervorgeht. Sie liefert in allen denkbaren Weisen ihrer Stellung und Bewegung die organischen Urformen, denen der Mensch unbewußt seine ersten notwendigen Geräte nachgeformt hat.

In ihrer Gliederung als Handfläche, Daumen und Gefinger ist die offene, hohle, fingerspreizende, drehende, fassende und geballte Hand für sich allein, oder zugleich mit gestrecktem oder gebogenem ganzen Unterarm, die gemeinsame Mutter des nach ihr benannten Handwerkszeugs. Nur unter der unmittelbaren Beihilfe des ersten Handwerkszeuges wurden die übrigen Werkzeuge und überhaupt alle Geräte möglich.

Von den primitiven Werkzeugen erweitert sich der Begriff aufwärts bis zu den Werkzeugen der besonderen Berufstätigkeiten, den Maschinen der Industrie, der Bewaffnung bei der Kriegsführung, den Instrumenten und Apparaten der Kunst und Wissenschaft, und umfaßt mit dem  einen  Wort  Artefakte  das ganze System der in den Bereich der mechanischen Technik gehörenden Bedürfnisse, wo nur immer der Mensch "die Hand im Spiel hat", mögen sie der täglichen Notdurft dienen oder Gegenstände des Schmuckes und der Bequemlichkeit sein.

Unter Benutzung der in der unmittelbaren Umgebung nächst "zur Hand" befindlichen Gegenstände erscheinen die ersten Werkzeuge als eine Verlängerung, Verstärkung und Verschärfung leiblicher Organe.

Ist demnach der Vorderarm mit einer zur Faust geballten Hand oder mit deren Verstärkung durch einen faßbaren Stein der natürliche Hammer, so ist der Stein mit einem Holzstiel dessen einfachste künstliche Nachbildung. Denn der Stiel oder die Handhabe ist die Verlängerung des Armes, der Stein der Ersatz der Faust. es ist die Gruppe der Hämmer, Äxte und deren nächste Formen aus der Steinzeit, auf welche wir mit Rücksicht auf deren hervorragende Bedeutung die Auswahl einiger Abbildungen von Werkzeugen beschränken.


Diese je nach Material und Gebrauchszweck sehr mannigfach veränderte Grundform des Hammers hat sich unter anderem im Hand- und im Zuschlaghammer der Schmiede und im "Fäustel" der Bergleute unverändert erhalten und ist sogar im kolossalsten Dampfstahlhammer noch erkennbar. - Der Hammer ist wie alles primitive Handwerkszeug eine Organprojektion oder die mechanische Nachformung einer organischen Form, in welcher, mit CASPARI zu reden, der Mensch die durch Handgeschicklichkeit verstärkte Armkraft beliebig darüber hinaus erweitert (Bd. 1, Seite 210). Der hohen Meinung in den Vorträgen "Zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit" mit den Worten Ausdruck: "So groß der Gegensatz einer Dampfmaschine unserer Tage mit dem ältesten Steinhammer immer sein mag: dasjenige Geschöpf, welches zuerst seine Hand mit einem solchen Werkzeug bewaffnete, welches vielleicht einen Fruchtkern zum erstenmal auf diese Weise einer harten Schale abgewann, es mußte, so scheint es, einen Hauch jenes Geistes in sich verspüren, welcher einen Entdecker unserer Zeit unter dem Aufblitzen eines neuen Gedankens beseelt." (Seite 87)

Wie das Stumpfe in der Faust vorgebildet ist, so die Schneide der Werkzeuge in den Nägeln der Finger und den Schneidezähnen. Der Hammer mit einer Schneide geht in die Umgestaltung von Beil und Axt ein; der gesteifte Zeigefinger mit seiner Nagelschärfe wird in technischer Nachbildung zum Bohrer; die einfache Zahnreihe findet sich wieder an Feile und Säge, während die greifende Hand und das Doppelgebiß im Kopf der Beißzange und in den Backen des Schraubstocks zum Ausdruck gelangt. Hammer, Beil, Messer, Meissel, Bohrer, Säge, Zange sind primitive Werkzeuge, gewissermaßen die "Werk-Werzeuge", die urersten Begründer der staatlichen Gesellschaft und ihrer Kultur.


Wie die Herstellung der Werkzeuge sich je nach dem verwendeten Stoff, Holz, Horn, Knochen, Muscheln, Stein, Bronze und Eisen vervollkommnete, darüber gibt die Geschichte der Erfindungen nach der beliebten Stufenfolge einer Holz-, Stein-, Bronze- und Eisenperiode Auskunft. Seiner dem leiblichen Organ entlehnten Form nach ist der Hammer von Stein so gut ein Hammer wie der von Stahl. Uns kann es auf das Einhalten der historischen Folge eben nicht ankommen, weil es sich hier nur um den Nachweis handelt, daß der Mensch in die ursprünglichen Werkzeuge die Formen seiner Organe verlegt und projiziert hat. Es soll die innere, mehr in unbewußtem Finden, als in beabsichtigtem Erfinden hervortretende Verwandtschaft des Werkzeugs mit dem Organ betont und gezeigt werden, daß der Mensch in einem Werkzeug stets nur sich selbst produziert. Da das Organ, dessen Gebrauchsfähigkeit und Kraft potenziert werden soll, maßgebend ist, so kann auch nur von ihm die ihm entsprechende Werkzeugform geliefert werden.

So quillt ein Reichtum von Schöpfungen des Kunsttriebes aus Hand, Arm und Gebiß. Der gekrümmte Finger wird zum Haken, die hohle Hand wird zur Schale; im Schwert, im Speer, im Ruder, in der Schaufel, im Rechen, im Pflug, im Dreizack hat man die mancherlei Richtungen des Arms, der Hand und ihrer Finger, deren Anpassung auf die Jagd-, Fischfang-, Garten- und Feldgeräte sich ohne besondere Schwierigkeit verfolgen läßt. Wie der Griffel ein verlängerter Finger, so ist die Lanze eine Verlängerung des Arms, dessen Kraftwirkung sie steigert, indem sie mit der Distanzverkürzung die Erreichbarkeit des Ziels erhöht, ein Vorteil, der sich durch eine Freigabe des Speers im Wurf nich vervielfacht.

