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(1856-1938) [mit NS-Vergangenheit] Wirtschaft und Recht [1/2]
Einleitung Idee einer Sozialphilosophie 1 Solange ich nicht weiß, was das Gerechte ist, hat es gute Wege, daß ich wissen sollte, ob es eine Tugend ist oder nicht, und ob der, welcher es an sich hat, nicht glückselig ist oder glückselig. - Platon Die Wissenschaft vom sozialen Leben der Menschen befindet sich heute in einer unsicheren und schwankenden Lage. Es ist diese grundgesetzliche Einsicht, auf die es hier ankommt. Alle exakte Einzelforschung hat nur dann einen wahrhaftigen Wert, wenn sie im abhängigen Zusammenhang mit einer allgemeingültigen Gesetzmäßigkeit steht und an einer allgemeingültigen Richtlinie der Erkenntnis geleitet ist. Ohne Beziehung auf eine solche grundlegende Gesetzmäßigkeit, auf einen einheitlichen objektiven Gesichtspunkt für alle Einzelbetrachtung, wäre die letztere außerstande, den Beweis für ihre Existenzberechtigung zu erbringen. Und es ist nicht nur eine notwendige persönliche Einsicht vom Wert und der Würde dessen, worum man sich müht, die den Forscher zwingen sollte, zur Tiefe hinabzusteigen und den objektiven Grundgesetzen seiner Erkenntnis nachzuspüren; sondern es wird durch jene vorhin genannte Beziehung auf die allgemeingültige Gesetzmäßigkeit wahrer Erkenntnis überhaupt, erst eine gefestigte Methode des Vorgehens in der Einzeluntersuchung möglich: Fehlt das Wissen jener Fundamentalgesetze, so muß jeder isolierte Versuch, an einem bestimmten Punkt eine aufhellende Wahrheit zu erhalten, in seiner Ausführung wie seinem Erfolg zufällig sein. Für die Sozialwissenschaft hat all das wohl ganz im besonderen zu gelten. Noch hat sie die rechte Methode nicht gefunden, mit der sie, so wie es namentlich in der mathematischen Naturwissenschaft möglich ist, im einzelnen sicher fortschreiten könnte, auch ohne sich überall die grundlegende Gesetzmäßigkeit ihrer Erkenntnis zu Bewußtsein zu bringen. Vielmehr können wir ein ständiges Tasten nach der rechten wissenschaftlichen Methode finden; wovon kaum eine gründlichere Untersuchung auf dem Gebiet der Jurisprudenz und Nationalökonomie frei zu sein vermag. Aber schon die richtige Art und Weise, in der man Einzelerkenntnis in den erwähnten Wissensgebieten sammeln soll, kan nur unter stützender Bezugnahme auf die Einsicht in einen allgemeingültigen gesetzmäßigen Zusammenhang aller besonderen hier mögliche Erkenntnisse dargelegt werden. Denn nur aus dem letzteren heraus kann deduziert werden, in welchem Sinn man überhaupt in sozialen Dingen beobachten und feststellen soll. Jede juristische Einzeluntersuchung beispielsweise, die überhaupt wissenschaftlichen Erkenntniswert beansprucht, muß sich in das Ganze einer einheitlichen Grundauffassung vom Wesen und Werden des Rechts einfügen. Sodann ist es klar, daß jedes Hinausgehen über eine festgestellte Einzelbeobachtung als solche und jeder Versuch, das konkret Wahrgenommene als gesetzmäßig darzutun, nur aufgrund der Annahme einer allgemeingültigen Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens Sinn und Bedeutung hat. So oft jemand, sei es de lege lata [nach geltendem Recht - wp] oder ferenda [nach zu machendem Recht - wp], einen Satz besonderen Inhalts aufstellt, mit der Behauptung, daß dieser notwendig sei: so hat er doch selbstverständlich ein allgemeines Gesetz angenommen, von dem jener Satz in seinem besonderen Inhalt die Eigenschaft der Notwendigkeit erst ableiten kann. Und wie der Physiologe allüberall das Kausalitätsgesetz in formaler Allgemeingültigkeit voraussetzt, Und jede naturgesetzliche Erkenntnis auf der Grundlage der allgemeinen Gesetzmäßigkeit in der Natur beruth, so muß das Gleiche in entsprechender Weise auch für die wissenschaftliche Erkenntnis des gesellschaftlichen Lebens der Menschen durchgeführt werden. Wer bei der Bildung von Rechtssätzen und Rechtsinstituten und in der Entwicklung des sozialen Lebens überhaupt gesetzmäßige Vorgänge festzustellen bestrebt ist, der legt besonderen Tatsachen im gesellschaftlichen Dasein der Menschen die Eigenschaft der Notwendigkeit bei; - so muß er doch auch Rede und Antwort darauf stehen: was er damit eigentlich sagen will? In welchem Sinn kann bei der Bildung neuen Rechts von Notwendigkeit gesprochen werden? Läßt sich eine allgemeine Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens der Menschen ebenso aufstellen und durchführen, wie die Gesetzmäßigkeit der Natur als Grundlage der Naturwissenschaft es ist; oder bestehen hier nicht vielleicht allgemeingültige Unterschiede? Inwieweit ist danach eine Übertragung oder parallele Anwendung naturwissenschaftlicher Begriffe und Methoden auf soziale Erkenntnis, insbesondere auf die Rechtswissenschaft, begründet und gerechtfertigt? Es wird gewiß keinen denkenden Juristen oder Nationalökonomen geben, dem nicht solche Fragen schon zur Sorge gediehen wären. Wird er doch, wie bemerkt, ganz unerläßlich, sobald er sich ein Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis in Selbständigkeit stecken will, auf die Frage nach der richtigen Methode, des rechten einheitlichen Verfahrens bei seiner Forschung gestoßen; und stellt sich doch nur zu leicht nach vollendeter Arbeit die zweifelnde Frage ein: Welchen Wert und welche Bedeutung hat nun das Ergebnis deiner Untersuchung im Ganzen unserer Wissenschaft? Aber zu der radikal durchgreifenden Fragestellung, nach der es sich hier um einen eigenen Gegenstand kritischer Beobachtung und Klarstellung, nämlich um die Gesetzmäßigkeit aller unserer Erkenntnis in sozialen Dingen handelt, ist man zumeist nicht ausreichend fortgeschritten. Das Gebiet der wissenschaftlichen Untersuchung ist weit und nicht leicht zu übersehen; wer in ihm ganz heimisch werden und es sicher beherrschen will, hat reiche und große Arbeit vor sich. Je schärfer und gewissenhafter er sie in Angriff nimmt, umso leichter bohrt er sich an einem bestimmten Einzelpunkt fest, um nach dessen Erledigung der Bearbeitung eines anderen anheim zu fallen. Je selbständiger er hierbei vorgeht, umso riesenhafter schwillt ihm die Aufgabe einer klaren Durcharbeitung seines Spezialfaches an. Kaum daß er noch einige Berührung mit den ihm zunächst Karrenden behält. - Was bleibt da übrig für ein Problem, das den Schatz positiver Einzelkenntnisse gar nicht mehrt, das keine Aussicht auf ein Wissen von besonderem geschichtlichem Inhalt bietet und sich mit der Ergründung der formalen Einheit dieses Wissens und von der grundsätzlichen Art dieser Einheit begnügt? Und doch braucht man eine Antwort auf dieses Problem, will man nicht in eine unsichere Zufälligkeit mit seiner ganzen forschenden Arbeit versinken. So ist die häufigste Erscheinung die, daß der einzelne für seinen, ich möchte sagen, Hausbedarf sich eine gewisse Grundauffassung nebenher zu beschaffen sucht, ohne daß man immer behaupten könnte, er habe tief genug gegraben, um ein solides Fundament seines wissenschaftlichen Gebäudes zu besitzen. Aber die ursprünglich vielleicht nur sehr von ungefähr aufgegriffene oder zusammengelesene