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HERMANN LOTZE
Vom Denken
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"Als bloße Erregungen unseres Inneren können die Zustände, welche den äußeren Reizen folgen, ohne weitere Vorbereitung in uns beisammen sein und aufeinander so wirken, wie es eben die allgemeinen Gesetze unseres Seelenlebens gestatten oder befehlen; um dagegen in der bestimmten Form eines  Gedankens  verbindbar zu werden, bedürfen sie einzeln einer vorgängigen Formung, durch welche sie überhaupt erst zu logischen Bausteinen, aus  Eindrücken zu Vorstellungen  werden. Nichts ist uns im Grunde vertrauter, als diese erste Leistung des Denkens; wir pflegen nur deshalb über sie hinwegzusehen, weil sie in der Bildung der uns überkommenen Sprache beständig schon geleistet ist und darum zu den selbstverständlichsten Voraussetzungen, nicht mehr zur eigenen Arbeit des Denkens zu gehören scheint."

"Gewiß bezeichnen die Stammadjektiva der Sprache, wie blau und süß, das, was unserer ersten Auffassung als wirkliche Eigenschaft von Dingen erscheint; aber jede ausgebildete Sprache kennt doch Worte wie: zweifelhaft, parallel und erlaubt; Worte, die schon der einfachsten Überlegung nicht mehr in einem einfachen Sinn, wie jene, eine an den Dingen selbst haftende Eigenschaft bedeuten können; sie sind verkürzte und verdichtete Bezeichnungen der Ergebnisse von allerhand Beziehungen und nur für Zwecke des Denkens bringen wir ihren adjektivisch gefaßten Inhalt in das formale Verhältnis zu dem eines Substantivs, in welchem wir uns die Eigenschaft zu ihrem Träger stehend vorstellen."

"Jede gebildete Sprache enthält in der Form eines einfachen Substantivs, eines Adjektivs oder Verbums zahlreiche Vorstellungen, deren Inhalt sich nicht ohne vielfache höhere Denkarbeit, nicht ohne Benutzung von Urteilen und Schlüssen, ja selbst nicht ohne Voraussetzung zusammenhängender wissenschaftlicher Untersuchung zusammenbringen ließ und nicht ohne sie völlig verständlich ist."

1. Kapitel
Die Lehre vom Begriff

A. Die Formung der Eindrücke zu Vorstellungen

§ 1. In Beziehungen eines Mannigfachen pflegen sich uns die Leistungen des Denkens zu zeigen; man kann daher glauben, auch die ursprünglichste seiner Handlungen in einer einfachsten Art der Verknüpfung zweier Vorstellungen suchen zu müssen. Eine leichte Überlegung rät uns indessen, noch einen Schritt weiter zurückzugehen. Aus lauter Kugeln läßt sich leicht ein Haufen zusammenwerfen, wenn es gleichgültig ist, wie sie liegen; ein Gebäude von regelmäßiger Gestalt dagegen ist nur aus Bausteinen möglich, die einzeln bereits jeder in Form gebracht sind, in welchen sie einander passende Flächen zu sicherer Anfügung und Auflagerung zuwenden. Man wird Ähnliches hier erwarten müssen. Als bloße Erregungen unseres Inneren können die Zustände, welche den äußeren Reizen folgen, ohne weitere Vorbereitung in uns beisammen sein und aufeinander so wirken, wie es eben die allgemeinen Gesetze unseres Seelenlebens gestatten oder befehlen; um dagegen in der bestimmten Form eines  Gedankens  verbindbar zu werden, bedürfen sie einzeln einer vorgängigen Formung, durch welche sie überhaupt erst zu logischen Bausteinen, aus  Eindrücken zu Vorstellungen  werden. Nichts ist uns im Grunde vertrauter, als diese erste Leistung des Denkens; wir pflegen nur deshalb über sie hinwegzusehen, weil sie in der Bildung der uns überkommenen Sprache beständig schon geleistet ist und darum zu den selbstverständlichsten Voraussetzungen, nicht mehr zur eigenen Arbeit des Denkens zu gehören scheint.

