ra-3F. MauthnerStirnerS. I. HayakawaW. HerdingF. FerrerTolstoi    
 
PAUL BARTH
Die Geschichte der Erziehung
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I - II - III - IV - V - VI

"Zur Erziehung der priesterlichen Kaste ist auch zu rechnen, daß die Bajaderen der Tempel lesen, singen und tanzen lernen, während die Frauen der anderen Kasten sich dieser Künste schämen und nur der häuslichen Verrichtungen kundig sind."

II.
[ Fortsetzung ]

Von den semitischen Völkern erleben die Israeliten diese soziale Fortbildung zur Zeit ihrer Gesetzgebungen, über die wir freilich nur, soweit sie das judäische Königreich betreffen, Näheres wissen. Das Deuteronomium, das um 621 v. Chr. entstand, schafft einen Priesterstand. JEHOVA, vorher der Gott des Gewitters, eine Naturmacht von nicht rein sittlicher Bedeutung, wird nun der Hüter der sittlichen Geboten, der Belohner der Guten, der Verfolger der Schlechten. Neben dem Priesterstand, der sich nach Analogie eines Geschlechtes organisiert und sich zum Ahnherrn LEVI, einem Sohn JAKOBs gibt, muß noch ein Stand der "Obersten" angenommen werden, den der babylonische Eroberer ebenso wie die Priester hinwegführt, um das Volk der führenden Männer zu berauben. (1) Nach der Rückkehr werden die Priester, an deren Spitze der Hohepriester steht und die Ältesten (wohl dieselben, wie die hinweggeführten "Obersten") die regierende Gewalt der Juden und bleiben es in allen inneren Angelegenheiten auch unter der römischen Herrschaft. (2) Ähnliches finden wir bei den Südsemiten Asiens, den Arabern. Vor MOHAMMED leben sie, nach Sippen geordnet, ohne Priesterstand (3), nach seiner Gesetzgebung erheben sich über den bestehenbleibenden Sippen ein Stand der Priester der Ulemas (4) und ein Stand der Krieger (5).

Die reine Gentilverfassung des einzigen hamitischen Volkes, das geschichtliche Bedeutung hat, der Ägypter, ist in das Dunkel der Vorgeschichte gehüllt. Wo sie uns in geschichtlicher Zeit entgegengetreten, sind sie schon in Stände geteilt: Priester, Vornehme, Volk. Den triumphierenden König SETHOSIS I. empfangen laut Text einer Darstellung "die Priester und die Großen, die Vorsteher des Doppellandes Ägypten." (6)

Endlich finden wir bei den mongolischen Kulturvölkern ebenfalls eine ständelose Zeit der bloßen natürlichen Organisation der Gesellschaft, nach ihrer Gesetzgebung aber Rangunterschiede. Bei den Chinesen beharren wie überall im Orient die Sippen, doch tritt innerhalb derselben ein allerdings nicht erblicher, sondern immer neu zu erwerbender Kriegs- und ein Friedensadel hervor, der sogar eine besondere Sprache, die Mandarinensprache (z. B. ohne  r)  sprechen muß. (7)

Der alte Kommunismus löst sich auf, die Götter erlangen eine ethische Bedeutung, wenngleich sich kein besonderes Priestertum herausbildet. Derselbe Prozeß vollzieht sich in der Geschichte der Japaner. (8)

Dieser Übergang von der gentilen zur ständischen Gesellschaft ist der wahre Anfang der  Kultur.  Man hat andere Fortschritte für wichtiger erachtet. Die deutsche Geschichtsschreibung machte früher mit der Erfindung der Schrift den tiefsten Einschnitt in die Gliederung der Geschicke der Menschheit, mit ihr ließ man die eigentliche Geschichte beginnen, die eben nur durch schriftliche Überlieferung möglich sei, während man die voraufgehende Zeit der mündlichen Überlieferung als bloße "Vorgeschichte" betrachtete. MORGAN hat den Gebrauch der Schrift ebenfalls als Merkmal der beginnenden Zivilisation bezeichnet, doch scheint er die gleichzeitige Entstehung des Staates, der die Menschen nach anderen Prinzipien als nach der Blutsverwandtschaft gruppiere, für noch wichtiger zu halten.