theoretische Unterlage verhärtet sich ihm allgemach [allmählich - wp]: und in mannigfachen Auslassungen über wissenschaftliche Aufgaben und Methoden treten Richtungen und Schulen auf, um in parteiischer Zerrissenheit einander zu bekämpfen. Das ist aber kein Streit mehr, der die Akademie allein zu interessieren vermöchte. Die Frage nach der obersten Gesetzmäßigkeit, under der das soziale Leben in Abhängigkeit zu erkennen ist, mündet praktisch in die grundsätzliche Auffassung über das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft sofort aus; und von jener ersten prinzipiellen Einsicht hängt die Ergreifung und Lösung der Aufgabe von der Weiterbildung der Umwandlung und der Vervollkommnung unserer sozialen Ordnungen ab. Jede politische Partei, die sich nicht selbst zur Eintagsfliege verurteilen und sich durch die bloße Beschränkung auf konkrete Ziele den Todeskeim einpflanzen will, muß von einem festen Prinzip über Grund, Bestimmtheit und Aufgabe aller Gesellschaftsordnung ausgehen. In diesem Sinne werden die politischen Programme aufgestellt; oder sollten es doch sein, sofern sie logisch klar und begründet, sowie ehrlich und reell gemeint sind. Wenn es kein objektives Richtmaß des sozialen Lebens überhaupt gäbe, so könnte man über die einzelnen historisch auftretenden Gesellschaftsordnungen ein kritisch begründetes Urteil, welches dieselben billigen oder verwerfen wollte, gar nicht abgeben. Durch die wissenschaftliche Einsicht in die für das menschliche Gemeinschaftsleben überhaupt geltende Gesetzmäßigkeit ist daher die Möglichkeit bedingt, das menschliche Zusammenleben in einer jeweils besonderen geschichtlichen Lage gesetzmäßig zu gestalten und die Berechtigung bestimmter einzelner Bestrebungen objektiv überzeugend darzutun, indem die Entscheidung über konkrete sozialpolitische Fragen nicht mehr von einer dunkel gefühlten, d. h. zufällig zusammengerafften, Grundstimmung des betreffenden Subjektes aus zu treffen wäre, sondern nun nach dem Grundgesetz des sozialen Lebens gerichtet und bestimmt werden kann. (1) Das Ringen aber nach gesetzmäßiger Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens ist da; es läßt sich nicht verdecken, noch übersehen; - es heißt: die soziale Frage. - Aus allen diesen Erwägungen entsteht die Forderung einer Sozialphilosophie, das ist einer wissenschaftlichen Untersuchung darüber: Unter welcher grundlegenden formalen Gesetzmäßigkeit das soziale Leben der Menschen steht. Sie fragt danach, was sich für das gesellschaftliche Dasein von Menschen notwendig und allgemeingültig feststellen läßt. Ihr Ziel ist somit die Erkenntnis derjenigen Begriffe und Grundsätze, die für alles soziale Leben einheitlich gelten. Sie hat in ihrer Lehre von jedem besonderen Inhalt irgendeines geschichtlich gegebenen sozialen Daseins ganz zu abstrahieren; und geht auf eine systematische Einsicht in die Gesetzmäßigkeit; welche dem gesellschaftlichen Leben der Menschen überhaupt eignet. Alle bisherigen Systeme der Rechtsphilosophie stimmen in der Eigentümlichkeit überein, daß sie vom Begriff des Rechts, als einer letzten Einheit für die hier anzustellenden Erwägungen ausgehen. Die Gesetze PLATONs und das physei dikaion [Naturrecht - wp] des ARISTOTELES; das ius naturale sive divinum [göttliches Naturrecht - wp] der katholischen Kirche nicht minder, als das ius naturae ac gentium [Naturrecht der Nationen - wp] des GROTIUS, das Vernunftrecht, der contrat social und die gemeinsame Überzeugung der in rechtlicher Gemeinschaft Stehenden, sie alle mit ihren verschiedenen Abarten und Begleitern nehmen stets das Recht zum Angelpunkt und zum obersten Gegenstand ihrer Betrachtung. Sie vergleichen es wohl mit nachbarlichen Begriffen und grenzen es davon ab; suchen auch nach Beeinflussungen der rechtlichen Ordnung durch andere Faktoren des menschlichen Lebens und reden von einer "Wechselwirkung", in der es zur sozialen Wirtschaft stehe; - stets aber wird angenommen, daß es sich um ein selbständig letztes Objekt einer wissenschaftlichen Untersuchung handle. Dies aber ist nicht anders, als wenn jemand für eine theoretische Grundlegung der Naturerkenntnis den Begriff der Schwere zu seinem letzten Ausgangspunkt nehmen wollte. Andererseits geht es auch nicht an, mit der durchgängig üblichen Art der politischen Ökonomie den Begriff der Wirtschaft als einen obersten Begriff zu behandeln und ihn in selbständiger Weise zur letzten Unterlage einer sozialwissenschaftlichen Forschung einzusetzen. Es ist übel getan, von einem "wirtschaftlichen Leben" als einem eigenen und ansich unabhängigen Ding zu reden; das nun mit anderen Äußerungen des menschlichen Kulturlebens in Beziehung stände, von diesen sich Eingriffe gefallen lassen müßte und wiederum von seiner Art aus bestimmende Einflüsse zurückgäbe. (2) Es ist statt dessen nötig, mit der Untersuchung beim Begriff des sozialen Lebens selbst, als unserem letzten problematischen Gegenstand zu beginnen; bei dessen grundlegender Analyse erst dem Recht, wie der sozialen Wirtschaft ihre zutreffende Stellung im Ganzen des gesellschaftlichen Dasein der Menschen anzuweisen; - für dieses Ganze des sozialen Lebens aber die allgemeingültige Gesetzmäßigkeit zu bestimmen und kritisch zu begründen. Man hat doch den Begriff der sozialen Entwicklung, oder verwendet ihn wenigstens in Eigenart. Man spricht von einer Gesetzmäßigkeit in jener, überhaupt von sozialen Gesetzen; und geht dabei über die Sonderbetrachtung des Rechts wie über die der sozialen Wirtschaft als abgeschlossene Objekte hinaus. Sobald nun der Begriff der menschlichen Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens vorgebracht und erwogen wird, so muß deutlich sein, daß es sich dabei um einen Grundbegriff handelt, neben welchem sich derjenige der Rechtsordnung und der Sozialökonomie in dienender Stellung befinden. Denn sie beide rücken in verschiedener Art in die Erwägung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen ein; dieses letztere ist der Grundbegriff, hinter dem für die soziale Betrachtung ein weiterer nicht mehr ersichtlich ist, in welchem aber auch alle sozialen Einzelbegriffe, vor allem die angeführten Begriffe der rechtlichen Regel und der gesellschaftlichen Wirtschaft, ihre Wurzel und Stütze haben und sich in höherer Einheit zusammenfinden. Darum hat jede kritische Grundlegung der Sozialwissenschaft beim Begriff der menschlichen Gesellschaft und des sozialen Lebens überhaupt einzusetzen und hierfür eine begriffliche Klarlegung und gesetzmäßige Einsicht von allgemeingültigem Wert zu schaffen. In welcher Methode kann man nun eine solche Einsicht bewirken und die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens in einem überzeugenden Beweis aufrichten? Ich muß auch hier zunächst ein allgemein beliebtes Verfahren als nicht ausreichend ablehnen: dasjenige der Generalisation aus geschichtlichen Daten. Auf verschiedenen Wegen ist man bei solchen Verallgemeinerungen vorgegangen. Vor allem hat man zu allen Zeiten die Geschichte gern als Lehrmeisterin derartig nehmen wollen, daß aus ihr praktische Lehren