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RUDOLF STAMMLER
(1856-1938)
[mit NS-Vergangenheit]
Die Lehre vom richtigen Recht
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"Im Erkennbaren ist die Idee des Guten das Äußerste und wird nur mit Mühe erblickt. Der aber muß sie sehen, der, sei es im Stillen für sich oder öffentlich, vernünftig handeln will."

"Richtiges Recht ist dasjenige Recht, welches in einer besonderen Lage mit dem Grundgedanken des Rechts überhaupt zusammenstimmt."

Eröffnung
Aufgabe des richtigen Rechts

I.
Von zwei Arten der Rechtslehre


"Der Buchstabe tötet, der Geist
aber macht lebendig." - Paulus

Die Rechtslehre kann in zweifacher Absicht unternommen werden.

In der einen Richtung geht sie auf ein Beherrschen von geschichtlich gegebener Rechtsordnung, so daß sie deren Erkenntnis als  eine Art von Endzweck  für sich aufnimmt; nach einem anderen Plan besinnt sie sich darauf, daß die rechtliche Regelung nur  ein Mittel im Dienst menschlicher Zwecke  ist, ein bedingtes Mittel, durch das ein gewisser Erfolg erreicht werden soll. Die eine ist zufrieden,  den Sinn und wirklichen Inhalt  bestimmter Sätze und Einrichtungen klar zu legen, ihn einheitlich zu erfassen und systematisch geordnet vorzutragen; die zweite wirft die Frage auf, ob das so gelieferte Recht ein  richtiges Mittel zum rechten Zweck  ist.

Ich nenne jene die  technische  und die andere die  theoretische  Rechtslehre.

Das Eigentümlich jeder  Technik  liegt darin, daß sie  eine stofflich begrenzte Aufgabe  zu erfüllen hat; ohne fragen zu dürfen: wie das ihr gerade gesteckte Ziel sich weiter in die unbedingte Einheit des Bewußtseins einreiht. Dagegen ist es das Wesen der  Theorie vom einzelnen  bis zur obersten Gesetzmäßigkeit  und wieder lückenlos hinauf auf methodisch gebauten Stufenreihen zur Lösung von besonderen Fragen zu schreiten.

Die technische Rechtslehre hat es, ihrem eigenen Gedanken nach, nur mit Reproduktion zu tun; sie will bloß wiedergeben. Von ihr gilt, vielleicht zutreffender, was BÖCKH als Begriffsbestimmung der Philologie angab:  Erkennen des schon einmal Erkannten.  Mag sich dieses auf scharf umrissene Paragraphen eines Gesetzbuches beziehen oder auf die mehr verschwommenen Gebilde rechtlicher Gewohnheit und Übung, - mögen sich die Erörterungen um einen behaupteten  eigentlichen  Gedanken der Recht setzenden Gewalt drehen oder vielleicht notwendige Folgerungen juristischer Satzungen in feiner Einzelarbeit ausgemalt werden: immer umgrenzt es sich als eine  Wiedergabe  von einem Willensinhalt, welcher vorhanden ist und der hier in einem Interesse dargelegt wird,  weil er da ist.  Daß die technische Rechtslehre, indem sie sich vervollkommnet, mit abgezogenen Begriffen arbeitet, ändert hieran gar nichts. Denn diese sollen nur ein Rüstzeug für die Erfassung eines besonderen Rechts sein, zum Zweck der Reproduktion des letzteren zu brauchen; wobei sich der Plan der Arbeit mit der Ausführung dieser Wiedergabe  ohne allen Rest  erfüllt.

