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PAUL BARTH
Die Geschichte der Erziehung
[9/12]

I - II - III - IV - V - VI

"Paulus mahnt:  Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.  Tertullian aber, der um 200 n. Chr. schrieb, sagt:  Nichts ist uns gleichgültiger als der Staat.  Und Augustinus, 200 Jahre später, bezeichnete den Staat nicht bloß als ein notwendiges Übel, wie etwa 100 Jahre vor ihm Chrysostomus, sondern den irdischen Staat überhaupt als eine Gründung Kains, des Brudermörders und den römischen Staat, ebenfalls die Gründung eines Brudermörders, des Romulus, als das caput terrenae civitatis, also  die Ausgeburt der Selbstsucht und der Gottesverachtung." 

"Da das Kloster sich von der Gesellschaft abschloß, so mußte es eine Gesellschaft im kleinen sein und wie ein Staat für seine geistige Fortpflanzung, für die Erziehung der Jugend sorgen."

V.

Die Gesellschaft ist ein Organismus von Willenseinheiten, also ein geistiges Gebilde. (1) Der Wille kann bewußt werden und ist dann nicht an die Gesellschaft gebunden, in die der Mensch hineingeboren ist. Er kann sich ganz oder teilweise einer neuen Gesellschaft anschließen, es kann eine ganze oder eine teilweise Sezession [Abspaltung - wp] stattfinden.

Eine solche Sezession erscheint am häufigsten als ganze, als Auswanderung. Wer in seiner bisherigen Gesellschaft nicht mehr leben kann oder will, verläßt sie und begibt sich in ein neues Land, in eine neue Gesellschaft. Aber die Sezession kann auch eine teilweise sein, der Mensch kann in der politischen Gesellschaft, der er angehört, bleiben, er kann jedoch gleichzeitig die religiöse Gesellschaft wechseln, er kann physisch bleiben, aber geistig auswandern.

Eine derartige Auswanderung der Geister fand, etwa seit dem zweiten Jahrhundert n. Chr., statt im römischen Reich. Die alten Religionen der verschiedenen Länder des Reiches wurden aufgegeben, nach und nach wurden sie ersetzt durch eine neue, die aus dem Osten des Reiches stammte, durch das Christentum.

Wenn einmal die Naturform der Gesellschaft aufgehört hat, so ist die Weltanschauung für das soziale Leben fundemental. Ein Wandel der Ideen über die Welt hat eine Änderung der Ideen über das Leben, das individuelle sowohl, als das soziale. Und wenn der Wandel ein radikaler ist, wenn die neuen Ideen in scharfem Gegensatz zu den alten stehen, so wird auch eine lebhafte Tendenz entstehen müssen, nicht bloß die individualen, sondern auch die sozialen Lebensverhältnisse umzugestalten.