und Maximen für den Staatsmann zu gewinnen seien. Indem man bestimmte historische Vorgänge als Äußerungen von allgemeineren gesetzmäßigen Gründen nimmt, so erhofft man in der Generalisation des Geschehenen zur Einsicht in die letzteren und dann zu deren praktischer Bedeutung für spätere und jetzige wie auch kommende Fragen des sozialen Lebens zu gelangen. So zog MACCHIAVELLI aus der römischen Geschichte nach LIVIUS nützliche Lehren für das spätere italienische Mittelalter; es verarbeitete besonders MONTESQUIEU ein reiches geschichtliches Material im gleichen Sinn; und es sind bis in die neueste Zeit Politiker und Nationalökonomien genauso vorgegangen, jene meist mahnend und warnend, letztere mehr lehrhaft nach der Formel: wenn sich diese und jene geschichtlichen Tatbestände zeigen, so folgt in der Regel in bedingter Abhängigkeit dies und das. Nun sollte von vornherein klar sein, daß bei jeder Verallgemeinerung, die man für bestimmte geschichtliche Erlebnisse vornimmt, eine oberste Einheit für das sich in der Menschengeschichte abrollende soziale Leben notwendig vorausgesetzt wird. Man kann doch nicht ins Blaue hinein "verallgemeinern"; sondern muß stets auf die Frage gefaßt sein: In welchem Sinn wird denn eigentlich diese Verallgemeinerung vorgenommen und mit welchem Recht wird generalisiert? Nach welchem einheitlichen Gesichtspunkt ist in den jeweils besonderen Fällen von Generalisationen bestimmter Beobachtungen verfahren worden? Geschieht es im Sinne der Kausalität oder in dem der Zweckidee; warum das eine oder das andere, und in welchem Sinne jedes des weiteren? Jede Verallgemeinerung trägt in die generalisierte Einzelwahrnehmung den Gedanken der Notwendigkeit, unter der das Verallgemeinerte steht. Nur durch die nähere Bestimmung der notwendigen Bedingtheit des einzelnen kann dessen Erkenntnis in den Rang einer allgemeinen Lehre erhoben werden. Wenn also soziale Lehren in ihrer Verallgemeinerung beweisende Kraft haben sollen, so müssen sie in formal einheitlicher Art und Weise, unter Verwendung allgemein zugrunde gelegter Begriffe und gestützt auf eine einheitliche Grundauffassung des sozialen Lebens und seiner Entwicklung auftreten. Alle Generalisationen geschichtlicher Tatsachen setzen die rechte Art, in der verallgemeinert werden darf, also eine formale allgemeingültige Gesetzmäßigkeit sozialgeschichtlicher Erkenntnis bereits voraus. Dann muß es aber auch möglich sein, diese oberste formale Gesetzmäßigkeit, unter der die einzelnen Generalisationen stehen müssen, wenn sie wissenschaftliche Wahrheit sollen beanspruchen können, für sich in Selbstbesinnung zu erkennen. Man muß - um mein vorhin gebrauchtes Beispiel zu wiederholen - vor allem darüber klar sehen, welches die berechtigte Anwendung des Kausalitätsgesetzes im sozialen Leben ist; gegründet, wie erwähnt, auf eine sichere Erkenntnis vom Begriff des menschlichen Gesellschaftslebens und der sozialen Erscheinungen überhaupt. Und es ist erforderlich, daß man allgemeingültig einsehe, wo und wie die teleologische Betrachtung hier einzusetzen habe. Durch die Vergleichung verschiedener Rechtsordnungen und einander ähnlicher Institute in solchen erhält man an und für sich nur die Möglichkeit, die mehreren verglichenen Objekte, jedes für sich, genauer und schärfer zu erfassen. Man kann sich des einzelnen, das man mit anderem vergleichend zusammenhält, sicherer und klarer bewußt werden. Aber ein selbständiges Drittes über den beiden vergleichenen Objekten erhält man durch die bloße Vergleichung allein noch gar nicht. Soll der Zustand der Isoliertheit gewonnener Einzelerkenntnisse schwinden, und eine Zusammenfassung derselben in einer höheren Einheit stattfinden, so muß doch eine gesetzmäßige formale Möglichkeit einer solchen Zusammenziehung als Unterlage genommen werden; es muß ein einheitliches fundamentales Verfahren stattfinden, in dessen übereinstimmender Anwendung eine gesetzmäßige Einsicht in den Gang der Rechtsentwicklung möglich ist. So lautet unsere Frage: Wie hat eine allgemeingültige Synthesis sozialgeschichtlicher Einzelerkenntnisse in einem obersten einheitlichen Verfahren zu geschehen? Die Angabe KOHLERs, daß "der Schlüssel der ganzen Entwicklung ein immananter Trieb der Völker ist, welcher sie unbewußt zum Fortschritt leitet," kann nicht als genügende Antwort auf unsere Frage genommen werden. (3) So wenig, wie die Fassung JHERINGs es für die Rechtsentwicklung im speziellen vollbringt, wenn sie in dieser dem historischen Recht gegenüber "die Heiligkeit des ewigen Urrechts der Menschheit auf das Werden" aufstellt und als Idee des Rechts "ewiges Werden" bemerkt. (4) Das gibt nichts, als eine unerwünschte Phraseologie; die auch sehr leicht da wiederkehrt, wo man gemeint hat, das Problem der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens durch eine allgemeine Charakterisierung größerer geschichtlicher Epochen und allgemeine Räsonnement über Individualismus und Altruismus, etwa im Stile CARLYLEs, hintanzuhalten. Indem ich darauf nicht näher eingehe, wiederhole ich nur, daß ein solches Vorgehen, soweit es objektiven Wert haben kann, selbstverständlich doch auch auf dem Grund einer formal einheitlichen Erwägung über die wissenschaftlich berechtigte Art, Begriffe und Gesetze der sozialen Menschengeschichte aufzustellen, abhängig ruht. Wer in allgemeiner Weise eine bestimmte Periode des sozialen Menschendaseins kennzeichen und beurteilen will, setzt natürlich - wenngleich vielleicht ihm selbst unbewußt - eine wissenschaftliche Möglichkeit voraus, derartiges vom menschlichen Gesellschaftsleben überhaupt berechtigtermaßen tun zu dürfen; seine Charakterisierung der einzelnen Epoche, und sie diese noch so lange ausgedehnt, bedeutet nur eine Anwendung allgemeingültiger Sozialphilosophie für diese bestimmte Zeitspanne. So erhebt sich immer wieder die Frage nach dem prinzipiellen Charakter der sozialen Wissenschaft und nach dem notwendigen methodischen Vorgehen, nach welchem allein in begründeter Art Gesetzmäßigkeit im gesellschaftlichen Dasein der Menschen erkannt werden kann. Darum kann auch der von der Sozialphilosophie gestellten Aufgabe die allgemeine Rechtslehre keineswegs genügen. Man versteht darunter eine Disziplin, die zweierlei zu erfüllen hätte: die juristischen Teilwissenschaften zu ergänzen durch die Erforschung und Bearbeitung dessen, was den verschiedenen Teilen der Jurisprudenz gemeinsam ist; sodann aber die allgemeinen Gesetze der Entwicklung des Rechts klarzustellen. (5) Das erste Ziel, dessen Verfolgung sich lediglich durch die äußere Tatsache einer weit getriebenen Arbeitsteilung der Juristen nötig gemacht hat, ist für Wunsch und Streben nach allgemeingültiger Erkenntnis zunächst noch irrelevant und kann hier auf sich beruhen bleiben. Das zweite aber redet doch wieder von allgemeinen Gesetzen. Aber was ist ein allgemeines Gesetz der Rechtsentwicklung? - Die Bearbeiter der allgemeinen Rechtslehre nehmen diesen Begriff in ungerechtfertigter Sorglosigkeit als ein sicheres Ziel mit nicht zu verfehlendem Weg dazu an. Das bedeutet eine