Der in die Handspitze auslaufende Arm hat an den ursprünglich raubtierartig mit Nägeln bewehrten Fingern die natürlichste zum Einschlagen, Aufreißen und Verwunden geeignete Vorrichtung. Dem entsprechend wird der Schärfung und Zuspitzung von Holz- und Hornstücken passend nachgeholfen. Der Meeresstrand liefert zu diesem Zweck die Bestandteile des Skeletts von Seetieren, das Binnenland diejenigen der es bewohnenden Fauna, und vor allem den Horn- oder Feuerstein. Gleichzeitig unterstützte teilweise Benutzung des Feuers das Härten, Verkürzen, Aushöhlen und Glätten der Holz- und Hornteile, sowie das Zerstückeln der Steine.

Das Bruchstück vom Hirschgeweih mit einer Endzacke, die halbe Kinnlade vom Höhlenbär konnten, so wie sie waren, zur Verlängerung der Hand, deren gekrümmte Finger härteren Boden nicht zu lockern vermochten, benutzt werden.


Aus einem solchen Notbehelf mochte die Hacke hervorgehen, welche, in der Winkelrichtung des Eisens die Hand und in einem Holzteil den Arm vorstellend, nach A. SCHLEICHERs für Ähnliches gebrauchtem, auch hier durchaus passendem Ausdruck,  "eine Art Erscheinung des Organs selbst"  ist.

Die bisher aus einem unübersehbaren Vorrat herausgerissenen Beispiele werden genügend dartun, daß die elementare Beschaffenheit des Werkzeugs in allen späteren Metamorphosen des Gegenstandes wieder zu erkennen ist.

Die Produkte der gesteigerten Industrie verleugnen nicht ihren Ausgang und ihre wesentliche Bedeutung. Die Dampfmahlmühle und die Steinhandmühle des Wilden sind eben Vorrichtungen zum Mahlen. Die Seele beider ist und bleibt der Mahl- oder Mühlstein, und die beiden konkav und konvex zusammenpassenden Feldsteine, sie waren die erste Vorrichtung zum Ersatz der die Körner zerreibenden Mahlzähne des Gebisses. In allen Transformationen der Wasser-, Wind- und Dampfmühlen ist der Teil, welcher sie zu dem macht was sie sind, der Mahlstein, der nämliche, wäre er auch wie in der eisernen Handmühle durch Metallscheiben ersetzt.

Mit besonderer Beziehung auf die Entstehung des Werkzeugs hat LAZARUS GEIGER einen Vortrag über "Die Urgeschichte der Menschheit im Lichte der Sprache" mit einer besonderen Beziehung auf die Entstehung des Werkzeugs veröffentlicht und darin unwiderlegbar gezeigt, daß die Wurzel der Benennung des Werkzeugs in einem inneren Zusammenhang mit einer ursprünglich organischen Tätigkeit steht, so daß das Wort und die bezeichnete Sache aus einer gemeinschaftlichen Wurzel stammen.

Die Höhe der wissenschaftlichen Sprachforschung besteht bekanntlich darin, daß von ihr auch da, wo sogar geologische Funde ausgeben, apriorisch angenommene urgeschichtliche und geschichtliche Vorgänge als Tatsachen beglaubigt werden können. Denn die Sprachwurzeln transsubstanziieren sich in den Wortfamilien, sowohl innerhalb einer Sprache, wie von Sprache zu Sprache, und sind nur Wurzeln in Bezug auf Stamm- und Zweigbildungen, in denen sie fortleben. Eine Baumwurzel getrennt vom Stamm hört in dieser außergenetischen Vereinsaung auf, Wurzel zu sein, und ist nichts mehr als jedes andere beliebige Stück Holz. Was wirklich in der Sprache als Wurzel anerkannt ist, gilt und lebt fort in ihr, und wenn daher die sprachlichen Spuren der Bezeichnung eines Werkzeugs sich in fernste Zeiten zurückverfolgen lassen bis zur Tätigkeit eines Organs, welche genau mit Gebrauch und Zweck des technischen Produktes stimmt, so liegt in diesem Fall auch der Beweis vor, daß das technische Produkt von der Tätigkeit eines Organs produziert und projiziert ist, und daß demnach dessen primitive Form dem unbewußt findenden und nachschaffenden Kunsttrieb vom Innern des Organismus heraus vorgesehen und vorgeschrieben war. Wie der Mensch stets von innen nach außen von seiner Anlage aus, lernt, und von außen nach innen nur insofern, als die Dinge das Material für sein Vorstellungsvermögen sind, ebenso fließen seinem Gestaltungsbedürfnis die Musterformen für seine mechanischen Bildungen von innen heraus zu. Auch der leibliche Organismus, das verkörperte Ich-Selbst, ist ein Inneres gegenüber dem Nicht-Ich, dem Gegen-Ich, in welches er sich durch eine mechanische Verstärkung und Ausdehnung seiner Glieder nur insofern erweitert und vervielfältigt, als diese maßgebend für deren Substitute waren.