Aus dieser Ursache führt auch die neuerdings stärker betonte  allgemeine Rechtslehre  oder  juristische Prinzipienlehre  uns im Grundgedanken nicht weiter. Diese Disziplin will die allgemeinen Begriffe behandeln, welche von besonderen juristischen Lehrabteilungen unabhängig sind und die beim Aufbau jeder Jurisprudenz verwendet werden. Doch auch hier ist es sofort klar, daß diese Arbeit innerhalb der Absichten einer technischen Rechtslehre verbleibt. Denn man kann damit immer wieder nur nebenher gehende Hilfsmittel zur Bewältigung der begrenzten Aufgabe erhalten, positive Rechtsordnungen in dem Sinne ihrer Bestimmungen zu erkennen. Die  letzte  Frage, die hier gestellt wird, das  oberste  Ziel, welches sich dabei zeigt, ist die Aufhellung des Inhaltes eines gewissen Rechtswillens: Dieser besondere Willensinhalt bedeutet für den ihn Durchsuchenden ein Problem für sich; und bei aller quantitativen Häufung von besonderen Rechtsinhalten, als Gegenständen einer eigenen Erkenntnis, kommt man über das bloß  technische  Vorhaben der Klarmachung eines gegebenen, einmal geäußerten Wollens nicht hinaus.

Dieses Ziehen einer festen Grenzlinie hat für den juristischen Arbeiter zunächst gewisse Vorteile. Indem er sich zum Beruf macht, möglichst gut zu wissen, was das gesetzte Recht wirklich bestimmt (verbunden mit der Kunst der Rechtsanwendung): so vermag er, die also aufgegebene juristische Technik zu hoher Vollkommenheit zu bringen und sie zum Rang einer Wissenschaft zu erheben.

Denn  Wissenschaft  ist jedes Bewußtsein, das auf  Einheit  geht und in der Umformung zu ihr sich vollendet. Durch das Streben nach Einheit scheidet sie sich von bloßer Kunde. Sie wird  reine  Wissenschaft heißen oder  Theorie  im besseren Sinn des Wortes, wenn die ins Auge gefaßte Einheit  unbedingt  ist und die Idee einer stofflich befreiten Vollkommenheit darstellt. Und sie ist zum andern eine  technische  Wissenschaft, falls sie sich mit einer Erkenntnis zufrieden gibt,  welche in jedem Augenblick auf einen endlich begrenzten Stoff eingeschränkt ist. 

Aber diese freiwillige Selbstbegrenzung darf  nicht zum Prinzip  erhoben werden. Wer das tun - und mancher juristische Positivist hat es getan -, der erwählt sich  zum Endziel  seines Schaffens einen Gegenstand, der nur als  ein bedingtes Mittel  zu einem guten Ende einen sachlichen Wert haben kann.

Dieser Satz bedarf im jetzigen Zusammenhang keines ausführlichen Beweises. Denn wie immer man sich die rechtliche Anordnung in ihrem Entstehen und Auftreten und Untergehen vorstellen mag, soviel ist sicher, daß ihre Satzung ein gewisses Verhalten der ihr Untergebenen beobachtet wissen will. Indem sie einen Zustand gebietet oder versagt, so fügt sie sich als  ein Mittel  für einen zu erreichenden Zweck oder ihrer mehrere und vielleicht sehr viele, bedingt und dienend ein. Erst der Wunsch nach voller Durchleuchtung des nun einmal so Gewollten erhebt dieses bei dem es Bearbeitenden zu seinem, des Technikers, Endzweck. Das besondere gesetzte Recht entschwindet aus dem unbegrenzten Mechanismus der Mittel, welche selbst wieder Zwecke waren und der Zwecke, die für sich wieder Mittel sind; es wird abseits gelagert und erhält ein eigenes Reich mit dem sonderbaren Gedanken einer bedingten Unbedingtheit unter sich.

Das bleibt dann nicht ohne Nachteile in der Sache. Auch das geistige Auge akkomodiert sich [paßt sich an - wp]. Wer sich daran gewöhnt, immer und ausschließlich nach fester und begrenzter Flächer in der Nähe zu sehen und die Eigentümlichkeiten nur jener aufzuspüren, wird im Blick auf das um ihn Seiende leicht an Schärfe verlieren. Und so mag es kommen, daß bei bloßer technischer Rechtslehre sich vornehmlich jene Art ausbildet, welche man längst die  formalistische  Betrachtung der Juristen genannt hat.

Was ist nun eine derartige  formalistische  Weise?

Offenbar nichts anderes, als dieses: daß jemand als  das Letzte,  was für ihn in Betracht kommt, einen empirisch bedingten Gegenstand, hier  eine besondere Satzung,  behandelt. Er nimmt eine gesetzte Norm als das  oberste  Gebot, ohne ihre notwendige Eigenschaft,  ein bloßes Mittel zu sein,  in seinem Urteil zu beachten.