§ 2. Was unmittelbar unter dem Einfluß äußerer Reize in uns entsteht, die Empfindung oder das sinnliche Gefühl, ist ansich nichts als ein Zustand unseres Befindens, eine Art, wie uns zumute ist. Nicht immer gelingt es uns, einen Namen zu finden für das, was wir so leiden und es dadurch mitteilbar an andere zu machen; nur die formlose Interjektion [Einwurf - wp], der Ausruf, bleibt uns zuweilen übrig, um dieses Unsagbare, ohne sichere Hoffnung auf Verständnis, wenigstens zu verlautbaren. Zu den günstigeren Fällen aber, in welchen uns die Schöpfung eines Namens gelungen ist, welche Leistung ist dann ausgeführt und verrät sich eben in dieser Schöpfung selbst? Keine andere, als eben die, die wir hier suchen, die Verwandlung eines  Eindrucks  in  Vorstellung.  Sobald wir die verschiedenen Erregungen, welche uns Lichtwellen durch unser Auge veranlassen, grün oder rot nennen, haben wir ein früher Ungeschiedenes geschieden: unser Empfinden vom Empfindbaren, auf das es sich bezieht. Dieses Empfindbare stellen wir jetzt vor uns hin, nicht mehr als einen Zustand unseres Leidens, sondern als einen Inhalt, der an sich selbst ist was er ist und bedeutet was er bedeutet, und der dieses zu sein und zu bedeuten fortfährt, egal ob unser Bewußtsein sich auf ihn richtet oder nicht. Man wird leicht hierin den notwendigen Anfang jener Tätigkeit entdecken, die wir dem Denken überhaupt zueigneten; sie kann hier noch nicht darauf gerichtet sein, zusammenseiendes Mannigfaltiges in Zusammengehöriges zu verwandeln; sie löst vor allem die Voraufgabe, jedem einzelnen Eindruck die Bedeutung eines ansich Gültigen zu geben, ohne welche später eine sachliche Zusammengehörigkeit mehrerer keinen angebbaren Sinn im Gegensatz zu bloßem Zusammensein in uns haben könnte.