Ein solcher radikaler Wandel aber war im römischen Reich das Aufkommen und Durchdringen der christlichen Weltanschauung. Sie enthielt eine Umwertung aller Werte, wie man mit NIETZSCHE sagen kann. Die Durchsetzung der Persönlichkeit, das Ausleben der natürlichen Triebe, die, an sich gut, nur durch die Sitte zu beschränken und durch Tugend zu veredeln sind, das ist der Inhalt des hellenischen Lebensideals, eine freudige Bejahung, der die römische Lebensführung nur an harmonischer Durchbildung nachstand, an Energie noch überlegen war. Das christliche Lebensideal hingegen ist die Verleugnung der eigenen Persönlichkeit, die Bekämpfung der natürlichen Triebe, die nicht zu veredeln, sondern, soweit irgendwie geht, zu überwinden und dadurch auszurotten sind, die Lebensverneinung, soweit sie dem Menschen möglich ist. Der ganze Kontrast faßt sich zusammen einerseits in der eigentümlichen griechischen Tugend, der megalopsychia, die ARISTOTELES mit Vorliebe beschreibt, für die wir ein genau entsprechendes Wort nicht haben, die wir aber am besten mit "edlem Stolz" wiedergeben können, andererseits in der christlichen Haupttugend, der Demut, die das gerade Gegenteil dieser megalopsychia darstellt. Das griechische Wort, das in den christlichen Schriften "demütig" bedeutet,  tapeinos,  ist bei den hellenischen Philosophen und in der hellenischen Volksmeinung immer tadelnden Sinnes, bedeutet, "niedrig, kleinmütig". Und wie in der Tugendlehre, so in der Güterlehre. Was bei den Hellenen und bei den Römern wertvoll ist, Gesundheit, Reichtum, Macht, Wissenschaft, das ist bei den Christen "irdisches Gut", darum minderwertig. Und der Gegensatz erstreckt sich auch auf die Schätzung der Gesellschaft selbst. Dem Hellenen und dem Römer ist sein Staat ein Teil seines Selbst, für den Staat zu wirken in der Blütezeit ihrer Gemeinwesen sein höchster Lebensinhalt, später wenigstens noch eine hohe Aufgabe, für den Christen ist der weltliche Staat ein Notbehelf, ein vorübergehender Aufenthalt, seine eigentliche Heimat ist die civitas Dei, der Staat Gottes, soweit er sich im Diesseits offenbart hat und offenbart, noch mehr aber, soweit er sich im Jenseits offenbaren wird. Und der Gegensatz wurde mit dem weiteren Vordringen des Christentums nur schärfer; es ist ja bekannt, wie PAULUS mahnt: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat." TERTULLIAN aber, der um 200 n. Chr. schrieb, sagt: "Nichts ist uns gleichgültiger als der Staat." (2) Und AUGUSTINUS, 200 Jahre später, bezeichnete den Staat nicht bloß als ein notwendiges Übel, wie etwa 100 Jahre vor ihm CHRYSOSTOMUS (3), sondern den irdischen Staat überhaupt als eine Gründung KAINs, des Brudermörders, (4) und den römischen Staat, ebenfalls die Gründung eines Brudermörders, des ROMULUS, als das caput terrenae civitatis, also "die Ausgeburt der Selbstsucht und der Gottesverachtung." (5) Die neue religiöse Gesellschaft gab sich allmählich auch eine Organisation. Zuerst bestand diese in bloßer Arbeitsteilung, die auf den Gnadengaben (Charismata) der Gläubigen beruhte, ohne einen Rangunterschied zu begründen. Es zwar Presbyter, die ohne Unterschied auch  episcopi  heißen, die das Abendmahl zu reichen und die Taufe zu vollziehen haben; aber noch ist jeder Gläubiger zugleich Priester, beide Handlungen kann er im Notfall selbst verrichten. (6) Noch TERTULLIAN vertritt Recht und Pflicht des allgemeinen Priestertums (7). Der Montanismus aber, der zu TERTULLIANs Zeit entstand und diesen selbst mit sich fortriss, erhob die Offenbarungen ekstatischer Propheten zur höchsten Autorität. Gegen den Subjektivismus, der von dieser Seite drohte, schützte sich die Kirche nun durch eine wirkliche Hierarchie, der das Priestertum der Juden zum Vorbild diente. (8) Der Bischof legitimiert nun die Glaubensregel, während früher die Regel den Bischof legitimierte. (9) Er ist der Hohepriester, der Prophet, der Richter an Gottes statt (10). Die anderen Beamten, die Presbyter und die Diakonen sind nur des Bischofs Diener.

Es ist aber eine ganz falsche Vorstellung, wenn man glaubt, die Kirche habe ihre Ideen im  ganzen  Leben durchgesetzt, alles und jedes ihren Grundsätzen gemäß gestaltet. Sie hat vielmehr nur das religiöse Leben, das Leben der Gemeinde als religiöser Gemeinschaft geleitet, das Weltliche aber ganz und gar sich selbst überlassen; wenigstens so weit, als es nicht mit ihren Gesetzen in Widerspruch geriet, war ihr dieses ein Adiophoron [etwas Gleichgültiges - wp]. So ist es ganz irrtümlich, zu meinen, die Kirche habe die Sklaverei aufgehoben, etwa jedem ihrer Bekenner zur Pflicht gemacht, seine Sklaven frei zu lassen. Sie hat nur verlangt, daß die Sklaven menschlich behandelt werden und hat wohl innerhalb des religiösen Gemeindelebens Sklaven und Herren gleich behandelt. (11) Wenigstens war es nicht prinzipiell unmöglich, daß ein Sklave zum Bischof gewählt wurde. Der römische Bischof CALLISTUS (218 - 223) war ursprünglich Sklave. (12) Später, als sie zur Macht gelangte, hat die Kirche nicht als eine Neuerung die Besserung der Lage der Sklaven angestrebt, sondern nur eine Gesetzgebung, die von den heidnischen Kaisern schon drei Jahrhunderte lang in dieser Richtung betrieben worden war, in derselben Richtung fortgesetzt.