Und dann kommt eine begründete Unzufriedenheit mit solch einer formalistischen Art. - Sobald einer nichts anderes gelernt hat, als nur Striche nach einem gegebenen Punkt zu ziehen, so wird er demjenigen beschränkt erscheinen, dessen Einsicht auf Geometrie überall geht; und wer die anscheinend so fest stehende Erde als den unbeweglichen Mittelpunkt des Weltalls wirklich annimmt, der wird vor dem auf das Ganze des Sternensystems gerichteten Blick mäßig bestehen.

Für die Rechtslehre liegt die formalistische Gefahr besonders nahe.

Denn die rechtliche Regelung bedeutet im Begriff der Gesellschaft die bedingende Form, während die zusammenstimmende Tätigkeit der verbundenen Menschen die durch jene bestimmte Materie des sozialen Daseins ist. In dem in Wirklichkeit ungetrennt vorkommenden Zusammenwirken von Menschen, woraus das Gemeinschaftsleben besteht, lassen sich die beiden Begriffselemente der Regelung und der zusammengefaßten Tätigkeit unterscheiden; und zwar so, daß jene, als formale Bedingung, für sich in ihrem Inhalt durchgegangen werden kann, während für die soziale Wirtschaft eine Erwägung, die von den bedingenden Regeln unabhängig wäre, unmöglich erscheint. Darum ist die Rechtslehre notwendigerweise  formal,  in der angegebenen Bedeutung. Ihre Ergebnisse sind von der wirklichen Ausführung innerhalb des betreffenden geordneten Zusammenwirkens unabhängig; sie hat den Inhalt einer bestimmten Rechtsordnung klar zu machen und kann dieses erledigen, ohne auf eine besondere Art sozialer Wirtschaft Bezug zu nehmen. Und das ist die Eigentümlichkeit jeder Gedankenreihe, die als formale Bedingung von anderen auftritt:  Die Form  kann für sich gesondert wissenschaftlich behandelt werden.

Hiernach ergibt sich der Unterschied zwischen einer  formalen  Wissenschaft und einer  formalistischen  Weise der Betrachtung. Jene bedeutet eine Forschung, deren Ergebnisse die Bedingungen für andere Erkenntnisse sind, - das zweite heißt nur eine Richtung in irgendeinem Fach, welche ein konkret bedingtes Objekt nach Art der unbedingten Einheit des Bewußtseins behandelt. Die Rechtslehre gehört insgesamt zur formalen Wissenschaft, da sie auf die bedingende Form des sozialen Lebens gerichtet ist; es ist erst diejenige technische Rechtslehre,  welche sich auch sich selbst beschränkt,  die der Gefahr einer formalistischen Behandlungsart zum Opfer fällt.

Man hat dem letzteren zu steuern versucht. Und es ist interessant zu sehen: wie sich innerhalb der technischen Rechtslehre noch einmal ein Gegensatz zwischen formalistischer und teleologischer Behandlung ausgebildet hat. Nach der letztgenannten soll die Erkenntnis eines bestimmten Rechtsinhaltes nicht bloß aus abgezogenen Rechtsbegriffen gewonnen werden, welche die bisherige Rechtswissenschaft im allgemeinen zutreffend für ihre Aufgabe gewonnen und verwertet hatte, sondern auch durch eine Beachtung der konkreten Zwecke, welche zur Satzung des jetzt zu behandelnden Rechts hingeführt haben. Jenes erste würde dann in einer zweiten, engeren Bedeutung des Wortes eine  formalistische  Darlegung heißen können.

Das ist jedoch eine sehr flüssige Abteilung. Es wird bei der Feststellung des wirklichen Sinnes eines bestimmten Rechts bald das eine oder das andere Mittel anzuwenden sein. Und daß die Juristen einer bestimmten Zeit  ausschließlich  von diesem oder dem zweiten Verfahren Gebrauch gemacht haben, wird schwer gezeigt werden können; es dürfte sich wohl nur um ein relatives Vorwiegen einer der beiden Deduktionen handeln.