In der Tat ist ja die Gesellschaft eine Gesamtheit von Willenseinheiten. Ihr Zusammenhang ist zunächst ein mehr unbewußter, auf Instinkten beruhender. Das bewußte logische Denken wendet sich zuerst nur auf äußere Objekte, auf die Beherrschung der Natur durch technische Erfindungen, erst spät auf die Art und Weise des Zusammenhangs der Gesellschaft selbst. Dieser wird Gegenstand des bewußten Denkens in der  Gesetzgebung.  Der Gesetzgeber ist der erste, wenn auch nicht theoretische, doch praktische Soziologe. Damit ist eine ganz neue Bahn eröffnet. Denn das Wesentliche der Gesellschaft, eben der soziale Zusammenhang, ist nicht mehr dem natürlichen, naiven Denken überlassen, sondern dem bewußten, logischen, wissenschaftlichen  Nachdenken, das so viel reicher und schöpferischer als das natürliche ist, wie die Wissenschaft an Fruchtbarkeit für das Leben das zufällige "Finden" übertrifft. Jedes Gebiet des sozialen Lebens wird fortan die "Hebung" verspüren, die der Geist bewirkt. Es wird in demselben Maß gedeihen und fortschreiten, als es ihn walten läßt und in demselben Maße sinken und verfallen, als es sich seinem Walten entzieht.

Mit der Umwandlung der gentilen Gesellschaft in eine ständische muß die Erziehung ebenfalls eine Umwandlung erleiden. Wie alle sozialen Beziehungen und Verrichtungen wird auch sie von nun an mit größerer Bewußtheit ihres Zweckes und ihrer Mittel betrieben werden. Was ihre Form, ihre äußere Organisation betrifft, so kann man jetzt, da es eine Arbeitsteilung gibt, besondere gesellschaftliche Organe der Erziehung zu finden erwarten, in Bezug auf ihren Inhalt aber ist es möglich, daß nicht alle Stände die gleichen Ziele zu erreichen streben, sondern in Zucht, Unterweisung, Unterricht und Belehrung jeder sich eine andere Aufgabe stellt.

Wenn wir mit den von den Naturformen der Gesellschaft am wenigsten entfernten Rassen beginnen, so müssen wir zunächst die Mexikaner und die Peruaner ins Auge fassen.

Was die Mexikaner betrifft, so wird ihre Erziehung von LETOURNEAU (9) - ohne Angabe der soziologischen Ursachen, deren er sich nicht bewußt ist - folgendermaßen richtig gekennzeichnet: "die physische und moralische Aufzucht der Kinder war nicht mehr dem Zufall der Spiele, der spontanen Nachahmung und der sozialen Umgebung überlassen." Daß damit eben in der Erziehung der Geist, das bewußte Wollen an Stelle des unbewußten Geschehens tritt, sieht LETOURNEAU nicht.

Die Kinder des herrschenden Volkes, der drei Stämme, wurden von den Priestern erzogen. Unterweisung empfingen sie zunächst in der Familie, mit zehn Jahren wurden sie auch der Zucht unterworfen und für Ungehorsam bestraft. (10) Die Knaben mußten vom dreizehnten Jahr an Holz holen und fischen, die Mädchen mahlen, kochen, weben. Nach vollendetem fünfzehnten Lebensjahr wurden alle Knaben und Mädchen den Priestern übergeben. Die Kinder der Häuptlinge wurden dabei von denen des Volkes getrennt, die auch früher in die Priesterschule eintraten. Die Lehrfächer dieser Priesterschulen scheinen für die Kinder des Volkes nur religiöse gewesen zu sein, religiöse Tänze, Gesänge und Heldenlieder. (11) Außerdem wurden alle Zöglinge zu produktiver Arbeit, zum Ziegelmachen, Bauen, zur Ausschachtung von Gräben und Kanälen angehalten. Die Kinder des Adels hingegen lernten die Bilderschrift, die bei den Mexikanern im Gebrauch war, die Astronomie, religiöse, heroische und geschichtliche Hymnen und die Gesetze ihres Landes. Wie bei HOMER, müssen sie auch die Kunst der Rede pflegen, die für den regierenden Teil des Volkes sehr wichtig ist. Neben diesem wissenschaftlichen Unterricht der religiösen Belehrung, der Unterweisung im Reden erwerben sie gleichzeitig alle kriegerischen Fertigkeiten. Fasten und erhöhte Anstrengung waren die Mittel der sehr strengen Zucht, der sie unterworfen waren. Nach dem zwanzigsten Jahr etwa widmete sich ein Teil dieser Jugend den weltlichen Geschäften, dem Krieg und dem Ackerbau, ein Teil dem Priesterstand. Dieser Teil blieb unverheiratet und lebte in besonderen, die Tempel umgebenden Gebäuden.