Selbsttäuschung. Der Begriff der sozialen Gesetzmäßigkeit ist keineswegs ein so einfacher, daß er sich jedem ohne scharfes Nachdenken leicht und, wie man sagt, von selber einstellen würde. Diesem obersten Begriff muß aber doch jedes einzelne Gesetz der Rechtsentwicklung kongruent sein. Nun hegt man vielfach die Ansicht, als ob durch exakte Induktion gesschichtlicher Rechtserfahrungen die letzten Grundbegriffe und die Grundgesetze der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis klargelegt werden müßten. Das ist jedoch ein Irrtum. Denn bei der Induktion werden die eben genannten fundamentalen Erkenntnisse notwendig schon vorausgesetzt. Ich werde hierfür ein Beispiel geben. Wenn etwa die allgemeine Rechtslehre beobachtet, in welchen Kreisen und Menschengruppen und durch welche Vorgänge in der Geschichte Recht entstanden ist, und wenn sie durch dieses gehäufte Nebeneinanderstellen solcher Bildungen rechtlicher Sätze ein Entwicklungsgesetz von verhältnismäßiger Allgemeinheit zu erlangen gedenkt: so hat sie doch den Begriff des Rechts dabei vorausgesetzt. Und da es zweifellos ist, daß unendlich oft im Laufe der Geschichte neues Recht entstanden ist, ohne daß die darüber geltenden Rechtsnormen beobachtet wurden, so entsteht die Frage: Woran erkennt man überhaupt, ob ein sozialer Befehl Recht ist? Wodurch unterscheidet sich ein Machtbefehl, welcher willkürliche Gewalt darstellt und als solche dauernd verbleibt, von einem rechtsbrechenden Gebot, das zum Recht wird? - Die Antwort auf solche Fragen kann durch eine induktive Betrachtung verschiedenartiger Vorgänge, in denen Recht entstanden ist, nicht gegeben werden. Denn hierbei ist der Begriff Recht in jedem einzelnen der durchforschten Vorgänge schon vorausgenommen; die Frage der Induktion ist diejenige nach einem übereinstimmenden Inhalt der Ereignisse, welche in gleicher Weise rechtliche Satzungen hervorgebracht haben. Da aber diese letzte, daß nämlich Recht geschaffen worden sei, bei jedem der induktiv erwogenen Tatbestände bereits feststand, als man sie zum Zweck einer vergleichenden Untersuchung zusammentrug, so kann aus der letzteren der Begriff des Rechts auch nicht gewonnen werden. Andererseits wird der Begriff des Rechts von allen Seiten mit Fug als ein allgemeingültiger Begriff der sozialen Erkenntnis erachtet und so behandelt. Man könnte ja gar nicht davon reden, daß der Inhalt der einzelnen Rechtsordnungen im Laufe der Geschichte beständig wechsle, wenn nicht als einheitliche formale Unterlage der Begriff des Rechts genommen werde. Folglich muß die Einsicht in das Wesen und die Bedeutung des allgemeingültigen Rechtsbegriffs auf einem anderen Weg gewonnen werden, als durch das Nebeneinanderstellen verschiedener einzelner Anwendungen jenes Begriffes, die man als solche gar nicht haben würde, wenn der Begriff des Rechts nicht schon als logisches Prius vor ihnen feststände. Die einzelne Rechtserfahrung ist in einer klaren Erfassung vom allgemeingültigen Begriff des Rechts abhängig, nicht umgekehrt. Der Begriff des Rechts ist vielmehr ganz unabhängig von dieser oder jener besonderen Anwendung innerhalb einer konkreten Erfahrung. Er kann nicht von besonderen Rechtserfahrungen abgezogen werden, da jede derselben durch ihn überhaupt erst ermöglicht wird. Bei jeder einzelnen läßt sich die Zweifelsfrage erheben: Mit welchem Fug nennt ihr dieses eine Rechts erfahrung? Und dann kann eine befriedigende Antwort nur durch die Bezugnahme auf den in eigener Methode deduzierten allgemeingültigen Begriff des Rechts erteilt werden. Welches diese notwendig einzuhaltend Methode der sozialphilosophischen Untersuchung ist, wird gleich des näheren auszuführen sein. Ich bemerke zuvor noch: Nicht anders, als mit dem Gesagten, steht es mit der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens im Ganzen, zu deren Ausführung das Recht nur eine Grundbedingung sein kann. Was hat man unter dem genannten Begriff zu verstehen? Wenn man meint, diese Frage durch ein prüfendes Nebeneinanderstellen mehrere Fälle entscheiden zu können, in denen gesetzmäßige Erscheinungen im geschichtlichen Leben beobachtet worden sind, - so würde ich wieder fragen: Woher man denn wisse, daß eine derartige Einzelerscheinung die Eigenschaft der Gesetzmäßigkeit besitzt? Die bloße Induktion vieler Einzelbeobachtungen kann die Grundbegriffe und die grundlegende Gesetzmäßigkeit der beobachteten Vorgänge nicht liefern. Die fundamentalen Bedingungen der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis sind für sich in besonders gearteter Methode zu ergründen. Die modernen Juristen, die außer der allgemeinen Rechtslehre keine Untersuchung von allgemeingültiger Bedeutung gelten lassen wollen, und die meinen, daß man ausschließlich in induktiver Nebeneinanderstellung von einzelnen Erfahrungen die obersten Begriffe und allgemeingültigen Grundsätze erhalten könne, gleichen unbewußt den alten Naturphilosophen, welche den Begriff und die Gesetze der Wärme durch eine gehäufte Nebeneinanderstellung warmer Objekte - das Blut des Menschen, Feuer im Ofen, frische Pferdeäpfel, die Strahlen der Sonne etc. - finden zu können glaubten. Statt dessen postuliere ich das selbständige Nebeneinanderbestehen der beiden Disziplinen der Sozialphilosphie und der allgemeinen Rechtslehre; und die Berechtigung beider, einer jeden in ihrer Art. Die erste hat davon zu handeln: in welchem Sinne eine Gesetzmäßigkeit in der Erkenntnis des sozialen Lebens überhaupt möglich ist. Sie geht, wie wir oben sagten, auf Klärung und Darlegung der Begriffe und Grundsätze, die notwendig und allgemeingültig für alle Sozialwissenschaft sind. Ihre Lehre muß von allem besonderen Inhalt von Rechtsordnungen gänzlich abstrahieren und kann als Darstellung der obersten sozialen Gesetzmäßigkeit und der hierbei verwendeten Begriffe nur eine formale Einsicht in das gesellschaftliche Dasein der Menschen als solchem liefern. Die an zweiter Stelle genannte Lehre würde inhaltlich ausgeführte Gesetze suchen. Sie würde es (in der zweiten ihrer oben angeführten Aufgaben) mit dem gesetzmäßigen Inhalt geschichtlicher Rechtsordnungen zu tun haben, soweit sich ein solcher Inhalt über die einzelne Rechtsordnung hinaus beobachten läßt. Sie will eine verhältnismäßige Übereinstimmung im Inhalt geschichtlichen Geschehens auf dem Gebiet des Rechts als gesetzmäßig auffassen. Ihre besondere Aufgabe liegt also in der Durchforschung des Inhaltes einzelner gegebener Rechtsordnungen: die allgemeingültigen Grundbegriffe und die Eigenschaft der Gesetzmäßigkeit in den Ergebnissen ihrer Forschung müssen von der Sozialphilosophie hergenommen werden. Man kann es auch in nachstehender Weise ausdrücken. Objekt der Sozialphilosophie ist die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens der Menschen als solcher. Es ist diejenige Einheit für die Einzelerkenntnisse, durch deren jeweilige Erreichung die letzteren die Eigenschaft der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit erlangen. Es ist Darlegung und Deduktion der Grundbegriffe und fundamentalen Grundsätze sozialwissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt. - Gegenstand der allgemeinen Rechtslehre ist die gesetzmäßige Erfassung von übereinstimmendem Inhalt verschiedener Rechtsordnungen. Jene befaßt sich nur mit der formalen Qualität einer sozialen Erkenntnis als einer gesetzmäßigen; und hat es darum nur mit den für alles soziale Leben geltenden obersten Begriffen und Lehren zu tun. Die zweite ist ein Wissen von empirischem Stoff; bei dessen Proklamierung als eines gesetzmäßigen sie lediglich auf die vorausgesetzte Feststellung sozialer Gesetzmäßigkeit überhaupt angewiesen ist. Die Theorie der Sozialphilosophie muß strenge Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit aufweisen. Die Ergebnisse der allgemeinen Rechtslehre können in ihren inhaltlichen Bestandteilen immer nur komparative Allgemeinheit beanspruchen. So widersprechen sie sich keineswegs. Sie bilden im Gegenteil eine harmonische Ergänzung oder sollen dies doch tun. Und daß sie dabei einen verschiedenen Rang haben, und die besondere Rechtswahrheit von der Möglichkeit sozialer Wahrheit überhaupt abhängig ist, das darf unmöglich ihr friedliches Zusammenwirken befugtermaßen stören. Wohl aber sind die Gebiete ihrer forschenden Arbeit aus dem Grund sachlich gegeneinander abzustecken, weil wegen der verschiedenen Ziele, die wir eben nannten, die Methode der wissenschaftlichen Untersuchung bei beiden nicht die gleiche sein kann. Die allgemeine Rechtslehre mag sich auf ein bloß induktives Verfahren in concreto beschränken; sie darf es, sofern ihr die allgemeingültige Grundlegung sozialwissenschaftlicher Wahrheit überhaupt von der Sozialphilosophie geliefert wird, worauf sie dann im Sinne dieser Grundlegung in ihrer besonderen Aufgabe vorgehen kann. Die Sozialphilosophie dagegen kann gerade bei der Lieferung des Fundaments nicht ein Verfahren wählen, das selbst schon auf einer solchen Grundlegung aufbaut. Es ist nötig, die der Sozialphilosphie zufallende Methode erst einmal deutlich anzugeben. Die wissenschaftliche Einsicht, von der hier gehandelt wird, sucht - im Gegensatz zur Feststellung von sozialen Einzelwahrheiten - Dasjenige, was den einzelnen Erkenntnissen einen systematischen Zusammenhang in allgemeingültiger Notwendigkeit verleihen kann. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß das Aufstellen allgemein geltender Grundsätze, die Einbringung von Einzeldaten unter einheitliche Gesichtspunkte die Tat des menschlichen Bewußtseins ist. Die einheitliche Auffassung einzelner und wechselnder Erscheinungen, der wir den Namen des Gesetzes beilegen, fliegt uns nicht in mechanischer Weise an, - sie muß gesetzt werden; und sie wird gesetzt durch das menschliche Bewußtsein. Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens würde sonach eine einheitliche Erfassung des gesellschaftlichen Daseins der Menschen sein, eine oberste einheitliche Art, nach der alle sozialen Erscheinungen aufgefaßt und eingesehen werden. Die bewußte Einsicht in diese Gesetzmäßigkeit würde einen sicheren allgemeingültigen Leitfaden liefern, nach dem alle Einzelwahrnehmungen der sozialen Geschichte in übereinstimmender Weise aufgefaßt, beurteilt und gerichtet werden können. Darum ist die erste Forderung, die an eine wohlbegründete sozialphilosophische Untersuchung gestellt werden muß, diese: daß wir diejenigen Begriffe und Sätze, in denen wir unsere soziale Erkenntnis vollziehen, in ihrem Inhalt zergliedern und objektiv-logisch analysieren, um daraus die Eigentümlichkeit der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis, als einer Wissenschaft mit einem eigenen Gegenstand und eigenartigem Erkenntnisinhalt, klarzustellen. Wer von Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens, von gesellschaftlicher Entwicklung, von sozialen Schäden und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von deren Heilung spricht, wer die Gesetze der sozialökonomischen Phänomene aufbringt, von sozialen Konflikten handelt und an einen Fortschritt im gesellschaftlichen Dasein der Menschen glaubt oder ihn leugnen will, - ein solcher muß sich, bei Meidung irrelevanten subjektiven Geredes, vor allem über die Besonderheiten der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis Klarheit verschaffen. Es soll doch eine besondere Erkenntnis vom sozialen Leben der Menschen mit wissenschaftlichem Charakter, das ist in einheitlicher Auffassung desselben, sein. Nun gut, was ist denn dieses soziale Leben; was macht dessen Eigentümlichkeit aus und konstituiert uns diesen Begriff als einen eigenen Gegenstand unserer Erkenntnis? Was kann verständigerweise unter einem sozialen Phänomen begriffen werden? Und welche begrifflichen Einzelelemente des sozialen Daseins der Menschen ergeben sich der logischen Analyse weiterhin, - und wie ist ihr Verhältnis untereinander? Die Wissenschaft vom sozialen Leben der Menschen will von einer bloßen Erkenntnis der äußeren Natur verschieden sein. Es ist in jenem ein sicher empfundenes eigenes Objekt für menschliche Einsicht gegeben. Indem wir die allgemeinen Begriffe, die hier notwendig auftreten, nach ihrem Erkenntnisinhalt zergliedern, so werden wir demnach zuzusehen haben, durch welche begrifflichen Elemente die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlichen Erkenntnis, gegenüber der bloßen Naturbetrachtung, überhaupt geliefert wird; welche von ihnen das soziale Leben als einen eigenen Gegenstand unserer Erkenntnis allererst konstituieren. Diese Vorarbeit ist unerläßlich. Erst auf deren gesicherten Ergebnissen kann die weitere Nachforschung nach der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens aufgenommen werden. Wer Gesetze des menschlichen Gesellschaftslebens aufstellen will, muß vorher Klarheit über die allgemeinen Erkenntnisbedingungen besitzen, unter denen alle soziale Wissenschaft in ihrer Eigenart notwendig steht. Nur bei begründeter Einsicht in diese allgemeingültigen Erkenntnisbedingungen der Gesellschaftswissenschaft kann der prinzipielle Charakter einer hier möglichen Gesetzmäßigkeit sicher und zutreffend bestimmt werden. Das Problem der sozialen Gesetzmäßigkeit besteht in der Aufgabe, im Wechselvollen des sozialen Lebens Einheit herzustellen. Die prinzipielle Frage hiernach würde somit auf diejenigen bleibenden Bedingungen gehen, unter denen dieses allein möglich ist. Sie sind den Ergebnissen der vorhin genannten Voruntersuchung zu entnehmen, und zwar in folgerichtiger Verwertung derjenigen sozialen Grundbegriffe, die einen allgemeingültigen formalen Grundsatz des sozialen Lebens als eine grundlegende Einheit desselben in einem notwendigen Schluß ergibt. Es ist, wie man auch sagen kann, mit Hilfe der systematischen Zergliederung unserer sozialen Begriffe derjenige Grundsatz herauszufinden, unter dessen bewußter Festhaltung allein eine Einheit in den wechselvollen Bestrebungen des sozialen Lebens möglich ist. Dieser Forderung würde in formal-logischer Hinsicht die gleich näher zu erwähnende materialistische Geschichtsauffassung vollständig entsprechen, indem diese als Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens und danach als allgemeingültige Methode bei dessen wissenschaftlicher Erkenntnis die natürliche Abhängigkeit der Rechtsordnung, als der Form des gesellschaftlichen Lebens, von der sozialen Wirtschaft aufstellt; so daß eine Veränderung in den sozialökonomischen Phänomenen eine entsprechende Umwandlung des bisherigen Rechts notwendig bedingt. Ehe ich nun hierauf näher eingehe, möchte ich zweierlei Mißverständnis in wenigen Worten vorbeugen. Die Aufgabe, die wir uns gesteckt haben, ist eine erkenntniskritische, aber nicht eine psychologische. Unsere Absicht geht auf die Erkenntnis dessen, was sich in unbedingter Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit für alles soziale Leben der Menschen überhaupt feststellen läßt, ohne daß dabei auf den besonderen Inhalt irgendeines bestimmten gesellschaftlichen Daseins Rücksicht genommen werden soll. Wir suchen hierbei also als letztes Ziel einen obersten einheitlichen Gesichtspunkt für alles menschliche Gesellschaftsleben. Darum brauchen wir eine genaue Darlegung der fundamentalen Bedingungen, unter denen ein von uns zu erkennendes soziales Leben gesetzmäßig sein kann, das ist: unter einer obersten Einheit sozialwissenschaftlicher Betrachtung zu stehen vermag. So wie wir allgemein zwischen Ansichten von bloß subjektiver Bedeutung und zwischen Lehren von objektiver Geltung unterscheiden und den Irrtum von wissenschaftlicher Wahrheit gegenständlich trennen, so würden wir auch zwischen Auffassungen des sozialen Lebens von einem lediglich persönlichen Wert und zwischen einer sozialen Erkenntnis mit gegenständlichem Wahrheitswert einen Unterschied machen. Wir scheiden also einmal diejenigen aus, die mit ausschließlicher Einzelwahrnehmung in den Dingen des Menschenlebens und der sozialen Geschichte zufrieden sind. Aber es ist nicht recht glaubhaft, daß deren Zahl wirklich sehr bedeutend wäre. Auf eine Zusammenfassung der Einzelbeobachtungen zu einer allgemeingültigen Erkenntnis, zu demjenigen, was man gemeinhin eine Lebens- und Weltanschauung nennt, auf den Wunsch nach Einsicht in die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens kann ja unmöglich jemand verzichten, dem Würde und Wert seines Daseins lieb sind. Wollte er dann aber trotzig erklären: Das ist meine Ansicht; ob sie wahr ist, ob ihr Inhalt in einem überzeugenden Beweis als objektiv richtig dargetan werden kann, daran ist mir nichts gelegen, - so fragen wir: Was liegt an ihm? Weshalb belästigt er denn andere durch sein Gerede? Wer jedoch irgendwie von der Richtigkeit seiner methodisch begründeten Ansicht in sozialen Dingen einen anderen überzeugen will, der setzt die Möglichkeit einer gegenständlichen Beweisführung hier voraus. Diese kann aber nicht anders vorgenommen werden, als aufgrund einer allgemeingültigen Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens, wie wir sie nach Sinn und Bedeutung in den verschiedensten Gegensätzen seither beleuchtet haben. Sonach ist der Inhalt jeder sozialen Betrachtung entweder bloß subjektiv - sei es bewußtermaßen oder irrigerweise -, oder von einem gegenständlichen Wahrheitswert. Und da wir nun den Bedingungen dieser letztgenannten Alternative nachspüren wollen und in ihnen die formale Möglichkeit der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens zu finden gedenken, so hat sich die Untersuchung in einer objektiv-logischen Analyse des Erkenntnisinhaltes in Dingen des sozialen Lebens der menschen zu vollziehen, nicht aber in einer subjektiv-psychologischen Erwägung der Erkenntnisprozesse. Es ist etwas anderes, kritisch zu prüfen, unter welchen objektiven Erkenntnisbedingungen die Eigenschaft gegenständlicher Wahrheit einem bestimmten Inhalt unserer Vorstellungen zukommt; etwas anderes dagegen, beobachtend zuzusehen, in welcher psychologischen Entwickung der einzelne zu der gesetzmäßigen Erkenntnis gelangen mag. Das letztere setzt selbstverständlich jenes frühere voraus; wogegen die Frage nach den objektiven Bedingungen gesetzmäßiger Erkenntnis für sich zunächst gelöst werden kann. So werden wir uns, der schärferen Klarheit halber, in dieser Untersuchung auf das Problem eines gesetzmäßigen Inhalts sozialer Einsicht konzentrieren und daher nur die objektigen Bedingungen zu Rate ziehen, unter denen die Eigenschaft gegenständlicher Wahrheit einer sozialen Lehre zukommt. An zweiter Stelle möchte ich noch folgendes Mißverständnis ein für allemal fern halten. Das ist die Meinung, als ob unsere Absicht auf irgendein absolutes Unding ginge, welches irgendwo im Raum, aber außerhalb des geschichtlichen sozialen Lebens zeitlich vor diesem bestände. Davon ist gar keine Rede. Die Sozialphilosophie will in ihrer Lehre allerdings von jedem besonderen Inhalt der geschichtlichen Rechts- und Konventionalordnungen unabhängig sein. Aber ich sage nicht: unabhängig von den geschichtlichen Ordnungen, sondern: vom besonderen Inhalt einzelner historischer Satzungen. Sie sucht die allgemeingültige Gesetzmäßigkeit des in der Geschichte sich abrollenden sozialen Lebens. Diese Gesetzmäßigkeit steht doch selbstverständlich nicht außerhalb der historischen Gesellschaftsordnungen; sondern bedeutet die einheitliche und allgemeingültige Art ihrer Erkenntnis. Daß man es in allen Fragen der Sozialwissenschaft mit geschichtlichem Material zu tun hat, steht freilich außer allem Zweifel. Der Gegensatz der sozialphilosophen und der nur-historischen Lehre nicht im Material, sondern im Standpunkt und der Art und Weise der Betrachtung: Entweder man erforscht das Material mit dem Bestreben, darin Einheit und Gesetzmäßigkeit zu finden und muß dann über die letztere sich Klarheit verschaffen; oder man ist damit zufrieden, einzelnes exakt konstatiert zu haben und interessiert sich für soziales Leben lediglich dahin, daß und weil ein bestimmtes Ereignis wirklich geschehen ist. Die oberste Einheit für alle soziale Erkenntnis, daraus jedes einzelne soziale Gesetz und jede wissenschaftlich beweiskräftige Deduktion von sozialen Bestrebungen abhängig ist, muß also natürlich von allem besonderen Inhalt der sozialen Geschichte abstrahieren; denn da sie als Grundgesetz für alles soziale Leben gelten soll, so kann sich ihre Einsicht nicht auf Besonderheiten einzelner historischer Daten gründen. Aber da diese Einheit, als Grundgesetz des gesellschaftlichen Daseins der Menschen, den obersten Gesichtspunkt für die Untersuchung des sozialen Lebens abgeben soll, so ist es klar, daß diese Einheit des Mannigfaltigen und des Wechselvollen im sozialen Leben zeitlich nicht früher dagewesen sein kann, als dieses gesellschaftliche Leben selbst. Im Gegenteil ist der Verlauf der menschlichen Erkenntnis der zeitlichen Reihenfolge nach derjenige, daß sie mit Einzelwahrnehmung und besonderen Beobachtungen beginnt; erst späterhin kommt menschliches Nachdenken zu gesetzmäßiger Synthesis des Mannigfaltigen sozialer Wahrnehmungen und schließlich zum kritischen Aufspüren der allgemeingültigen Grundlage, auf der sich die Möglichkeit einer gesetzmäßigen Beobachtung menschlichen Gesellschaftslebens im