In jedem Fall hat die gemachte Trennung mit der hier durchgeführten Erwägung nichts weiter zu tun. Sie verbleibt, wie bemerkt,  innerhalb  der technischen Rechtslehre, weil es den beiden genannten Arten der Erörterung immer nur auf die Klärung des Sinnes eines gegebenen Rechtes ankommt, ihnen beiden es aber gleichmäßig zu eigen sein kann, daß sie ihre Aufgabe  bloß technisch  auffassen und ihr beschränktes Ziel wie ein unbedingtes Gesetz nehmen. Das Einschalten der konkreten Einzelzwecke, die bei der Setzung von bestimmtem Recht sich maßgeblich erwiesen haben, vermag an jener Begrenzung auf bloß technische Arbeit umso weniger etwas zu ändern, als sie dort ja auch nur als Tatsachen hingenommen werden. In der Gestalt, in der sie auftraten und da waren, hält man sie fest: nicht, um sie in das Ganze der teleologischen Gesetzmäßigkeit einzuschmelzen und in der Einheit dieser zu richten und zu bestimmen, sondern weil man sie als Handlanger anstellt, damit sie einen etwa zweifelhaften Sinn von positiver Satzung ins Klare bringen, dann aber gehen möchten.

Das hilft jedoch dem Zweifel nicht ab: Wozu eigentlich die spezifisch juristische Tätigkeit gut sei? Darauf muß sich doch ein befriedigender Bescheid aus dem Ganzen der menschlichen Geistesarbeit her ableiten lassen; in welches Ganze dann freilich das dem Juristen eigentümliche Tun geschlossen einzufügen wäre. Wer eine solche Besinnung trotzig ablehnen und gar die Auskunft versuchen wollte, daß jene zu seiner, des Rechtsgelehrten, Aufabe nicht zähle, der ist jedem radikalen Angriff auf die Würde und den Wert seiner Mühewaltung schutzlos ausgesetzt und gegen eine grundsätzliche Bezweiflung ohne Wehr und Waffen.

Man hat häufig und bitter über die mangelnde Popularität der spezifisch juristischen Arbeit geklagt, auch wohl von einer Entfremdung zwischen Juristen und Volk gesprochen; aber dabei, wie es scheint, den wahren Grund jener gesellschaftlichen Erscheinung nicht getroffen. Denn dieser kann in sachlichem Betracht kein anderer sein, als die  Isolierung  der Jurisprudenz in ihrer Eigenschaft als  technischer  Rechtslehre.

Da sie diese ihre technische Aufgabe zu einem kleinen unbedingten Prinzip erhob und sich und ihren Gegenstand nicht mehr als dienendes Glied im Ganzen des sozialen Daseins empfand, so mußte sie notwendig die Fühlung mit dem gesamten Geistesleben der Mitwelt einbüßen. Und diese positive Einengung wiederum ist es, welche das Wort LUTHERs stehen läßt: "Ein Jurist, der nicht mehr denn ein Jurist ist, ist ein arm Ding!"

Vergebens schlägt man den seltsamen Ausweg vor, den sonstwie Arbeitenden größere juristische Kenntnisse zu verschaffen, um damit die Kluft, die genannt wurde, auszufüllen. Aber wer sich der Einsamkeit ergibt und nun doch nicht gerne allein ist, tut nicht sehr logisch, wenn er zu sich, dem Einsiedler, das andere Volk hinausruft.

Nicht der Mangel an Kenntnissen positiver Rechtsbestimmungen hat jene Entfremdung bewirkt, so daß sie mit der Vermehrung des juristischen Wissens verschwinden müßte; sondern die Behandlung des gesetzten Rechtes und seiner Lehre als  Selbstzweck  ist die Ursache des Zwiespaltes. Und bei diesem Gegensatz ist derjenige, der das Mittel zum Endziel macht, im Unrecht.

Nimmermehr kann er dem genügend ausweichen durch eine etwaige Personalunion mit anderen geistigen Interessen. Das ginge bloße seine Person an; und würde der Sache nicht frommen, von der hier die Rede ist.