Nach GEIGER hatte der Mensch Sprache vor dem Werkzeug und vor der Kunsttätigkeit.
    "Betrachten wir," sagt er, "irgendein Wort, das eine mit einem Werkzeug auszuführende Tätigkeit bezeichnet: wir werden immer finden, daß dies nicht seine ursprüngliche Bedeutung ist, daß es vorher eine ähnliche Tätigkeit bedeutet hat, die nur der ursprünglichen Organe des Menschen bedarf. Vergleichen wir z. B. das uralte Wort  mahlen, Mühle,  lat.  mola,  griech.  myle.  Das aus dem Altertum wohlbekannte Verfahren, die Körner der Brotfrucht zwischen Steinen zu zerreiben, ist ohne Zweifel einfach genug, um in der ein oder anderen Form schon für die Urzeit vorausgesetzt zu werden. Dennoch ist das Wort, das wir jetzt für eine Werkzeugtätigkeit brauchen, von einer noch einfacheren Anschauung ausgegangen. Die im indoeuropäischen Sprachstamm sehr verbreitete Wurzel  mal  oder  mar  bedeutet  mit den Zähnen zerreiben,  auch wohl  mit den Zähnen zermalmen.  Diese Erscheinung, daß die Werkzeugtätigkeit von einer einfachen, älteren tierischen benannt wird,  ist eine ganz allgemeine  und ich weiß sie nicht anders zu erklären, als daraus, daß die Benennung älter ist als die Werkzeugtätigkeit, die sie heute bezeichnet, daß das Wort schon vorhanden war, ehe die Menschen sich anderer Organe bedienten als der angeborenen natürlichen. Woher hat die Skulptur den Namen?  Sculpo  ist eine Nebenform von  scalpo  und bedeutet anfangs nur das Kratzen mit den Nägeln."

    "Wir müssen uns hüten, dem Nachdenken bei der Entstehung des Werkzeugs einen zu großen Anteil zuzuschreiben. Die Erfindung der ersten höchst einfachen Werkzeuge geschah gewiß gelegentlich, zufällig wie so manche große Erfindung der Neuzeit. Sie wurden ohne Zweifel  mehr gefunden als erfunden.  Diese Ansicht hat sich mir besonders aus der Beobachtung gebildet, daß die Werkzeuge niemals von einer Bearbeitung benannt sind, sondern immer von der Verrichtung, die sie auszuführen haben. Eine Schere, eine Säge, eine Hacke sind Dinge, die scheren, sägen, hacken. Dieses Sprachgesetz muß umso auffallender erscheinen, als die Geräte, die keine Werkzeuge sind, genetisch, passivisch nach ihrem Stoff oder der Arbeit benannt zu werden pflegen, aus der sie hervorgehen. Der Schlauch z. B. ist überall als eine abgezogene Tierhaut aufgefaßt. Bei den Werkzeugen ist dies nicht der Fall, und sie können daher, soweit es die Sprache angeht, sehr wohl anfangs gar nicht bereitet, das erste Messer kann ein zufällig gefundener, ich möchte sagen, spielend verwendeter, scharfer Stein gewesen sein." (a. a. O., Seite 31 -37)
Als ferneres Beispiel führt GEIGER ebendaselbst auch die Schere an. Danach bedeutet  Schere  ein Doppelmesser, ein zweiarmiges schneidendes Werkzeug. Inder und Griechen haben ein nahe verwandtes Wort, und das schwedische  skära  heißt Sichel. Ehe Schere und Schermesser bei den indogermanischen Nomaden der Urzeit zur Schafschur diente, wurde die Wolle der Schafe gerupft. PLINIUS sagt: "Die Schafe werden ich überall geschoren, an manchen Orten dauert die Gewohnheit des Rupfens fort." (VIII, 2.73) Die Verwandtschaft von  scheren  mit  scharren,  mit dem althochdeutschen Namen des Maulwurfs  scero,  das scharrende Tier, macht es wahrscheinlich, daß nach der Grundbedeutung des Wortes  schaben, kratzen, scharren  die Schere als ein Werkzeug zum Schaben und Kratzen der Haut zum Zweck des Rupfens aufgefaßt wird.
    "Auf solche Weise können wir die Benennungen der Werkzeuge und auch die  Werkzeugtätigkeit selbst in einem langsamen Prozeß aus einer ganz allmählichen Fortentwicklung der menschlichen Bewegungen,  wie sie anfangs schon dem sich allein überlassenen Leib des Menschen möglich waren, entsprungen denken."

    [Der Vortrag, welchen Professor HELWIG Ende 1874 im deutschen archäologischen Institut in Rom über die Schermesser der Alten hielt, bestätigt vollkomen, unter geschehener Vorzeigung mehrerer Modelle, die Ansicht GEIGERs von der Sichelform der Schermesser überhaupt und weist die Sichelform speziell auch für die antiken Rasiermesser nach, deren Gebrauch schon im frühesten Altertum bekannt gewesen ist.]
Sicher ist aus dem sichelförmigen Schermesser die Schere hervorgegangen, aber welcher Abstand zwischen jenem Werkzeug der Vorzeit in der Hand des Nomaden und der Schere PAUL KONEWKAs! [zeitgen. Silhouettenschneider - wp] GEIGER legt großes Gewicht auf einen Unterschied, der geeignet ist, den Ausdruck Entwicklung, auf das Werkzeug angewendet, als eine volle Wahrheit erscheinen zu lassen, nämlich den Unterschied zwischen primären und sekundären Werkzeugen.
    "Das Werkzeug, in seiner Entwicklung beobachtet, gleicht auf wunderbare Weise einem natürlichen Organ,  es hat ganz wie dieses seine Transformationen, seine Differenzierungen. Man würde das Werkzeug gänzlich mißverstehen, wenn man immer in seinem nächsten Zweck die Ursache seiner Entstehung finden wollte. So hat z. B. schon KLEMM darauf aufmerksam gemacht, daß der Bohrer aus dem Reibefeuerzeug der Urzeit entstanden ist."
Soviel ist nach Obigem klar, daß auch nach GEIGERs Auffassung, welchen selbst STEINTHAL mit Bezug auf das Buch über Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft den gelehrtesten Sprachforscher seiner Zeit nannte, das Werkzeug vor dem hohen Tribunal der Sprachforschung das ist, was die Sprache selbst auch, nämlich des Menschen "absolute Selbstproduktion". Die Sprache sagt, welche Dinge sind und was sie sind, vor allem aber offenbart sie als des Menschen höchstes geistiges Selbstbekenntnis, was sie selbst ist. In ihr sind alle Dinge aufgehoben, im Doppelsinn des Wortes, d. h. nicht allein bewahrt und erhalten, sondern auch erhöht und geistig verklärt. Demnach leuchtet ein, weshalb GEIGERs Ansicht hier so hoch zu veranschlagen ist in Bezug auf die ursprüngliche Formübereinstimmung der primitiven Werkzeuge und der unter ihrer Beihilfe weit über den unmittelbaren Kontakt mit der Außenwelt hinausreichenden leiblichen Organe.