Zu den gleichgültigen Dingen gehört notwendigerweise auch die weltliche Erziehung. Soweit Elementar-Unterricht, war sie Privatsache. Der höhere Unterricht, der Grammatik und Rhetorik lehrte, war öffentlich organisiert. Die wohlhabenden jngen Christen empfingen ihnen ebenso wie ihre heidnischen Altersgenossen; nur einzelne, wie TATIAN und TERTULLIAN, eiferten gegen die hellenischen Philosophen. Aber nicht die Philosophie war ja der Hauptgegenstand der höheren Bildung, sondern die Grammatik und die Rhetorik, die der christlichen Weltanschauung weniger gefährlich waren. Darum widerspricht sich TERTULLIAN nicht, wenn er zwar die heidnische Philosophie verwirft, die heidnische Literatur (literas) aber kennen zu lernen erlaubt. Denn "wie soll einer zu menschlicher Einsciht oder zu irgendeiner Erkenntnis oder Tätigkeit unterwiesen werden, da doch das Mittel für jeden Lebenslauf die Literatur ist? Wie mögen wir die weltlichen Studien verwerfen, ohne welche die göttlichen nicht bestehen können?" (13) Er entscheidet sich dann dahin, daß der Christ die heidnische Literatur als Lernender, aber nicht als Lehrender treiben darf.

Aber je mehr die Organisation der Kirche sich befestigte, desto bestimmter und wichtiger wurde gleichzeitig ihre Lehre.

Während das Urchristentum eine Gefühlsrichtung gewesen war, wurde das kirchliche Christentum ein Glaube an ein dogmatisches System und es ergab sich die Notwendigkeit, dieses System den neu eintretenden Mitgliedern der Gemeinde zu überliefern. Schon um die Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. war es Sitte, daß diejenigen, die in die Kirche aufgenommen werden wollten, vor der Taufe, dem Akt der Aufnahme, vom Katecheten, einem dafür bestimmten Mitglied der Gemeinde, über alle Glaubenssätze belehrt wurden. Aber eine feste Ordnung dieser Belehrung wurde erst um die Mitte des 3. Jahrhunderts eingeführt, indem man drei Stufen der Einführung in das Gemeindeleben unterschied:
    1) die der Hörer, die bloß an der Predigt,

    2) diejenigen der Kniebeugenden, die schon am Gebet teilnehmen durften,

    3) die der Kompetenten, die sich unmittelbar auf die Taufe vorbereiteten. (14)
Mit diesem Unterricht, den die Kirche gab, war ein prinzipiell neuer Gedanke eingeführt, der, teils ausgesprochen teils verborgen, der ganzen Einrichtung zugrunde lag. Der Unterricht, den der antike Staat bei allen erzwang, in der Gymnastik und teilweise in der Musik, diente staatlichen Zwecken; die enzyklopädische Bildung diente individuellen Zwecken, aber sie wurde nicht vom Staat erzwungen, sie war nicht allgemein, sondern nur eine Bildung der oberen Schichten. Hier aber, im kirchlichen Unterricht, entstand ein Unterricht aller, nicht bloß bevorzugter Klassen, der gleichwohl keinem sozialen Zweck, wenigstens keinem irdischen sozialen Zweck diente. Er bereitete freilich für die Mitgliedschaft im Gottesstaat vor, aber diese Vorbereitung geschah aus einem individualen, nicht aus einem sozialen Grund. In der römischen Welt wird der einzelne dem Staat geopfert, er hat dem Ganzen gegenüber keine Freiheit, der Staat ist die Substanz, wie HEGEL richtig hervorhebt (15), der einzelne eine Akzidenz. Im Christentum aber ist jede einzelne Seele wichtig, jede soll dasjenige Leben empfangen, das allein wertvoll ist, das ewige Leben. Die Aussetzung von Kindern ist verpönt, (16) weil ein ungetauftes Kind nicht bloß leiblich, sondern auch seelisch verloren und zur ewigen Verdammnis bestimmt ist. Darum ist der Unterricht, den die Gemeinde gibt, allgemein, keiner, der der Gemeinde angehören will, ist ausgeschlossen. Dennoch wird mit dieser Allgemeinheit kein sozialer Zweck, wenigstens kein sozialer Zweck für diese Welt, verfolgt. Die Schätzung des Individuums ist damit gewaltig gewachsen. Die antike Welt kennt keine Konstruktion des Rechts und des Staates, die vom Individuum ausging. Für PLATO ist der Staat ein Organismus; nicht der einzelne leidet oder ist glücklich im Staate, sondern der Staat leidet oder ist glücklich am einzelnen. (17) Auch für ARISTOTELES ist der Staat früher als der Einzelne, d. h. er ist die Substanz, das Bleibende, der Einzelne nur vorübergehend. (18) Im 16. Jahrhundert aber wurde es anders. Das "Naturrecht" fragt nach "dem Recht, das mit uns geboren ist", es geht aus vom Einzelnen und konstruiert nach seinen Lebensbedingungen den sozialen Vertrag, aus dem Staat und Recht entstehen. ALTHUSIUS, GROTIUS und LOCKE wollen nicht, daß der Mensch durch Eintritt in die Gesellschaft an Rechten verliert, sondern daß er gewinnt. Zu dieser individualistischen Richtung des Naturrechts hat der Individualismus, der im Christentum enthalten ist, einen guten Teil beigetragen.