Sonach gilt es, die juristische Betrachtung wieder harmonisch in die Einheit unseres wollenden Bewußtseins einzufügen und im Reich der Zwecke dem Recht seine gute Stellung anzuweisen. Es ist zu lehren: Unter welchen Bedingungen ein Rechtsinhalt das richtige Mittel zum rechten Ziel sei; in was für einer Methode man dessen habhaft werden könne; - und wie eine praktische Durchführung dieses Wollens möglich erscheine.

So tritt neben die vorbereitende Tätigkeit der bloß technischen Jurisprudenz ergänzend und vollenden die theoretische Rechtslehre.


II.
Von der theoretischen Rechtslehre

Bei der Unterscheidung von zwei Arten der Rechtslehre darf  nicht  an eine Verschiedenheit  des behandelten Stoffes  gedacht werden. Beide Richtungen der Betrachtung haben vielmehr mit der gleichen Sache zu tun; es ist allemal  ein und derselbe Stoff,  der ihnen gemeinsam sich bietet: Es steht für beide nur eine Behandlung  geltenden Rechts  in Frage.

Das ist vor allem für die  theoretische  Rechtslehre festzuhalten. Sie will  nicht  ein  ideales  Rechtsbuch entwerfen; sondern hat nur die Absicht,  geschichtlich  werdendes  Recht  zu bearbeiten. Und sie geht  nicht  auf Ersinnung besonderer rechtlicher Satzungen durch bloßes Denken; ihr ist vielmehr  jedes in der Erfahrung mögliche  Recht ein Gegenstand der Untersuchung und auf eine eigentümliche Art der Erzeugung des Rechts kommt es ihr gar nicht an. Wer das Wesen der  theoretischen  Rechtslehre in ihrem Verhältnis zur  technischen  zutreffend erfassen will, muß von vornherein den Gedanken ablehnen, als ob es dabei auf einen Gegensatz in  der Genesis  des Rechts hinausliefe: als wenn die technische Rechtslehre vielleicht mit einem Recht arbeite, das innerhalb der geschichtlichen Erfahrung geboren werde und die Theorie eine rechtliche Ordnung ins Auge fasse, die sonst woher gekommen sei. Nein, mit Rücksicht auf  die Entstehung  des Rechts ist gar kein Unterschied zwischen den beiden Arten seiner Lehre.

Die mögliche Einteilung, von der wir sprechen, wird durch  die verschiedene Richtung der Untersuchung  gegeben. Es ist ein Unterschied in  der formalen Behandlung  eines und desselben Gegenstandes, des geschichtlich entstehenden Rechts, der hier eingebracht und durchgeführt werden soll.

Während die  technische  Behandlung, wie früher ausgeführt wurde, das gesetzte Recht in seiner besonderen Bestimmtheit  nach Art eines Endzwecks  aufnimmt, so will die  theoretische  Erwägung jede bedingte Satzung  in ihrer Eigenschaft als Mittel  erfassen. Sie fragt deshalb nach  dem sachlichen Wert  des angewandten Mittels; und unternimmt es,  den Inhalt  der rechtlichen  Normen zu richten  - in des Wortes doppelter Bedeutung.

Wer wollte auch, bei rechtem Bedenken, dieser Frage scheu ausweichen? - Nun kommt es darauf an, ihre Lösung im weiteren nicht einer persönlichen Eingebung aus zufällig zusammengerafften Eindrücken zu überlassen, sondern  die Methode  zu finden und zu lehren und zu üben, nach der es möglich ist,  einen kritischen begründeten Beweis  für die jeweils erteilte Antwort mit objektiver Überzeugungskraft zu bringen.

Sobald man nun  den Inhalt  von menschlichem  Wollen richtet,  so wird als Maßstab und Ziel unvermeidlich ein solcher Willensinhalt gesetzt, der das Prädikat  richtig  verdient. Da es sich beim  Recht  um jenes handelt, so erhalten wir als Problem  die Lehre vom richtigen Recht. 