Dem Verständnis dessen, was GEIGER die  Entwicklung des Werkzeugs  genannt hat, dürfte, wie wir noch hinzufügen wollen, die Berücksichtigung der gleichzeitig vor sich gehenden  Entwicklung des Organs  zustatten kommen. Die Hand des Urmenschen war ohne Zweifel von der Hand des Kulturmenschen sehr verschieden, insofern ihr erst nach und nach unter dem Einfluß der ihr durch den Gebrauch des Werkzeugs möglichen Schonung und Übung eine größere Weichheit und Beweglichkeit zuteil wurde. Sie wurde von der ununterbrochenen unmittelbaren Berührung mit der rohen und harten Materie erlöst und steigerte mittels des Werkzeugs die zur Anfertigung der vollkommeneren Geräte erforderliche Geschmeidigkeit. So unterstützte das Werkzeug in Wechselwirkung die Entwicklung des natürlichen Organs, dieses wiederum auf jeder höheren Stufe entsprechender Geschicklichkeit die Vervollkommnung und Entwicklung des Werkzeugs.

Der erstbeste Stein oder Ast, unverändert wie er sich vorfand, von der Fußhand des Affen aufgerafft, bleibt Stein und Ast wie alle anderen Steine und Äste. In der Hand aber des Urmenschen ist Stein und Ast die Verheißung des Werkzeuges, die Urzelle eines ganzen Kulturapparates der fernsten Zukunft. Schon die Wahl eines solchen Gegenstandes für einen bestimmten Zweck nähert ihn dem Begriff des Werkzeugs. Das Abstoßen und Abschlagen der ein schmerzloses Anfassen und Festhalten hindernden Schärfen und Buckel an harten Gegenständen ist als die erste freie Veränderung des natürlichen Objektes zu betrachten.

Hiermit war für die Herstellung der ersten Werkzeuge recht eigentlich Tür und Tor geöffnet; denn Stein und Ast sind die Embryonen des Werkzeugs. Je nach der Wahl in Bezug auf Form und Beschaffenheit wird der Ast zum Stab, zur Keule, zur Lanze, zum Ruder, zum Bogen und zur Handhabe überhaupt, der Stein unterstützt die klopfende, schneidende, bohrende, schleifende, glättende Hand und entlehnt dagegen von ihr in seiner weiteren Metamorphose, gestielt mit Holz und gefaßt mit Horn, die ersten festeren Maße und Verhältnisse. Das Werkzeug wird umso  handlicher,  je mehr in ihm die wesentlichen Eigenschaften der schöpferischen Hand, ihre Gestalt und Bewegungsfähigkeit verkörpert sind.

Wie entschieden das Gebiß und die Nägel des Urmenschen, von deren naturwaffenartiger Beschaffenheit man sich keine zu geringe Vorstellung machen darf, in Gestalt von Keil und Meißel in das Gebiet der primitiven Werkzeugformierung hineinragen, ist oben berührt worden. Schneiden, Spitzen und Schärfen haben ihr Urbild an den Zähnen, mit denen der Urmensch ja gerade all das mühsam verrichtete, was er später im Besitz entsprechender Werkzeuge so viel leichter auszuführen imstande war. Bezüglich der Umgestaltung z. B. des primären Hammers zu sehr verschiedenen Zwecken sind hier nur Andeutungen erlaubt. Denn nicht auf eine Geschichte der Werkzeuge haben wir uns einzulassen, sondern die Aufgabe ist, die Bedeutung ihrer Formierung für den Fortschritt im Selbstbewußtsein hervorzuheben.

Was die Steinzeit angeht, so konnten der Umgestaltungen des Hammers im Verhältnis zur geringen Gestaltungsfähigkeit des Materials nur wenige sein. Die eine Stumpfseite des steinernen Kopfes, schneidig zugerichtet, gab passend für  eine  Hand das zugleich mit dem anderen stumpfen Ende als Hammer brauchbare  Beil,  und in Vergrößerung die mit beiden Händen zu führende  Axt. 


Erst die Metallbearbeitung gestattete eine größere Mannigfaltigkeit in der Umformung des Hammerkopfes. Gespitzt, schmalflach oder breitflach, gestreckt, gradaus gezinkt, im Winkel flach oder gezinkt, wurden daraus Spitzhammer, Schaufel, Spitz-, Schmal- und Breithacke, Karst usw. und das Beil streckte sich mit einer Verlängerung seiner Schneide zum Messer, zur Säge und zur Feile. War also der Fausthammer das einfache Abbild von Arm und Faust, so dienten, wie angegeben, die verschiedenen Stellungen von Hand und Arm als Vorbild für entsprechende Umformungen des Hammerkopfes.

beile und äxte

Wir müssen es dem Leser überlassen, für sich selbst aus dem Gebiet seiner von Jugend an gehabten Anschauungen die weiteren Konsequenzen für die Umgestaltung der primären Werkzeuge zu ziehen: wie sich unter anderen aus Holz und Stein Geschosse wurden, Wurfspeer und Schleuder, Ballisten und Katapulten, Pfeil und Bogen, Blasrohr, Armbrust, Flinten und Kanonen, wie der gekrümte Finger der rupfenden Hand zur Sichel, die Sichel zur Sense, die Sense zur Mähmaschine umgestaltete, und wie der Begriff der ursprünglichen in der Grundform ausgesprochenen Tätigkeit sich durch eine ganze Reihe von Verwandlungen hindurch erhält.