einzelnen dann ergibt. Es besteht also nicht eine "absolute" Gesetzmäßigkeit, als ein irgendwelches mystisches Etwas, - und dann käme zeitlich später die Wirklichkeit des sozialen Lebens in einer unklaren Abhängigkeit von jenem Unding auf die Welt; - sondern mit der Einzelerfahrung fängt auch in sozialen Dingen all unsere Erkenntnis an. In der weiteren und schärferen Durchführung dieser kommt man dann erst, zeitlich hinterher, zur Einsicht in eine soziale Gesetzmäßigkeit, als der einheitlichen Erfassung von Einzelwahrnehmungen, und zum allgemeingültigen Prinzip dieser Gesetzmäßigkeit. Aber dem Rang nach geht diese zeitlich spätere sozialphilosophische Einsicht der sozialen Einzelerkenntnis unbedingt vor. Sie ist es, welche jedem besonderen Versuch eines inhaltlich spezialisierten sozialen Gesetzes Boden und Fundament erst bereitet und allen sozialen Bestrebungen, die sich als berechtigte dartun wollen, den Rechtstitel zu verleihen imstande ist. erst mit ihrer Hilfe vermag soziale Einzelerkenntnis zu einer legitimierten Stellung im Ganzen des Reiches wissenschaftlicher Einsicht zu gelangen. Darum gerade ist es nichts mit dem Einwurf, als ob die grundlegende Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens, als methodisches Prinzip für alle sozialwissenschaftliche Einsicht, durch ein Verfahren "a priori", gänzlich außerhalb aller Rücksichtnahme auf geschichtlich vorliegendes soziales Leben gefunden werden könnte. Nichts weniger als dieses: Unser Vorhaben setzt die genaueste Kenntnis des historischen Gesellschaftslebens der Menschen voraus. Das Objekt der Untersuchung ist nach ihm diese unsere Erkenntnis des geschichtlich vorliegenden sozialen Daseins von Menschen. Innerhalb dieses Wissens sozialer Geschichte unterscheiden wir aber die Erkenntnis von einzelnem wechselndem Material und die Einsicht dessen, was allgemeingültig und notwendig für alle soziale Erfahrung sein muß. Dieses letztere ist also gleichfalls in der wissenschaftlichen Erfahrungserkenntnis integrierend mitenthalten. Es kann daher auch nur durch eine Zergliederung des Inhaltes unserer sozialgeschichtlichen Erfahrung gefunden und festgestellt werden und durch die Klarlegung der Einheit derjenigen Bedingungen, welche eine soziale Wahrnehmung zur Wissenschaft erheben kann, zu einer Erkenntnis mit einem obersten einheitlichen Gesichtspunkt und danach einer allgemeingültigen Methode; - mitnichten aber durch irgendein mystisches Heraussaugen aus einer angeblich "rationalen" Erwägung. Es ist also die analytische Durchforschung der vorliegenden sozialen Erfahrung, die wir vornehmen; um dadurch die Gesetzmäßigkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, das grundlegende einheitliche Verfahren, das für sich in notwendiger Allgemeinheit gilt, klarzulegen. Aber freilich nicht vermöge eines tumultuarischen Nebeneinanderstellens, Vergleichens, Verallgemeinerns, sondern in dem Sinne, daß wir in der sozialgeschichtlichen Erfahrungserkenntnis diejenigen begrifflichen Elemente feststellen, unter deren einheitlicher Verwendung es allein möglich ist, alle soziale Betrachtung überhaupt in einer grundlegend übereinstimmenden Art vorzunehmen, das ist: das soziale Leben gesetzmäßig zu begreifen. So hat die allgemeingültige Gesetzmäßigkeit des Gesellschaftslebens, wie wir schon wiederholten, zwar von allem besonderen Inhalt dieser oder jener Gemeinschaft Abstand zu nehmen und über diesem selbständig sich zu erheben; aber sie ist überhaupt zu suchen in der schärfsten Analyse des Erkenntnisinhaltes von einem sozialen Leben der Menschen. Sie wird gefunden als die grundlegende Einheit sozialwissenschaftlicher Erkenntnisbedingungen. Zu einem systematischen Aufbau im Sinne dieser Methode haben wir im ganzen Bereich der sozialen Wissenschaft keinen Vorgänger. Auch KANT, dessen Erkenntniskritik - wie der Kundige bemerkt haben wird - für den Entwurf unseres Plans von bestimmendem Einfluß gewesen ist, hat in seiner Metaphysik der Sitten eine grundlegende Theorie des sozialen Lebens nicht geliefert. Wohl aber können wir bei unserem Unternehmen eine Anregung intensivster Weise erhalten, sobald wir auf die in der theoretischen Literarut bislang wenig beachtete materialistische Geschichtsauffassung eingehen. Im oben von uns angeführten Grundgedanken dieser Richtung - der vollständigen notwendigen Abhängigkeit der Gesellschaftsform von der Art der sozialen Wirtschaft - liegt die Meinung enthalten, daß er fähig sei, die Art der Gesetzmäßigkeit aufzuzeigen, des einheitlichen Prinzips und methodischen Gesichtspunktes, unter welchem überall geschichtlich auftretendes soziales Leben der Menschen zu betrachten und erforschend zu erwägen ist. Die materialistische Geschichtsauffassung stellt die soziale Wirtschaft in den Mittelpunkt des Gesellschaftslebens. Wie der Glaube der alten Welt die Erde als Zentrum des Weltalls erwogen, das kopernikanische System dagegen sie mit den anderen Planeten um die Sonne kreisen ließ und den Beweis hierfür dadurch erbrachte, daß nur in diesem Gedanken die Einheit im Mannigfaltigen astronomischer Erscheinungen bestehen könne: - so wendet sich der soziale Materialist von der Meinung ab, daß als Zentralkraft des sozialen Lebens ideale Faktoren als eigenartige und selbständig wirkende Ursachen der Formen dieses sozialen Daseins angenommen werden dürfen; er dreht das Verhältnis um und läßt als letzte wirkende Ursache, von der alle sozialen Vorstellungen und somit auch die soziale Ordnung abhängig seien, nur die gesellschaftliche Wirtschaft zu. Je nach der empirisch wechselnden Gestaltung dieser bestimmen sich die menschlichen Ideale und die Formen ihres Gemeinwesens. Damit will die materialistische Geschichtsauffassung in das Gewirr ständig wechselnder sozialer Erscheinungen Einheit und Gesetzmäßigkeit bringen. Sie ist bemüht, unter den verschiedenen Elementen, die das soziale Leben der Menschen in der Erfahrung konstituieren, das rechte systematische Verhältnis wissenschaftlich zu erkennen; und mittels desselben eine Methode einheitlicher Geschichtsbetrachtung zu ermöglichen. Sie will damit einen allgemeingültigen Leitfaden geben, der durch das Getümmel geschichtlicher Tatsachen hindurch den Forscher in gesetzmäßiger Weise führt; an dessen Hand man infolgedessen die Gegenwart richtig verstehen mag und einen Ausblick in die Zukunft zutreffend gewinnen könne. So ist die genannte Geschichtsphilosophie die erste, die von Gesetzmäßigkeit der Menschengeschichte nicht nur redet, sondern darüber auch wirklich einen klaren Begriff und eine sichere Einsicht zu bewirken unternimmt. In ihr liegt der richtige Gedanke, daß die Geschichtsschreibung des sozialen Lebens der Menschen nur dadurch zur Wissenschaft werden kann, daß sie festgestellte Einzelheiten unter dem allgemeingültigen Gesichtspunkt einer grundlegenden Einheit für alles gesellschaftliche Dasein erfaßt, sichtet und würdigt: - nicht die exakte Sammlung isolierter Daten macht den guten Historiker aus, sondern deren rechte Synthesis in allgemeingültiger Gesetzmäßigkeit. Nach ihrer Grundmeinung können