Was die Mädchen betrifft, so erhielten die Töchter des Volkes ihre Erziehung nur in der Familie. Die Töchter des Adels aber wurden von den Priesterinnen, die neben den Priestern, wie diese, unverheiratet, in der Nähe der Tempel lebten, erzogen und lernten dort Übung der weiblichen Tugenden, besonders der Keuschheit, Ehrerbietung gegen Ältere und Geschicklichkeit in den besonderen weiblichen Handwerkern und Kunstgewerben. Wenn diese Erziehung beendet war, so verheirateten sie sich oder wurden Priesterinnen. Die Zucht war auch hier, wie bei den Knaben, streng. In Gegenwart Älterer wagten die Kinder kaum zu sprechen.

Während in Mexiko ein ganzes Volk, das der drei Stämme, sich zum Herren tributpflichtiger Stämme gemacht hatte, ist es in Peru nur ein Geschlecht, das über eine ganze Anzahl der Quichua-Stämme die Herrschaft ausübte. Dieses Geschlecht der Inkas oder Sonnensöhne war aber reich genug an Mitgliedern, um den Untertanen gegenüber die Rolle eines regierenden Standes zu spielen. Die Erziehung bleibt darum bei den Unterworfenen im Naturzustand, d. h. der Familie überlasse, nur für die Inkasöhne ist sie öffentlich organisiert. (12) Die Inkas waren allein Priester, ein Teil von ihnen auch Lehrer, "Amautas", ein Amt, das, wie es scheint, vom priesterlichen getrennt war. (13) Sie lehrten den jungen Inka die Taten der Vorfahren, die Quipu-Schrift, die Dichtungen, die die Lehrer selbst verfaßt hatten, den Kriegsdienst und die priesterlichen Zeremonien, da ja einige der Inkas Priester werden mußten. Mit einer sehr langen und strengen Initiation, die trotz aller Härte festlichen Charakter hatte, schloß im 16. Lebensjahr die Erziehung ab. (14)
    Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kultur Mexikos und Perus hat die des Jesuitenstaates von Paraguay. Hier hat sich im hellen Licht der geschichtlichen ZHeit der Vorgang wiederholt, der in Mexico und Peru zur Bildung eines regierenden Standes geführt hatte. Was den Eingeborenen gegenüber in Mexiko der Stamm der Azteken, in Peru das Geschlecht der Inkas, das waren in Paraguay den eingeborenen Guaranie-Stämmen gegenüber die eingewanderten Jesuiten. Diese fanden das Volk in derselben Verfassung, die die Azteken in Mexiko, die Inkas in Peru antragen. Die feste soziale Einheit war die Gens, an deren Spitze der Häuptling, von den Spaniern "Kazik" genannt, stand. (15) Mehrere Gentes bildeten einen Stamm. Das ganze Volk wurden nun von den Jesuiten, als einem regierenden Priesterstand, beherrscht. Die Kaziken, die Geschlechtshäuptlinge, waren ihre "Corregidores", Unterbeamten) (16) Der Grund und Boden, desgleichen die Herden waren Gemeineigentum der Gens, Gebrauchseigentum an beweglichen Gütern und Arbeit wurde einem jeden zugewiesen. (17) Wer seine zugeteilte Arbeit nicht verrichtete, erlitt Prügelstrafe. So wurde das ganze Volk als unerzogen betrachtet, einer