Es gibt kaum ein mehr in die Augen fallendes Beispiel einer solchen Umgestaltung, als die der hohlen Hand nachgeformte Schale, die Grundform so vieler Haus- und Küchengeräte, je nach der Veränderung ihrer Dimensionen vom Löffel, Becher, Krug, Eimer bis zur Amphore und zur Vase. Ihr erster Ersatz war wohl die Halbschale einer Frucht, wie denn überhaupt solche den natülichen Organen nächstähnliche Dinge als bequemste Aushilfe gewählt wurden. Danach folgte die freie Bearbeitung des Stoffes, Becher wurden aus Holz geschnitzt, aus Ton geformt, aus Metall gehämmert oder gegossen. Ist doch auf die hohle Hand, die natürliche Schale, und auf den Handteller der ganze Reichtum jenes bekannten "Japanischen Museums" zurückzuführen!
    Bei der entscheidenden Stimme, welche nicht selten in letzter Instanz der Sprachforschung zukommt, heißen wir eine zustimmende Äußerung in GEIGERs angeführter Abhandlung (Seite 41) besonders willkommen: "Der Gebrauch von Werkzeugen, die er selbst bereitet hat, ist entschiedener als alles andere ein augenfälliges, unterscheidendes Merkmal für die Lebensweise des Menschen. Aus diesem Grund ist die Frage nach der Entstehung des Werkzeugs ein Gegenstand von höchster Wichtigkeit für die menschliche Urgeschichte, und ich habe daher die Frage nach der Beschaffenheit der Geräte des Menschen in der Urzeit in diesem einerseits etwas engen, andererseits zugleich weitergreifenden Sinn fassen zu dürfen geglaubt. Ich nehme keinen Anstand zu behaupten, daß es eine Zeit gegeben haben muß, wo der Mensch Geräte und Werkzeuge nicht besaß, sondern sich durchaus mit seinen natürlichen Organen begnügte; daß hierauf eine Zeit folgte, wo er schon imstande war, diesen Organen ähnliche, zufällig aufgefundene Gegenstände zu erkennen, zu nutzen, die Kraft seiner natürlichen Werkzeuge durch sie zu erweitern, zu erhöhen, zu bewaffnen, um z. B. eine hohle Pflanzenschale als Surrogat für die hohle Hand, welche das erste Gefäß gewesen war, zu verwenden. Erst nachdem der Gebrauch dieser zufällig sich darbietenden Geräte geläufig geworden war, trat auf dem Weg der Nachbildung die schöpferische Tätigkeit ins Leben."
Man hat hierbei stets das allmähliche Nachlassen der unmittelbaren Nachhilfe durch die Hand im Auge zu behalten. Das Handwerkszeug ruht voll und ganz in der Hand des Menschen; daher heißt es Handsäge, Handbohrer, Handbeil, Handhammer. Bei der Maschine jedoch gibt die menschliche Hand meistens nur Anfang, Richtung und Stillstand der Bewegung an. Diese Mechanismen bedürfen nicht einer unausgesetzt unmittelbaren Fassung mit der Hand. Sichel und Sense werden von ihr allein geführt, bei der Mähmaschine wird die Handkraft durch tierische Kräfte unter Aufsicht und Leitung des Menschen ersetzt. Niemals aber ist bei irgendeiner Maschine die Menschenhand völlig aus dem Spiel; denn auch da, wo ein Teil des Mechanismus sich gänzlich ablöst, wie der Pfeil, die Gewehrkugel, die dem Schiffbrüchigen die rettende Leine überbringende Rakete, ist die Abweichung nur vorübergehend und scheinbar.

Der zum Schutz und zur Verstärkung ergriffene und in der Hand verbleibende Stein ist in unmittelbarer Vereinigung mit dem natürlichen Organ. Die Hand greift ihn und der Arm führt damit die nötige Hebelbewegung aus. Beim Wurf tritt eine Kombination von vielen Bewegungen ein, die Hand greift und läßt los, der ganze Arm ist mit vollem Schwung, ja der ganze Körper ist an der Beugung und Streckung beteiligt. Anders die Maschine! Aber wenn sie auch in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung sich immer weiter von der in ihrem ersten Entstehen vorhandenen äußeren Übereinstimmung mit dem leiblichen Organ entfernt, so liegt das eben im Begriff der Entwicklung, zugleich aber bringt es eben dieser Begriff mit sich, daß ein Unveränderliches durch alle Veränderungen der Gestaltung hindurchgeht, von jenem Schleuderstein an, dem der alttestamentarische Riese erlag, bis zu der welthistorischen Musketenkugel der Lützener Schlacht.

Daß der Mensch zwecks der Konstruktion von Maschinen unbewußt in sich selbst hat zurückgreifen müssen, um nach dem Vorbild des einheitlichen lebendigen Gliederganzen seines leiblichen Organismus die Teile der toten Maschine in eine übereinstimmende Zwecktätigkeit zu versetzen, wird weiter unten zur Erörterung kommen.

In ethnologischen Museen und auf Weltausstellungen, wo sich die einfachsten Geräte des Wilden und die kompliziertesten Maschinen der modernen Kultur begegnen, ist dem Betrachter der Faden für die Entwicklung des Werkzeugs augenscheinlich an die Hand gegeben. Je nach der Beschaffenheit des überwiegend zu Geräten verwendeten Materials und nach den vorherrschenden allgemeinen Lebensrichtungen sind gewisse kulturgenetische Perioden angenommen worden, wie sie das Bedürfnis einer übersichtlichen Anordnung mit sich zu bringen pflegt. Man unterscheidet eine  Stein-, Bronze-  und  Eisenzeit  und läßt der Beschäftigung der Menschen mit nomadischer Viehzucht eine Periode des Jägerlebens vorausgehen und eine andere des Ackerbaus mit festen Wohnsitzen und mit dem Übergang zu Kunst und Wissenschaft nachfolgen. Von einer regelmäßigen Folge von in sich auch nur annähernd abgegrenzten Zeiträumen ist hierbei gänzlich Abstand zu nehmen. Denn es gibt Nomaden, welche einen Übergang zur seßhaften Lebensweise nie machen werden, und Jägervölker, die, ohne Durchgang durch ein Nomadenleben, Landbauer geworden sind, und in ganz ähnlicher Weise ist den Bewohnern von Ländern, in denen ein Reichtum von Metallen den Mangel des Feuersteins ausgleicht, das Steinzeitalter fremd geblieben.