Freilich war auch der organisierte Unterricht der christlichen Gemeinden nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, Vorbereitung zur Taufe. Als daher im 5. und 6. Jahrhundert die Taufe der neugeborenen Kinder allgemein geworden war, hörte der katechetische Unterricht auf. (19) Die Wirkung der Taufe schien genügend zur Aneignung des von CHRISTUS dargebotenen Heils. Nicht länger als der Unterricht der Katecheten konnten naturgemäß die Schulen bestehen, an denen sie vorgebildet wurden, die sogenannten Katechetenschulen zu Alexandria, Antiochia, Edessa in Ostsyrien und Nisibis in Mesopotamien, gewissermaßen die Hochschulen des Christentums. Im 6. Jahrhundert war die zu Nisibis die einzige. Weil an der äußersten Grenze der christlichen Welt gelgen, war sie ganz ungenügend. Aber vergeblich bemühte sich umd die Mitte des 6. Jahrhunderts CASSIODOR, in Rom eine ähnliche Schule herzustellen. (20)

Wenn so die offizielle Kirche nur einen Teil des Unterrichts, den religiösen und auch diesen nur vorübergehend organisiert hat, stand es anders mit den freiwilligen Körperschaften, die seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts entstanden, mit den Klöstern. Sie machten sich die Pflege der christlichen Wissenschaft zur Aufgabe und nahmen sehr bald Knaben, die zu Mönchen oder Mädchen, die zu Nonnen werden sollten, auf. Diesen gab das Kloster den gesamten Elementarunterricht und darauf die religiöse Belehrung, wahrscheinlichsogar einen Teil des höheren weltlichen Unterrichts, der "Grammatik" in dem oben angegebenen Sinn. Da das Kloster sich von der Gesellschaft abschloß, so mußte es eine Gesellschaft im kleinen sein und wie ein Staat für seine geistige Fortpflanzung, für die Erziehung der Jugend sorgen. Es war natürlich, daß auch weltliche Kinder, die sich dem klösterlichen Leben nicht widmen wollten, im Kloster Unterricht empfingen. Und als sonst infolge der volkswirtschaftlichen Zersetzung (21) alle Bildungsanstalten verfielen, waren die Klöster die einzigen Stätten, in denen sich Stücke der Wissenschaft und der Literatur der alten Welt in die germanische Gesellschaft hinüberretteten.

Als die germanischen Völker sich auf dem Boden des römischen Reiches niederließen, stand die soziale Organisation, die sie erreicht hatten, auf derselben Stufe wie diejenige der klassischen Völker, als sie von der Geschlechterverfassung zur ständischen übergingen. Dieser Übergang offenbart sich bei den Griechen und den Römern äußerlich in der Gesetzgebung LYKURGs, SOLONs und der übrigen teils mythischen, teils geschichtlichen Persönlichkeiten, die als Urheber geschriebener Gesetze der verschiedenen Staaten genannt werden. Ähnlich bei den Germanen. Auch hier entstehen nach der Völkerwanderung die sogenannten "Leges barbarorum" (22), die Gesetz der germanischen Stämme, die entweder in der Heimat geblieben sind oder sich auf dem Boden des römischen Reiches niedergelassen haben. Und diese Gesetze, die größtenteils noch erhalten sind, lassen uns sehr deutlich erkennen, wie die urwüchsige, kommunistische Geschlechterverfassung zwar noch in deutlicher Erinnerung ist und vielfach nachwirkt, die Herrschaft über das Leben aber schon in der Familie und der ständischen Gliederung zugefallen ist. Nach dem Gesetz der zwölf Tafeln war in Rom das Intestat-Erbrecht die Folge der Erben:
    1. leibliche Söhne und Töchter, die noch in des Erblassers väterlicher Gewalt waren und die Ehefrau