Im Sinne einer theoretischen Rechtslehre ist die Aufgabe zu stellen: in welcher Weise sich methodisch gesichert feststellen läßt, ob der Inhalt von bestimmten rechtlichen Satzungen  richtig  ist oder nicht; und welche andere Rechtsnorm statt dessen gerade in der besonderen Lage des gegebenen Falles der Forderung nach einer  objektiv begründeten  Anordnung entspricht?

Die theoretische Rechtslehre ist mithin eine  Methodenlehre.  Indem sie, ebenso wie die technische Betrachtung, als Stoff ein in der Erfahrung werdendes Recht nimmt, so untersucht sie ihn doch in einer selbständigen Richtung; und bedarf für den Ausbau dieser Gedankenreihe einer festen Lehrart. Freilich nicht bloß einer solchen, welche eine allgemeine Möglichkeit kritischer Billigung oder Verwerfung gewähren kann, sondern auch einer grundsätzlichen Anweisung, nach welcher sich in positiver Art das richtige Recht für einen besonderen Fall angeben läßt.

In welchem Gang der Überlegung wird sich nun diese Methode herausschälen lassen?

Die Antwort liegt in  der Vermeidung eines inneren Widerspruches. 

Es darf richtiger Weise kein Verhalten gebilligt werden, dessen Verallgemeinerung den Grundgedanken der rechtlichen Gemeinschaft aufheben würde. Vielmehr ist das Zusammenleben so zu ordnen, daß es in jedem besonderen Fall mit dem Endzweck des Rechts in Einklang steht.  Fac ea,  lautet ein bekannter Satz des THOMASIUS,  quae finem cuiusque societas necessario promovent, et omitte ea, quae istum necessario turbant. 

Danach ist also überall die Untersuchung auf das Grundgesetz des Rechts zu richten; und eine Lehre davon zu geben, wie sich zusammenhängend von der Gesetzmäßigkeit des Rechts als solcher für die Frage des einzelnen Falles eine ununterbrochene Ableitung vornehmen läßt.

Und es ergibt sich die Bestimmung:  Richtiges Recht ist dasjenige Recht, welches in einer besonderen Lage mit dem Grundgedanken des Rechts überhaupt zusammenstimmt. 

Nun wird sich auch die Beziehung der beiden Arten von Rechtslehren, die oben beschrieben wurden, in ihrer Trennung und andererseits ihrem schließlichen Zusammenwirken deutlicher machen lassen. Sie haben nach den gegebenen Darlegungen den gleichen Stoff zu behandeln und nehmen ihn nur in verschiedener Richtung in Untersuchung, indem sie ihn entweder bloß technisch zergliedern und danach darstellen oder aber denselben weiterhin als Glied einer Kette nehmen, die sich im Mechanismus der Mittel unter dem obersten Gesetz des Wollens bildet. Somit kann es nicht anders sein, als daß die beiden Bearbeitungen des gleichen Gegenstandes miteinander in einheitliche Verbindung gebracht werden.

Die technische Jurisprudenz erscheint danach als die Bedingung für die Erlangung richtigen Rechts; und zwar als eine notwendige Vorbedingung. Nichts wäre verkehrter, als aus der Klarlegung des in jedem Zeitpunkt begrenzten Ziels eine Geringschätzung der technischen Rechtslehre herleiten zu wollen. Ihre Arbeit, die scharf Durchleuchtung des empirischen Rechtsstoffes, seine Versetzung in Ordnung und konkrete Einheit ist eine unentbehrlich Vorstufe für die theoretische Rechtslehre mit der beschriebenen Aufgabe des richtigen Rechts. Ehe nicht der Inhalt einer rechtlichen Gesetzgebung in seinem wirklichen Wollen deutlich gemacht ist, kann an eine richtige Bestimmung des sachlichen Wertes selbstredend nicht herangetreten werden.

Andererseits gibt es keine zweite Möglichkeit, die Berechtigung für das Dasein der technisch juristischen Tätigkeit darzutun, als diese, daß sie die unumgängliche Bedingung  des richtigen Rechtes ist.  Jeder andere Versuch eines dahin gehenden Beweises und eines dem entsprechenden Maßstab für den Wert und die sachliche Bedeutung einer rechtswissenschaftlichen Arbeit muß notwendig in sich scheitern.