Es ist vorauszusetzen, daß die bisherige Erörterung unter Anführung so handgreiflicher Tatsachen den Beweis wenigstens angebahnt hat, daß das erste Handwerkszeug nur bei möglichster Formähnlichkeit die Verrichtungen des Organs unterstützen und so als homogene Erweiterung und Verstärkung desselben gelten konnte. Die vollständige Beweisführung muß dem "Eins nach dem Anderen" unserer Erörterung vorbehalten bleiben.

Während bisher meist die Form zur Sprache kam und der Bewegung der Organe nur nebenbei eine Erwähnung geschah, wenden wir uns nunmehr auch zu dieser. Es wird sich hierbei herausstellen, daß die  Bewegungsgesetze der Organe,  deren sich der Naturmensch ebensowenig bewußt ist, wie ihrer Übertragung auf das Nachbild, einen geistigen Anhauch der in Werkzeuggestalt den menschlichen Zwecken dienstbar gewordenen Materie verleihen. So bewahrt das Kunst- und Maschinenwerk die Erinnerung an seine Herkunft, an die Organe des Menschenleibes und an die ersten ihnen nachgebildeten Geräte, und so bleibt auch der Mensch in einem inneren Verhältnis zu den aus ihm und von ihm nach den maßgebenden Organen produzierten Artefakten.

Eine schlagende Beweiskraft für diese innere Gemeinschaft, in welche das Werkzeug und sein Schöpfer durch die Organprojektion treten, enthält einer der ersten Sätze, womit ADOLPH BASTIAN sein Werk über die "Rechtsverhältnisse bei verschiedenen Völkern der Erde" eröffnet: "Der Mensch, dem hilflos wie kein anderes Tier geboren, nicht von Natur die Mittel zur Fristung seiner Existenz mit auf die Welt gegeben sind, ist von vornherein auf die Kunst angewiesen, auf die erfindende Tätigkeit seines Geistes, um den Kampf zur Jagd und zum Fischfang und  er wird dieses von ihm selbst geschaffene Produkt als zu seinem Selbst gehörig ansehen, also sein Eigen nennen."  Wenn nun BASTIAN noch hinzufügt: "Aus dem Besitz der Waffen als solcher leitet sich deshalb ein unwillürliches Recht ab auf die Jagd, den Fischfang, sowie die Tiere, die denselben ermöglichen," so erscheint die Waffe, ihr Besitz, und der sich erst dadurch dokumentierende Besitz, daß sie in Kongruenz mit der Hand des Menschen in Bewegung gesetzt wird, gewissermaßen als ein Rechtstitel auf die ganze belebte Schöpfung. Das Verwachsensein des Werkzeugs mit dem menschlichen Selbst geistvoller aufzufassen, ist kaum denkbar. Wir können dem weittragenden Gedanken hier nur insofern nachgehen, als die Organprojektion sich den Vorteil eines so gewichtigen Zeugnisses nicht entgehen lassen will.

Was von den Waffen gilt, gilt selbstredend von allen Werkzeugen.

Unmittelbar durch die Hand wird ohne Ausnahme das gesamte Handwerkszeug in Bewegung gesetzt. Ihre Beteiligung gibt die Unterscheidung von Handbohrer und Maschinenbohrer. Die Bewegung des Handwerkszeugs ist die Fortsetzung der Hand- und Armbewegung durch die Überleitung derselben auf die technische Verlängerung, die in Form eines Gliedansatzes an das Organ stattfindet. Dieselbe nimmt an den Bewegungen des natürlichen Werkzeuges Teil und folgt ihnen umso ungestörter und leichter, je handlicher die Anpassung bewerkstelligt worden ist.

Die organischen Regeln, denen der leibliche Bewegungsapparat folgt, heißen in ihrer Anwendung auf Werkzeug und Maschine "mechanische Gesetze". Der Ausdruck ist mit Vorsicht aufzunehmen; denn der von innen heraus sich gliedernde und wachsende Organismus ist das Werk seiner eigenen Machtvollkommenheit; der Mechanismus, durch Zusammensetzung von außen zustande gebracht, ist eine "Mache" der Menschenhand. Der Organismus ist wie die gesamte Welt  natura,  ein Werdendes, der Mechanismus ist das gemachte Fertige; dort ist Entwicklung und Leben, hier Komposition und Lebloses. Hiermit können nur diejenigen nicht einverstanden sein, welche zwischen dem Korkenzieher, den sie in der Tasche tragen, und dem Handgelenkt als eine integrierenden Glied organischer Selbstbetätigung einen Unterschied nicht finden wollen.