    2. solches Söhne und Töchter, die nicht mehr in väterlicher Gewalt waren oder die Nachkommen der Söhne oder Brudersöhne und ihre Nachkommen,

    3. alle übrigen männlichen Mitglieder der Sippe (23)
Nach der Lex Salica erben den Grundbesitz eines Verstorbenen zunächst seine Söhne, dann seine Brüder, dann die vicini, d. h. seine Sippengenossen oder Markgenossen, die "die Mark" bilden und noch jetzt, nach dem neuen Recht, einen Teil des Boden, die Allmende, (Wald und Weide) gemeinsam besitzen. (24) Und die Markgenossenschaft bleibt das ganze Mittelalter hindurch lebendig, eine dauernde Erinnerung an die Geschlechterzeit, freilich später vielfach durch das Obereigentum des Grundherrn über alles Gemeindeland gehemmt. (25) Wer das Wergeld, die Buße für einen Mord, aus seiner fahrenden Habe nicht bezahlen konnte, der konnte nicht einfach seine Hufe der Sippe des Ermordeten überlassen, sondern mßt sie den nächsten Verwandten seiner eigenen Sippe verkaufen, damit das Gesamteigentum derselben nicht geschmälert wird. (26) Das Wehrgeld selbst wiederum fiel zum Teil an die Erben, zum Teil an die Sippe des Ermordeten. (27) Und so lebte in vielen Spuren noch die Naturform der Gesellschaft fort.

Aber über ihr und gegen sie erhebt sich die neue, ständische Ordnung, die wir zunächst für den früheren Teil des Mittelalters, etwa bis 1150, zu betrachten haben.

Wie im klassischen Altertum die Gliederung der Stände sich nach der Höhe des Vermögens und der Leistungen für den Staat festsetzte, ist es auch hier der Grundbesitz, der die wesentliche Differenzierung bewirkt.

Das Privateigentum am Boden mußte sehr bald Ungleichheit des Besitzes erzeugen. Wer Knechte hatte, konnte im Wald roden, der, wie alles nicht einer Markgenossenschaft gehörige, Königsland war und das gerodete Land wurde sein Eigentum. (28) So entstand allmählich ein Stand der großen Grundherren, der bald dem freien Bauern gegenüber noch ein besonderes Übergewicht erlangte, indem der Grundherr (senior, davon seigneur) zugleich zum "Feudalherrn" wurde, eine Verhältnis, das dem klassischem Altertum in seiner ständischen Epoche ganz fremd war.

Das Königtum der Franken und der anderen germanischen Stämme, die sich auf römischem Boden niederließen, war ursprünglich kein anderes als dasjenige, das HOMER schildert, das auch bei den Indern in ihren großen Epen erscheint, das wir auch in TACITUS' "Germania" finden, ein Volkskönigtum patriarchalischen Ursprungs, das sehr an den Willen des Volkes, an die Beschlüsse der Volksversammlung gebunden war. Aber gerade während der Völkerwanderung und der darauf folgenden beständigen Kriege war das Königtum, als die Gewalt des obersten Befehlshabers, zu größerer Macht gelangt. Alle Volksgenossen waren dem König durch einen Eid zum Gehorsam verpflichtet, (29) er hatte dieselbe unumschränkte Gewalt, wie der römische Imperator, den der germanische König nachzuahmen versuchte. Er hatte ein Beamtentum wie der römische Kaiser, außer diesem aber noch eine Gefolgschaft von Männern, die sich in seinen persönlichen Dienst gegeben hatten, die sogenannten Antrustionen [Leibwächter - wp] (30)