Lobt man ein Gesetzbuch oder eine lehrende Darstellung wegen der Klarheit und Schärfe und vielleicht des tiefen Eindringens in den Sinn von bestimmter positiver Rechtsordnung, so verbleibt man selbstverständlich nur  innerhalb  der technischen Rechtslehre selbst und hat jene Rechtsschöpfung oder Untersuchung,  gerade weil sie wegen ihrer technischen Leistung gerühmt wurde,  noch gar nicht als bedeutungsvoll für den geistigen Fortschritt der Menschheit erwiesen. Dazu ist nötig, daß sich jene Arbeit als brauchbares Mittel in das Ganze dieser Entwicklung inhaltlich einstellt; daß sie sich als unentbehrliches Rüstzeug für einen  guten  Zustand des sozialen Leben erweist; - was durch die Erkenntnis  ihrer formalen Notwendigkeit zur Erlangung des richtigen Rechts  geschieht, aber nicht anders.

Sehr zu Unrecht hat man es wohl mit einer Bezugnahme auf eine  praktische  Brauchbarkeit versucht. Denn  Theorie  und  Praxis  können sich in klarer Weise nur als  Lehre  und als  Anwendung  unterscheiden, nicht aber durch einen grundlegenden sachlichen Gesichtspunkt; wie es bei  Theorie  und  Technik  nach den oben gegebenen Darlegungen allerdings der Fall ist. So gibt es (man hat das in früheren Zeiten längst erwiesen) kaum einen dürftigeren Satz, als den Ausspruch, daß etwas wohl in der Theorie gut sein mag, für die Praxis aber nicht tauge. Denn ob etwas nicht  taugt,  das will doch gerade dahin  bewiesen  sein, daß es nicht das richtige Mittel zu rechten Zwecken ist; muß also auch wieder durch  theoretische  Erwägung erhärtet werden. Dabei mag der Versuch einer anwendenden Betätigung wohl die Anregung dazu geben, die frühere theoretische Lehre als  unrichtig  zu erkennen. Niemals aber ist es möglich, daß die Praxis für sich  einen zweiten und selbständigen  Maßstab der sachlichen Berechtigung eines Tuns liefert.

Sonach gibt es für die  technische  Jurisprudenz keinen anderen Weg, ihre Existenzberechtigung und den etwaigen inneren Werte des Inhalts ihrer Arbeiten darzutun, denn als Mittel und notwendige Bedingung für die Durchführung der  theoretischen  Rechtslehre in ihrem Streben nach  dem richtigen Recht. 

Hierdurch schiebt sie sich in die Einheit des wollenden Bewußtseins harmonisch nützend ein. In diesem Gedanken verliert sie die Isolierung und gewinnt den Anschluß an das Ganze wieder. Nun vermag sie in ihrer Einzelarbeit den Fehler der Überschätzung des Positiven zu vermeiden, welcher sie notwendig in Konflikt mit jedem bringen muß, der nicht geneigt ist, den schlimmen Gedanken eines unbedingten Wollens mitzumachen. Ihre Ergebnisse werden alsdann, in besserer grundsätzlicher Befestigung, als früher, auch in ihrer besonderen Ausgestaltung nichts verlieren können.

Ich schließe diese Einführung mit den Worten SCHILLERs aus seiner akademischen Antrittsrede:
    "Beklagenswerter Mensch, der im Reich der vollkommensten Freiheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt! - Noch beklagenswerter aber ist der Mann, der sich überreden ließ, für seinen künftigen Beruf mit dieser kümmerlichen Genauigkeit zu sammeln ... Als Bruchstück erscheint ihm jetzt alles, was er tut, er sieht keinen Zweck seines Wirkens und doch kann er Zwecklosigkeit nicht ertragen ... Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen. Dem Rechtsgelehrten entleidet [verleidet - wp] seine Rechtswissenschaft, sobald der Schimmer besserer Kultur ihre Blößen ihm beleuchtet, anstatt daß er jetzt streben sollte, ein neuer Schöpfer derselben zu sein und den entdeckten Mangel aus innerer Fülle zu verbessern."
LITERATUR Rudolf Stammler, Die Lehre vom richtigen Recht, Berlin 1902