im eigentlichsten SInn patriarchalischen Behandlung unterworfen. Erst recht war die Erziehung der Jugend vom regierenden Stand organisiert. Da aber dieser der Kultur des alten Europa entsprungen war. Alle wurden im Katechismus unterrichtet, der in die Sprache der Guarani übersetzt worden war und im geistlichen Gesang, die Begabteren lernten lesen und schreiben, beides nach dem lateinischen Alphabet. Die tüchtigsten der Kinder wurden später neben den Geschlechtshäuptern zu Korregidoren gemacht. (18) Aber diese ganze Kultur war eben von außen den Indianern herangebracht worden und, da die Jesuiten den ersten Grundsatz jeder Erziehung, die Selbsttätigkeit zu wecken, nicht befolgt hattten, so schwand alle diese äußerlich angeklebte Bildung, als sie, infolge der Auflösung des Ordens, genötigt wurden, ihre Hand von ihren Zöglingen zurückzuziehen. (19) Nur der europäische kunstmäßige Gesang geistlicher Hymnen, den die Eingeborenen Paraguays noch heute verstehen, (20) wie er das erste war, das sie lernten, ist ein letzter Nachklang ihres Bemühens in des Wortes eigentlichster Bedeutung.
Bei den Indern entsprang, wie wir oben sahen, die ständische Gliederung des Volkes einem zweifachen Grund, sowohl der sozialen Arbeitsteilung, wie der Entstehung eines Priesterstandes. Die Erziehung wird hier eine verschiedene je nach dem Stand, dem das Kind zugehört. Eine öffentliche Organisation der Erziehung gibt es nicht, in ihrer Form also ändert sich nichts gegenüber der Vergangenheit. (21) Wohl aber ändert sich ihr Inhalt. Während in der Periode der Veden wohl für alle Kinder des Volks Unterweisung in den Fertigkeiten des Krieges und des Friedens die Hauptsache ist, werden die kriegerischen Fertigkeiten jetzt spezifisches Vorrecht der Kinder des Kriegerstandes. Die Söhne der Brahmanen lernen den Inhalt der religiösen Bücher, besonders der Puranas und was sonst an Kenntnisse, besonders astronomischen und medizinischen, vorhanden ist, teils von ihrem Vater, teils vom "Guru", einem ganz besonders gelehrten Brahmanen, meist einem im Wald lebenden Einsiedler. Er schließt seinen Unterricht und seine Belehrung mit der Mitteilung der "heiligen Worte", die man nicht oft zu wiederholen, jedenfalls aber keinem Mitglied einer anderen Kaste verraten darf. (22) Zur Erziehung der priesterlichen Kaste ist auch zu rechnen, daß die Bajaderen der Tempel lesen, singen und tanzen lernen, während die Frauen der anderen Kasten sich dieser Künste schämen und nur der häuslichen Verrichtungen kundig sind. (23) Die Brahmanen üben ihre Lehrtätigkeit teils umsonst, unterhalten sogar, wenn die Geschenk der Fürsten reichlich fließen, noch ihre Schüler, teils nehmen sie Lohn von ihren Schülern. Die Kasten der Ackerbauern und der Unterworfenen (der Sudra) haben keine Erziehung, die sich über diejenige der Naturformen der Gesellschaft erheben würde.