Hat die Hand zwecks Ausführung einer hebenden, schneidenden, klopfenden, drehenden Bewegung, "sich befaßt" mit einem Gegenstand, so wird dieser, je nach Gestalt und Widerstandsfähigkeit und je nach der Beschaffenheit der Arm- und Handbewegung mittun, was die Hand tut, in deren Fassung und Gewalt er sich befindet. Sagt man, daß "sich" die Hand mit einem Gegenstand "befaßt", so heißt das bei weitem mehr als das einfache, sie "ergreift" oder "faßt" ihn. Das rückbezügliche "sich" deutet auf die Übereinstimmung zwischen dem Organ und einem zum Werkzeug ausersehenen Gegenstand. Auch der Pavian greift gelegentlich Steine und wirft damit um sich, aber dieses Greifen und Werfen ist ein sich in ganz gleicher Weise wiederholendes Greifen und Werfen, Fort- und Wegwerfen schlechthin immer wieder der Rückfall auf den früheren Punkt. Wenn "sich" aber der Mensch mit dem Stein befaßt und in einem wiederholten Fassen und Prüfen ihn zu einem handlichen Gebrauch zurichtet, so versieht und bewehrt er sich mit ihm. Das Aufheben vom Boden wird alsbald ein Aufheben und Verwahren zu passender Verwendung. Einen solchen Stein trägt der Mensch deshalb fortan mit sich und führt ihn als Waffe und Werkzeug. Der Steinwurf des Pavian ist heute wie vor vielen Jahrtausenden derselbe Vorgang, der Steinwurf aus der Hand des Urmenschen war eine Verheißung des Werkzeugs und der Maschinenwelt.

Hat sich demnach die hebende Hand mit einer Stange befaßt, so hebt diese mit und wird zum Hebel, der scharfe und spitze Stein in der Hand schneidet und dreht sich mit und wird zu Messer, Säge und Bohrer; denn die schneidende oder bohrende Drehbewegung des Handgelenks setzt sich schneidig oder spiralig im gefaßten Gegenstand fort und formt ihn zu Messer, Bohrer und Schraube. Die Sprache bezeichnet die Hebelenden nach ihrem Ursprung als Hebel arme.  Wie das Zermalmen mit den Zähnen vor jeder Mühle war, so das Sichheben des Armes vor allen Hebeln. In organischer Bewegung hat die Verrichtung mit Werkzeugen ihren Ursprung, und die ursprüngliche Bezeichnung einer organischen Bewegung ist die Wurzel der Namen von entsprechenden Mechanismen.

Die Wesensbeziehung der natürlichen Organe zu den mechanischen Nachformungen drückt sich charakteristisch in den Benennungen der sogenannten Grundgesetze der Mechanik aus. Der Inhalt der Mechanik ist bekanntlich die Lehre vom Gleichgewicht und von der Bewegung der Körper. Eine direkte Übertragung ihrer kinematischen Seite, als der Lehre von den Bewegungsmechanismen, auf die Bewegung des organischen Körpers ist natürlich unstatthaft, wohl aber ist sie als ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Erklärung organischer Bewegungen zu verwenden. Die physiologischen Tatsachen lassen stets einen Überschuß, welcher unter Zuziehung rein mechanischer Gesetze niemals aufgeht. Diese Differenz ist es, welche im Allgemeinen zwischen organischer und mechanistischer Weltanschauung und im Besonderen zwischen der Hand als Werkzeug und dem Handwerkszeug obwaltet.

Nach dem Gesagten darf es nun nicht befremden, daß es gerade jene primitiven Werkzeuge sind, in welchen sich organische Bewegungen so konform verkörpert haben, daß sogar die Tätigkeitsbezeichnung,  nomen agentis,  mit auf das projizierte Objekt übergegangen und zum physikalischen Terminus in einem eminent wissenschaftlichen Sinn geworden ist. Die Kraft des Arms sich zu heben, maßgebend wie sie für den Begriff verschiedener Werkzeuge ist, verleiht die Benennung  Hebel  dem bekannten Arbeitsgerät, in gleicher Weise wie die bohrende und schraubende Handbewegung im Gewinde von Bohrer und Schraube wiederkehrt, und wie der "hängende" Arm im Wechselschwung das Vorbild des  Pendels  gewesen ist. Von der "Pendelbewegung der Arme" sprechend, betont G. HERMANN MEYER (Die Statik und Mechanik des menschlichen Knochengerüstes, Leipzig 1873, Seite 320) in signifikanter Weise die sprachliche Ableitung: "Indem jeder Arm nach rückwärts  pendelt,  wenn das Bein seiner Seite vorwärts gesetzt wird, - und vorwärts  pendelt,  wenn das Bein seiner Seite nach rückwärts gestellt bleibt, - wird durch diese Pendelbewegungen eine Äquilibrierung zwischen hinten und vorn gegeben, welche eine aufrechte Haltung des Körpers ohne zu bedeutende Schwankungen nach vorwärts und nach rückwärts leicht ermöglichen." Ganz ebenso bespricht L. HERMANN (Grundriß der Physiologie des Menschen, Berlin 1870, Seite 277) die Pendelschwingung der Beine, in einfacher Anerkennung der Priorität des Organischen vor allem Mechanismus. Durch eine verdeutlichende Anwendung der Gesetze der Mechanik werden Organismen sicher ebensowenig zu Maschinen, wie diese durch Übertragung organischer Bewegungsvorgänge zu Organismen werden. Denn die Beugung der Gelenke weist auf Muskelkontraktionen, diese auf den Blutumlauf, auf Nervenströmung, Sinnesempfindung, unbewußte und bewußte Vorstellung, unbewußten und bewußten Willen hin und sublimiert in einem Ich, unter dessen zentraler Machtvollkommenheit die wunderbare Harmonie im Spiel der organischen Gesamttätigkeit zustande kommt.

Das Ursprüngliche, welches wir als Vorbild für das Handwerkszeug erkannt haben, ist Gegenstand der physiologischen Untersuchung, und mögen vom ersten Auftreten des Urmenschen an große Zeiträume vergangen gewesen sein, bevor das erste Werkzeug aus dessen Hand hervorging; fernere große Zeiträume mußten über fortschreitender Vervollkommnung der Werkzeuge verlaufen, ehe die Kenntnis des Menschenleibes so weit fortgeschritten war, um als Physiologie unter erklärenden Rückschlüssen von der Beschaffenheit, dem Zweck und dem Gebrauchserfolg des Werkzeuges auf jene Übereinstimmung mit des Menschen eigenem Gliederbestand aufmerksam zu werden.