wir leicht den nötigen Unterschied erkennen und durchführen, welcher für jeden Forscher, der im Sinne eines gesetzmäßigen Strebens arbeitet, von entscheidender Bedeutung ist: den Unterschied zwischen erkannten Einzelgesetzen und zwischen der allgemeinen formalen Gesetzmäßigkeit, das ist der grundlegenden Art der rechten Synthesis von Tatsachen zu Gesetzen, welche die letzteren in ihrer Berechtigung erst möglich macht. Denn die Absicht der materialistischen Geschichtsauffassung ist darauf gerichtet, das Ganze der sozialen Entwicklung als einen Naturprozeß darzustellen, welchem man seine Gesetze jeweils abzulauschen imstande ist. Hierbei sind zu unterscheiden einmal die besonderen Gesetze, welche für die einzelnen geschichtlichen Erscheinungen innerhalb eines sozialen Lebens Geltung haben, so z. B. nach der Meinung der die materialistische Geschichtsauffassung vertretenden Marxisten die der kapitalistischen Produktionsweise immanent innewohnenden Einzelgesetze, wie dasjenige der notwendigen Erzeugung von Mehrwert, das Gesetz der periodischen Handelskrise u. a. m.; zweitens das für alles irgendwie soziales Leben geltende formale Grundgesetz der notwendigen Abhängigkeit allen gesellschaftlichen Daseins von der sozialen Wirtschaft, auf welches Grundgesetz dann jene Einzelgesetze, die unter besonderen empirischen Bedingungen gelten, ihren Geltungswert und ihre wissenschaftliche Existenzberechtigung stützen. Ich gebe zu, daß dieses Grundgesetz der materialistischen Geschichtsauffassung von den Bearbeitern der sozialen und der Rechtsgeschichte keineswegs allgemein und bewußt adoptiert worden ist. Aber welche andere fundamentale Auffassung vom gesetzmäßigen Verlauf des sozialen Lebens der Menschen und danach von der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis von Einzelgesetzen haben sie denn? Was ist denn ein soziales Gesetz? Durch welches allgemeingültige formale Kriterium der Erkenntnis bekommen wahrgenommene Einzeltatsachen der sozialen Geschichte den Rang von gesetzmäßigen Ereignissen? - Hier klafft, sobald wir von der materialistischen Geschichtsauffassung absehen, uns ein bedenkliches Vakuum entgegen. Demnach werden wir diese sozialphilosophische Untersuchung an die Darlegung der Lehre der materialistischen Geschichtsauffassung anknüpfen. Es wird sich bei ihrer Betrachtung baldigst zeigen, daß dieselbe nach jeder Richtung hin unfertig und nicht ausgeführt ist, und daß daher vor allem genau zu fragen und zu bestimmen ist, was unter den von ihr sorglos verwendeten sozialen Grundbegriffe mit Fug allein verstanden und festgehalten werden kann. Es wird sich aber auch herausstellen, daß jene Auffassung der sozialen Geschichte das ihr vorschwebende Ziel einer obersten Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Lebens der Menschen in der Tat nicht erreicht hat, und daß dieselbe in der starren Durchführung ihrer Sätze notwendig zu Widerspruch und Unklarheit führen muß. So werden wir in der Verfolgung der genannten Lehre und in deren Korrektur zu den Grundzügen einer allgemeingültigen Theorie der sozialen Frage und zu einer Grundlegung der Sozialphilosophie gelangen können. Wenngleich es, wie alsbald bemerkt werden mag, auf eine Vollständigkeit in literarischer Hinsicht in dieser Abhandlung nicht abgesehen ist, und wir für jetzt nicht die Absicht haben, einen kompendiösen Wegweise durch die Bücher und Schriften der sozialen Wissenschaft erschöpfend zu liefern. Doch ich ende hier meinen Prolog. Wenn jemand, der das jetzt entworfene Programm bis hierher verfolgt hat, noch nicht im klaren sein würde, wie solches auszuführen, und wie die angegebene Methode zu handhaben sei; falls er vielleicht ein Beispiel für sie wünschen möchte: Nun wohlan, dieses Buch gibt ihm ein solches. Wer es in das Studium nehmen will, wird die Nutzanwendung des Gesagten, wie ich denke, vollauf erhalten; und kann dann im Rückblick auf diese Einführung alle etwaige Fremdartigkeit, welche die bloße Entwerfung des Planes einem der Gedankenwelt des Autors noch fremden Mann gewiß bieten wird, ganz abstreifen. Daß dieses freilich ohne ernste und willige Gedankenarbeit des geneigten Lesers geschehen könnte, wage ich nicht zu behaupten. ![]() ![]()
1) Von dem im Text gerügten Fehler sind auch die besseren Erscheinungen unserer sozialpolitischen Literatur nicht frei. So kommt das im einzelnen anregende Buch von JENTSCH, Weder Kommunismus noch Kapitalismus (1893) erst Seite 383, nachdem es auf das Ausführlichste die herrschenden Verhältnisse kritisiert und abgeurteilt hat, zu der Frage: welches überhaupt der Prüfstein für die Güte der Staatseinrichtungen sei? - um sie sofort wieder zu verlassen. Dieser methodische Mangel ist keine vereinzelte Erscheinung. 2) Typisch ist hier die in einem ernsten Sinn unternommene Arbeit von ARNOLD, Kultur und Rechtsleben (1865). Er kennt sieben Faktoren des nationalen Lebens, sieben besondere Gebiete, in denen das geistige Leben eines Volkes sich äußere, und die einmal in Selbständigkeit für sich bestehen, außerdem aber in Wechselwirkung untereinander begriffen seien: Sprache, Kunst, Wissenschaft, Sitte, Wirtschaft, Recht und Staat. Für die vorchristliche Zeit fügt er als achtes noch die Religion hinzu, weil Glaube und Kultur die Völker damals schieden, während das Christentum die Völkertrennung nach dieser Richtung aufgehoben und einen Glauben gesetzt hat, der alle Völker zu einer Gemeinschaft verbinden soll. - - Über ARNOLDs Lehre vgl. auch § 32 zu Anm. 88; § 36 zu Anm. 101; § 50 zu Anm. 132; § 56 zu Anm. 139. 3) KOHLER, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft Bd. 8, Seite 149; und in ähnlichen Wendungen an anderen Orten. Im Archiv für bürgerliches Recht 1, sagt er, daß "der Gesetzgeber ein Faktor der Geschichte und damit ein Organ der über uns waltenden Kulturmächte" sei. Und im Buch: Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz (1883) heißt es Seite 257: "Nur drei Gesetze können wir für das geschichtliche Werden bereits jetzt als sicher aufstellen. Das eine ist das Gesetz der Beschränkung des Individuums: das Prinzip, daß die Tat des einzelnen gemessen ist, daß das Schicksal (!) keine Überschreitung des abgemessenen Kreises duldet. Das andere Gesetz ist, daß immer wieder die Lichtgottheiten die Mächte der Nacht in den dunklen Erdenschoß zurückwerfen. Und das dritte Gesetz ist endlich, daß uns die Geschichte stets ein Bild von Freude und Leid, von Jauchzen und Wehklagen darbieten wird, daß sie dem einzelnen bald den Honigseim, bald die bittere Galle zu kosten gibt." 4) RUDOLF von JHERING, Der Kampf ums Recht, 4. Auflage, 1874, Seite 9 5) Am klarsten ist das Programm einer "Allgemeinen Rechtslehre" und der Versuch, durch diese die rechtsphilosophische Erwägung zu verdrängen, von MERKEL in der Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 1, Seite 1f; 202f (1874) dargelegt worden. Vgl. denselben in Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, herausgegeben von HOLTZENDORFF, systematischer Teil, 5. Auflage, 1890, Seite 89 - 91. Dortselbst nähere Literaturangaben. |