Bei den Juden ist, wie wir oben gesehen haben, seit der Gesetzgebung des ESRA der Priesterstand der herrschende. Ein Unterricht der Erwachsenen im "Gesetz" fand bald nach ESRA mehrmals in der Woche statt. (24) Gleichzeitig bestanden auch Schulen für Knaben, in denen wohl das Lesen der Thora geübt wurde. Und zwar gilt dies sowohl von Jerusalem als auch von der jüdischen Diaspora in den hellenischen Städten, von dieser wohl noch mehr, da bei den in der Zerstreuung lebenden Juden die Religion das feste einigende Band bildete. Diese Knabenschule (Beth Hassepher) war allgemein; sie JOSUA BEN GAMLA, der 62 - 65 n. Chr. Hoherpriester war, war ihr Besuch für alle Kinder Zwangspflicht. (25) Die besondere ständische Bildung des Priesterstandes, der Rabbiner, wurde in einem höheren Kursus (Beth Hammidrasch), der erst das Schreiben einschloß, überliefert. (26) So finden wir hier durch den herrschenden Stand Form und Inhalt der Erziehung bestimmt. Sie ist allgemein für alle Kinder des Volkes und sie ist ausschließlich religiös.

Dies wiederholt sich genauso bei den Arabern, seitdem sie einen herrschenden Priesterstand haben. Überall in der islamischen Welt ist seitdem die niedere Schule, der Kuttab, eingerichtet, in der ein Fiki, ein Laienmönch, unterrichtet, durch die Gaben der Schüler oder aus den Einkünften einer Moschee unterhalten, oft selbst des Lesens und Schreibens unkundig, bloß mündlich, nach dem Gedächtnis den Koran lehrend, oft auch Lesen und Schreiben und einiges Rechnen damit verbindend. (27) Die Zucht ist streng, durch körperliche Strafen aufrecht erhalten. (28) In größeren Städten gibt es, den höheren theologischen Schulen der Juden enstprechend, theologische Hochschulen, die "medresseh", deren Ort immer eine Moschee ist. Da der Koran nicht bloß für das religiöse, sondern auch für das weltliche Recht die einzige Quelle ist, so sind diese "arabischen Universitäten" zugleich Rechtsschulen. Der Stand der Geistlichen bildet zugleich den Stand der Richter. Und da er von griechischer Astronomie und Medizin einiges aufnahm, so wurden auch diese Fragmente der griechischen Wissenschaft in einigen der Hochschulen gelehrt. Die Zucht bleibt auch auf dieser Stufe streng. Die von der Sitte gebotenen äußeren Zeichen der Ehrerbietung gegen den Lehre sind sehr lebhaft und häufig.

Der Kultur der Semiten sehr ähnlich ist diejenige der Hamiten. Zu der Zeit, wo die alten Ägypter in die Geschichte eintreten, sind sie, wie wir oben gesehen haben, über die natürliche Verfassung der Gesellschaft schon hinaus, haben sie schon eine Priesterkaste, neben anderen ständischen Gliederungen. Auch bei ihnen finden wir durch den Priesterstand eine allgemeine, öffentliche Erziehung organisiert, die freilich nicht der Religion, sondern dem praktischen Leben insofern diente, als sie die wegen der jährlichen Überschwemmungen sehr nötige Vermessungskunde zum Gegenstand hatte. (29) Neben dieser allgemeinen Erziehung gibt es innerhalb der verschiedenen Stände eine Vorbereitung auf den väterlichen, auf das Kind zu vererbenden Stand, die aber wohl der Familie anheimfällt. Was von wissenschaftlicher Erkenntnis in Astronomie, Medizin und anderen Wissenschaften erreicht war, desgleichen die Kunst des Lesens und Schreibens, blieb wohl Monopol der Priesterkaste (30), bis in den letzten Zeiten der politischen Selbständigkeit die "Vornehmen" Anteil daran zu nehmen begannen.

Von der mongolischen Welt Asiens sind hier wesentlich nur die Chinesen und Japaner zu betrachtenm weil alle anderen monolischen Völker - von einigen Ausstrahlungen der europäischen Kultur abgesehen - von jenen beiden alles angenommen haben, was sie über die Barbarei emporhob.

Die Religion der Chinesen hat zwar den bloßen Naturalismus überschritten, aber, wie bei den klassischen Völkern, doch zu keinem Priesterstand geführt. Doch haben sich, wie wir oben sahen, zwei Mandarinenkasten gebildet, die Mandarinen des Krieges und des Friedens. Ein vom Staat organisierte Erziehung gibt es nur für die Kinder der Mandarinen. Sie hat zwei Stufen: Die Mittelschule, die sich im Hauptort eines Distrikts befindet und die klassischen Schriften, besonders drei des KONFUZIUS und eine des MENCIUS lehrt. Die in diesen Schulen vorgebildeten Jünglinge unterwerfen sich verschiedenen Prüfungen, um die drei Grade zu erreichen, von denen der höchste der Mandarinenwürde verleiht, d. h. zu einem staatlichen Amt berechtigt. Mandarin des Krieges wird man ebenso erst nach drei Prüfungen, die sich auf physische Geschicklichkeit und Kenntnis des Kriegswesens beziehen. (31)

Das elementare Schulwesen ist Privatsache, es wird eine Anzahl Schriftzeichen, Rechnen und Gesang gelehrt. Der Lehrer wird von den Schülern bezahlt.