Nach der endgültigen Niederlassung aber wurde das Verhältnis des Königtums zum Volk ein anderes. In den Zeiten des Wanderns und des Kämpfens war die Regierung leicht: sie war ein militärischer Oberbefehl, den der Köngi führte. Jetzt aber, im Frieden, war die Regierung über weite Länder auszuüben, wozu eine lange eingeübtes und organisiertes Beamtentum, wie das römische, nötig, aber nicht vorhanden war, die wenigen Gaugrafen nicht genügten. So hatte der König keinen anderen Ausweg, als die großen Grundherrn gewissermaßen zu Beamten zu machen. Da er jedoch nicht imstande war, ihre Dienste zu bezahlen, so mußte er ihnen Privilegien gewähren, die ihnen Nutzen brachten. Diese Privilegien bestanden in eben den staatlichen Hoheitsrechten, die er ihnen übertrug, im Heeresbann, d. h. dem Recht, die Bauern der Hundertschaft zum Heeresdienst auszuheben und dem Gerichtsbann, d. h. dem Recht, die niedere Gerichtsbarkeit über die Leute dieser selben Hundertschaft auszuüben oder wenigstens zu leiten. (31) Viele dieser Grundherren waren durch Lehen (beneficia), d. h. durch Grundbesitz, den sie aus des Königs Hand nur auf Lebenszeit, nicht erblich empfangen hatten - besonders nach den Säkularisationen vielen Kirchengutes durch PIPIN und seinen Nachfolger (32) - zu besonderer Treue verpflichtet (33), aber auch von den übrigen, die kein Lehen hatten, erwartete er als Entgelt für ihre Privilegien Treue und Gehorsam. (34) Zudem wurde unter den späteren Karolingern die Sitte, Lehen zu nehmen, immer allgemeiner. So entstand der "Feudalismus", der in privatrechtlicher Hinsicht die Sitte, ein Landstück als Untereigentum mit Anerkennung eines Obereigentümers, des Lehnsherrn zu besitzen, in staatsrechtlicher Beziehung aber die Zerstückelung der Staatsgewalt in private Einzelgewalten bedeutet. (35)

Zu den Privilegien der großen Grundherren kam noch als sekundäres Moment der Heeresdienst zu Pferde hinzu, als sekundäres Moment der Heeresdienst zu Pferde, den die deutsche Heerverfassung seit den Kriegen mit den Arabern erforderte, der, kostspielieger als der Dienst zu Fuß, nur den größeren Besitzern und den von ihnen ausgerüsteten Leuten möglich war. Diese Art des Heeresdienstes begründete den Namen "Ritter", den der Stand der Grundherren allmählich annahm. (36)