Aus der Mechanik wanderten demzufolge zum Zweck physiologischer Bestimmungen eine Anzahl von Werkzeugnamen nebst ihnen verwandter Bezeichnungen an ihren Ursprung zurück. Daher spielen in der Mechanik der Skelettbewegungen Ausdrücke wie  Hebel, Scharnier, Schraube, Spirale, Achsen, Bänder, Schraubenspindel, Schraubenmutter  bei der Beschreibung der Gelenke eine angesehene Rolle.
    [Wir können uns, teils um dem etwaigen Vorwurf willkürlich angestellter Vergleiche zu begegnen, teils um dem Leser einen schlagenden Beleg zu geben von der Einbürgerung der Sprache der Mechanik auf organischem Gebiet, die wörtliche Anführung physiologischer Beweisstellen nicht versagen. Nach WILHELM WUNDTs "Lehrbuch der Physiologie", Seite 678f, sind die Hauptformen der Skelettbewegung: "a)  Drehung um eine feste Achse,  entweder als Drehung um eine annähernd  horizontale  im Gelenk gelegene Achse, oder als Drehung um eine annähernd  vertikale,  mit der Achse gegeneinander bewegter Knochen nahehin  parallele  oder zusammenfallende  Achse.  Erstere Gelenke sind die Gewerbe- oder  Scharnier gelenke, letztere die Drehgelenke. Eine wichtige Form des  Gewerbe gelenks ist das  Schraubenscharnier.  Ein solches ist das Ellenbogengelenk. b)  Drehung um zwei feste Achsen.  Hierher gehören alle diejenigen Gelenke, bei denen die Oberflächen der Gelenkenden in zwei aufeinander senkrechten Richtungen eine erheblich verschiedene Krümmung haben. Dabei hat entweder die Oberfläche in diesem beiden Richtungen eine gleichsinnige Krümmung, und nur der Grad derselben (der Krümmungshalbmesser) ist verschieden, oder die Oberfläche ist nach beiden Richtungen in verschiedenem Sinne gekrümmt, also in der einen Richtung  konvex  und in der anderen  konkav.  Die Gelenke der zweiten Art hatte man als  Sattel gelenke bezeichnet. c)  Drehung um eine in einer bestimmten Richtung bewegliche Achse - Spiral gelenke. Der Prototyp derselben am menschlichen Skelett ist das Kniegelenk. d)  Drehung um einen festen Punkt.  Diese Gelenke gestatten die freieste Beweglichkeit. Es gehören dazu ausschließlich die  Kugel gelenke, das Hüftgelenk und das Schultergelenk." K. VIERODT führt (a. a. O. Seite 107) als eine Abart der Gewerbegelenke das  Schraubengelenk  auf. "Am deutlichsten ist die Schraubenform im Tibio-Astragalusgelenk. Die Astragalusrolle stellt einen Abschnitt einer  Schraubenspindel,  die Tibiafläche einer  Schraubenmutter  dar. Das rechte Gelenk entspricht einer linksgewundenen Schraube und umgekehrt. Die Schraubenform ist freilich in der Regel nur schwach angedeutet, d. h. die Höhe des  Schraubengangs,  von dem das Gelenk einen Abschnitt bildet, ist sehr gering. Auch das Ellenbogengelenk gehört zu den Schraubengewerkgelenken." Zur Ergänzung ist hier mit Vorteil zu vergleichen, was L. HERMANN in der Schilderung der  Mechanik des Skeletts  über "Gelenke,  Haft-  und  Hemmungsmechanismen,  Gleichgewichtsbedingungen und aktive Lokomotion des Gesamtkörpers" gesagt hat. (a. a. O. Seite 267)]
Im Licht der angeführten Autoritäten erhellt die konstitutive Bedeutung aller Gelenkbewegungen, namentlich der von der Schulter bis zu den Fingerenden verteilten, für die Werkzeugentstehung und für die einheitliche, Vor- und Nachbild mit demselben Wort treffende Namengebung. Der physiologischen Erklärung der Gelenkbewegungen gehen manch andere Kongruenzen zu Seite, wie unter anderen das Gesetz des  Parallelogramms der Kräfte  in seinem Zusammenhang mit den Muskelverschiebungen, dessen Formulierung für die Mechanik nicht hätte stattfinden können, wenn es nicht vorher organisch verwirklicht war. Die Formgebung des Werkzeugs ist vor der Formulierung des Gesetzes, welches als unbewußte Mitgift der Form erst später erfahren und erkannt wird. Denn es liegt im Wesen der Projektion, daß sie ein Prozeß fortschreitender, meist unbewußter Selbstentäußerung des Subjekts ist, deren einzelne Akte einem jedesmal gleichzeitigen Zu-Bewußtsein-Kommen nicht unterliegen.

Welche Verwandlungen und Versuchsproben hat der urorganische Repräsentant der trennenden Werkzeuge, der Schneidezahn, von dem ihm formähnlichen Steinsplitter bis zum Bildhauermeissel und bis zur Schraubenspindel durchzumachen gehabt, ehe diese Benutzung der  schiefen  Ebene das Verständnis des Gesetzes von der Zerlegung der Kräfte erweiterte!

Daß die organische Projektion dem Werkzeug als solchem die Form verleiht, darf als erwiesen angesehen werden, daß sie aber auch der eingesetzten Kraftwirkung die Formel mit auf den Weg gibt, wird uns später mehrfach beschäftigen, um so immer aufs neue die Wahrheit des Satzes vorzuführen, daß der Mensch das Maß der Dinge ist.

Die Explikation dieses Ausspruchs ist der Inhalt aller Erkenntnis.  "Maß"  in dieser weitesten Umfassung materieller und idealer Bedeutung heißt so viel wie  typischer Grund der Orientierung über die Welt. 
LITERATUR: Ernst Kapp - Grundlinien einer Philosophie der Technik, Braunschweig 1877