Die japanische Gesellschaft hat keine Aristokratie der Bildung, sondern eine Aristokratie des Besitzes. Trotzdem war das Erziehungswesen dem chinesischen ganz gleich, wie überhaupt die japanische Kultur eine Kolonie der chinesischen war, bis europäische Ideen nach Japan eindrangen. (32) Die elementare Bildung war ganz den Familien überlassen, die mehrere zusammen einen Lehrer annahmen; - nur die Erziehung der - wie in China - weltlichen Aristokratie war vom Staat organisiert. Der ganze Kursus bestand aus drei Stufen: Die erste lehrt die oben erwähnten vier Bücher der Chinesen und nach ihnen erst Lesen, Schreiben und Rechnen. Die zweite Stufe umfaßt Geschichte, Rhetorik, weitere Ausbildung in chinesischer Schrift, Arithmetik und Geographie, außerdem körperliche Übungen. Die oberste Stufe, nur durch je eine Hochschule in Kioto und Yedo und durch mehrere in der Provinzhauptstadt vertreten, lehrte Theologie und Moral, besonders nach den chinesischen Klassikern, außerdem die chinesische Sprache und Schrift in systematischer Weise, desgleichen die Sprache und Schrift der Japaner. Die Frauen wurden in Japan besser gebildet, als in China. Während die Chinesinnen nur häusliche Geschäfte lernten, lernten die Japanerinnen fast alle wenigstens ein wenig lesen und schreiben.

Wie diese alte Erziehung eine Nachahmung der chinesischen ist, so ist die neue, die in den letzten Jahrzehnten teils organisiert wurde, teils noch organisiert wird, eine Nachahmung derjenigen des modernen Europa, von der später zu sprechen sein wird.
LITERATUR - Paul Barth, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung, Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 27, Leipzig 1903
    Anmerkungen
    1) 2. Buch der Könige XXIV, 14
    2) JULIUS LIPPERT, Alllgemeine Geschichte des Priestertums II, Seite 191
    3) JULIUS LIPPERT, Alllgemeine Geschichte des Priestertums II, Seite 295
    4) JULIUS LIPPERT, Alllgemeine Geschichte des Priestertums II, Seite 298
    5) Vgl. A. von KREMER, Kulturgeschichte des Orients II, Wien 1877, Seite 189f
    6) Nach LIPPERT, a. a. O. I, Seite 509
    7) KÄUFFER, Geschichte von Ostasien, Leipzig 1859, Seite 113 und E. J. SIMCOX, Primitive Civilisations II, London 1897, Seite 23
    8) F. O. ADAMS, History of Japan I, London 1874, Seite 12 und 15
    9) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 171
    10) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 174
    11) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 175f
    12) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 200
    13) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 200
    14) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 207
    15) Vgl. GOTHEIN, Der christliche-soziale Staat der Jesuiten in Paraguay, Leipzig 1883, Seite 34. GOTHEIN nennt KAZIK den Häuptling eines Stammes; doch ist das nach seinen eigenenen Ausführungen ungenau.
    16) GOTHEIN, a. a. O. Seite 46
    17) GOTHEIN, a. a. O. Seite 33 - 45
    18) GOTHEIN, a. a. O. Seite 44
    19) GOTHEIN, a. a. O. Seite 61
    20) GOTHEIN, a. a. O. Seite 31
    21) Die heutigen von LETOURNEAU Seite 394 erwähnten Elementarschulen, die allerdings nur insofern öffentlich sind, als sie jedes Kind gegen Schulgeld aufnehmen, sind Nachahmungen der europäischen Kultur.
    22) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 391
    23) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 394
    24) LETOURNEAU, L'évolution de l'éducation, Paris 1898, Seite 360 und 361
    25) G. BAUR, "Jüdische und mohammendanische Erziehung" in K. A. SCHMID, Geschichte der Erziehung II, Stuttgart 1892, Seite 559
    26) Wenn LETOURNEAU (Seite 364f) als die drei Klassen des Beth Hammidrash angibt: Mikra, Mishnah und Gemara und die erste als die kleine, auffaßt, so ist das ein Irrtum. Der Name kommt vom hebräischen Kara = lesen und bedeutet "Leseschule".
    27) LETOURNEAU, a. a. O. Seite 333f
    28) LETOURNEAU, a. a. O. Seite 335 und 336
    29) LETOURNEAU, a. a. O. Seite 306
    30) LETOURNEAU, a. a. O. Seite 313
    31) LETOURNEAU, a. a. O. Seite 254f
    32) LETOURNEAU, a. a. O. Seite 247f