Durch die obrigkeitliche Stellung, die so der Grundherr einnahm, ist der freie Bauer, das Mitglied der Markgenossenschaft, in den Schatten gedrängt worden. Er mußte im Grundherrn gewissermaßen seinen König sehen, in dessen Wohlwollen sein Geschick lag, von dessen Willen besonders Schwere oder Erleichterung der Last des Heeresdienstes abhing. So gab er sich in seinen Schutz, übertrug ihm seine Hufe und empfing sie nach Analogie des Lehens, das der Grundherr vom König trug, als belastetes Untereigentum von ihm zurück (37). Wie der Grundherr dem König, so war der Bauer nun dem Grundherrn verpflichtet und zwar nicht bloß zu persönlichen Leistungen, wie der Grundherr zur Heeresfolge, sondern vor allem zu materiellen, zu Abgaben vom Ertrag seiner Hufe. (38) Er wurde dadurch nicht ein "Knecht", sondern ein freier "Hintersasse", aber doch ein "Höriger", der freilich nicht von der Scholle vertrieben werden, aber sie auch ohne Genehmigung des Herrn nicht verlassen durfte und, solange er auf der Scholle saß, an mancherlei Pflicht gebunden war (39). Und wie jeder einzelne, so war auch die gesamte Markgenossenschaft nicht mehr unabhängig vom Grundherrn der Hundertschaft. (40) Sie bestand weiter, aber wichtiger als sie war nun der Hof des Grundherrn. Man kann in bezug auf das platte Land sagen: Anstelle der Markverfassung trat die Hofverfassung. Damals wohl entstand das französische Sprichwort: nulle terre sans seigneur [Kein Land ohne Lehnsherrn. - wp] Und auch in England tritt anstelle der Mark freier und gleicher Bauern der Manor eines Grundherrn, der über die ehemaligen Freien eine gewisse Regierung ausübt. Und zwar geschieht dies aus denselben Ursachen wie in Deutschland, noch vor der normannischen Eroberung. (41) Und jeder Hof, der auch ein besonderes, für die niedere Gerichtsbarkeit zuständiges Hofgericht hatte, war gewissermaßen ein kleines Königreich, ziemlich unabhängig von der Gewalt des großen Staates. Nur noch die Grafen, die Leiter der höheren Gerichtsbarkeit, des "Hochgerichts", waren die letzten Vertreter des königlichen Beamtentums, aber auch sie faßten allmählich ihre Stellung als ein durch die Gerichtsabgaben nutzbares Lehen auf, das bald, wie schon lange die anderen Lehen, auf die Nachkommen vererbt wurde, so daß auch in ihnen der letzte Rest des Beamtentums erlosch. (42)
LITERATUR - Paul Barth, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung, Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 28, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Vgl. PAUL BARTH, Unrecht und Recht der "organischen" Gesellschaftstheorie in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 24, Leipzig 1900, Seite 83f
    2) APOLOGETICUM, K 38, zitiert von H. v. EICKEN, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung Stuttgart, 1887, Seite 112. Aber auch schon schärfere Urteile klingen bei TERTULLIAN an.
    3) Vgl. H. v. EICKEN, a. a. O. Seite 122
    4) Vgl. AUGUSTINUS, De civitate dei I, XV, c.5
    5) AUGUSTINUS, a. a. O. und I, XIV, c. 28
    6) Vgl. A. RITSCHL, Die Entstehung der altkatholischen Kirche, 2. Auflage, Bonn 1857, Seite 348 - 350 und Seite 367f
    7) RITSCHL, a. a. O., Seite 396
    8) Vgl. RITSCHL, a. a. O., Seite 561f
    9) RITSCHL, a. a. O., Seite 571
    10) RITSCHL, a. a. O., Seite 575
    11) Vgl. FRANZ OVERBECK, Studien zur Geschichte der alten Kirche I, Schloss-Chemnitz 1875, Seite 182 - 196
    12) OVERBECK, a. a. O., Seite 190
    13) TERTULLIANUS, De idololatria, c. 10, zitiert von G. BAUR, Die christliche Erziehung in ihrem Verhältnis zum Judentum und zur antiken Welt in K. A. SCHMID, Geschichte der Erziehung II, Stuttgart 1892, Seite 53
    14) Vgl. SCHMID, a. a. O. Seite 38f
    15) Vgl. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke IX, 2. Auflage, Berlin 1840, Seite 306
    16) KONSTANTIN bestrafte sie mit dem Tod. Vgl. W. PLATZ, Geschichte des Verbrechens der Aussetzung, Stuttgart 1876, Seite 21
    17) PLATON, Staat, V, K 10 - 12, auch IV, K 1
    18) ARISTOTELES sagt in seiner "Politica I", 1. Kapitel: "Und zwar ist der Staat von Natur aus früher als die Familie und jeder von uns. Denn das Ganze ist notwendigerweise früher als der Teil. Wenn das ganze vernichtet wird, dann gibt es keinen Fuß, keine Hand mehr, außer in ganz anderer Bedeutung, wie man auch von einer steinernen Hand sprechen kann ... Denn wenn der Einzelne vom Ganzen getrennt nicht selbständig leben kann, so verhält er sich zum Ganzen wie die Glieder zum Organismus." HEGEL (a. a. O. Seite 350) weist mit Recht auf die unbedingte Achtung des Römers vor dem formalen Staatsrecht hin: "Wie oft ist die Plebs im Aufstand und in der Auflösung der gesetzlichen Ordnung bloß durch das bloß Formelle wieder zur Ruhe gebracht und um die Erfüllung ihrer gerechten und ungerechten Forderungen getäuscht worden! Wie oft ist z. B. vom Senat ein Diktator gewählt worden, wo weder Krieg noch Feindesnot war, um die Plebejer zu Soldaten auszuheben und sie durch den militärischen Eid zu strengem Gehorsam zu verpflichten!"
    19) Vgl. G. BAUR, "Jüdische und mohammendanische Erziehung", Seite 47
    20) Vgl. BAUR, a. a. O., Seite 76
    21) Vgl. BAUR, a. a. O. Seite 420f
    22) Der Germanen sind in ihnen selbst im Gegensatz zu den Römern als Barbaren bezeichnet worden.
    23) Vgl. R. SOHM, Institutionen des römischen Rechts, 4. Auflage, Leipzig 1889, § 98
    24) Diese Folge der Erbberechtigten ergibt sich aus der Lex Salica und aus dem Edictum Chilperici, das auch Töchter und Schwestern des Erblassers zur Erbfolge zuläßt, aber das Heimfallsrecht der vicini (Markgenossen) nicht beseitigt. Vgl. Lex Salica, hg. von R. GEFFCKEN, Leipzig 1898, Seite 59, Seite 223f, Seite 270f. Vgl. auch R. SCHRÖDER, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Auflage, Leipzig 1902, § 35, V, Anmerk. 296. Über die Gemeinsamkeit der Weide und des Waldes für die Zeit der Lex Salica vgl. auch K. LAMPRECHT, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter I, Leipzig 1886, Seite 48f, 284
    25) LAMPRECHT, a. a. O., Seite 298, 482f und I, Seite 996f. Auch die Wiese war wohl im Gemeindebesitz (vgl. GEFFCKEN, a. a. O. Seite 139). Doch war sie das ganze Mittelalter hindurch von geringer Ausdehnung und Bedeutung. Vgl. LAMPRECHT, a. a. O. Seite 530f.
    26) Vgl. Lex Salica t 58 und GEFFCKEN, a. a. O., Seite 219
    27) Vgl. Lex Salica t 62 und GEFFCKEN, a. a. O., Seite 230f
    28) Vgl. K. TH. von INAMA-STERNEGG, Die Ausbildung der großen Grundherrschaften in Deutschland, (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, hg. von G. SCHMOLLER, Leipzig 1879, Seite 46
    29) Vgl. P. ROTH, Geschichte des Benefizialwesens, Erlangen 1850, Seite 108, 276f und R. SOHM, Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, Weimar, 1871, Seite XIII
    30) Vgl. ROTH, a. a. O., Seite 119 - 125
    31) Vgl. ROTH, Geschichte des Benefizialwesens, Seite 356-358, 409, auch ROTH, Feudalität und Untertanenverband, Weimar, 1863, Seite 316. Über den Heeresbann vgl. SCHRÖDER, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Auflage, Leipzig 1902, Seite 154, 157, 161. Über den Gerichtsbann, SCHRÖDER Seite 180f
    32) Vgl. ROTH, Geschichte des Benefizialwesens, Seite 325-350. ROTH weist dort nach, daß die großen Säkularisationen nicht unter KARL MARTELL stattfanden, der ihretwegen später von der Kirche verdammt wurde, sondern und PIPIN und KARL den Großen.
    33) ROTH, a. a. O., Seite 358, 373, 381, 416, 420
    34) ROTH, a. a. O. Seite 386
    35) ROTH, Feudalität und Untertanenverband, Seite 27: "Als charakteristisches Merkmal des Feudalismus tritt vor allem die Tendenz hervor, jede amtliche Befugnis in ein selbständiges Recht zu verwandeln, teils durch Erblichmachung der öffentlichen Ämter, teils durch Ausscheidung gewisser Grundbesitzungen aus der Kompetenz der öffentlichen Beamten und Verbindung der darauf bezüglichen amtlichen Befugnisse mit dem Grundbesitz selbst."
    36) Vgl. R. SCHRÖDER, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Auflage, Leipzig 1902, Seite 161
    37) Vgl. INAMA-STERNEGG, a. a. O. Seite 58f
    38) LAMPRECHT I, Seite 992f
    39) SCHRÖDER, a. a. O. Seite 455
    40) Bezüglich der "Hundertschaft" sind SOHM (Seite 71, 118) und LAMPRECHT verschiedener Meinung. SOHM findet in ihr eine Unterabteilung des Gaus. Die Hundertschaft entspricht der kirchlichen Parochie [Amtsbezirk eines Pfarrers - wp], der Gau der Diözese (203, 207). Die Hundertschaft ist nach ihm auch identisch mit der Markgenossenschaft (I, Seite 58, 198f) Es wird wohl beides richtig sein. SOHMs Ansicht für die ältere Zeit, LAMPRECHTs Meinung für die spätere, nachdem sich der Anbau erweitert hat.
    41) Vgl. H. S. MAINE, Village communities, 5. ed. London 1887, Seite 147, der jedoch die Unterordnung der freien Bauern unter den Lord als eine allzu spontane betrachtet. Die Zwangslage der Bauern betont mehr W. J. ASHLEY, An introduction into englisch economic history and theory, London 1888, Seite 14. Die Ansicht von FUSTEL de COULANGES, daß es bei den alten Germanen und die Seebohms, daß es bei den Angelsachsen keine freie Dorgemeinde gab, widersprechen dem Zeugnis der Quellen und der Analogie anderer, z. B. der indischen Dorfgemeinden, von denen im 2. Teil dieser Abhandlungen die Rede war.
    42) Vgl. SCHRÖDER, Seite 128f