§ 3. Man kann diese erste Leistung des Denkens als Beginn einer  Objektivierung  des Subjektiven bezeichnen; ich benutze diesen Ausdruck, um durch Abwehr eines Mißverständnisses den einfachen Sinn des Gesagten zu verdeutlichen. Objektivität in der Bedeutung eines irgendwie gearteten wirklichen Daseins, das auch bestände, wenn niemand es dächte, wird durch die logische Tat, die sich in der Schöpfung eines Namens verrät, dem durch eben diese Schöpfung entstehenden Vorstellungsinhalt zuerkannt. Was in Wahrheit diese erste Denkhandlung sagen will, machen die Sprachen am leichtesten klar, die sich den Gebrauch des Artikels bewahrt haben. Denn durch diesen, welcher überall ursprünglich den Wert eines demonstrativen Pronomen hatte, wird das mit ihm versehene Wort als der Name von etwas bezeichnet, worauf sich hinweisen läßt; hin aber weisen wir auf das, was einem andern ebenso wahrnehmbar werden kann, wie es uns gewesen ist. Nunfreilich geschieht das am leichtesten in Bezug auf Dinge, die in der Tat in äußerlicher Wirklichkeit zwischen den Sprechenden stehen, aber die gebildete Sprache vergegenständlicht auch jeden anderen Denkinhalt auf gleiche Weise. Die Objektivität, welche sie durch den auch in solchen Fällen gebrauchten Artikel andeutet, fällt daher nicht im Allgemeinen mit der Wirklichkeit zusammen, die den Dingen zukommt; sie traf vielmehr in den Benennungen dieser nur mit einem tatsächlichen Anspruch auf eine solche zusammen, den ihnen die unterscheidende Eigentümlichkeit ihrer realen Natur gibt. Vom Schmerz, der Helligkeit, der Freiheit sprechen wir nicht so, als könnte der Schmerz dasein, wenn ihn niemand fühlt, die Helligkeit, wenn sie kein Auge sieht, der Freiheit, wenn kein Wesen wäre, das sich der Uneingeschränktheit seines Handelns entweder selbst erfreute oder sie fühlbar machte für andere. Noch weniger, wenn wir von einem  zwar,  einem  aber  und einem  dennoch  reden, meinen wir durch den Artikel ein Dasein anzudeuten, das den durch diese Worte bezeichneten Denkinhalten irgendwie auch außerhalb jeden Vorstellens zukäme; wir sagen durch diese Ausdrucksweisen nur, daß gewisse eigentümliche Widerstreite und Spannungen, die wir im Verlauf unserer Vorstellungen fühlen, nicht bloß Seltsamkeiten unseres Befindens und unabtrennbar von diesem sind, daß sie vielmehr auf eigenen Beziehungen verschiedener Vorstellungsinhalte beruhen, welche jeder, der diese denken wird, ebenso zwischen ihnen vorfinden wird, wie wir. Durch die logische Objektivierung, die sich in der Schöpfung eines Namens verrät, wird daher der benannte Inhalt nicht in eine äußere Wirklichkeit hinausgerückt; die gemeinsame Welt, in welcher andere ihn, auf den wir hinweisen, wiederfinden sollen, ist im Allgemeinen nur die Welt des Denkbaren; ihr wird hier die erste Spur eines eigenen Bestehens und einer inneren Gesetzlichkeit zugeschrieben, die für alle denkenden Wesen dieselbe und von ihnen unabhängig ist, und es ist hier ganz gleichgültig, ob einzelne Teil dieser Gedankenwelt etwas bezeichnen, was noch überdies außerhalb der denkenden Geister selbständige Wirklichkeit besitzt oder ob ihr ganzer Inhalt überhaupt nur in den Gedanken der Denkenden, mit gleicher Gültigkeit dann für alle, Dasein hat.

§ 4. Durch diese Vergegenständlichung des ebenso erst entstehenden Inhalts ist indessen nicht der ganze Sinn dieser ersten Denkhandlung erschöpft; vor sich hinstellen kann ihn das Bewußtsein nicht bloß überhaupt, sondern nur indem es ihm eine bestimmte Stellung gibt; nicht überhaupt bloß kann es ihn von einem Zustand seiner eigenen Erregung unterscheiden, ohne ihm anstatt der Art des Seins, die er als solcher Zustand hatte, eine andere Art seines Bestehens zuzuerkennen. Was mit dieser Forderung gemeint ist, denn ich gebe zu, daß es diesem Ausdruck derselben an unmittelbarer Klarheit fehlt, zeigt uns am einfachsten die Sprache durch ihre wirkliche Erfüllung. Denn nur die Interjektion, die keines Inhalts Name ist, läßt sie in der Formlosigkeit, die ihr als bloßem Ausdruck einer Erregung zukommt; ihren ganzen übrigen Wortschaft gliedert sie in die bestimmten Formen der Substantiva, der Adjektiva, der Verba, der bekannten  Redeteile  überhaupt. Und daß sie durch diese verschiedenartige Ausprägung ihres ganzen Schatzes eine Vorbedingung erfüllt, welche das Denken zu seinen späteren Leistungen nicht entbehren kann, bedarf kaum der besonderen Versicherung, denn offenbar weder die Verbindung der Merkmale zum Begriff, noch die der Begriffe zum Urteil oder der Urteile zum Schluß wäre möglich, wenn alle Vorstellungsinhalte gleich formlos oder in gleicher Form gefaßt wären und wenn nicht einige von ihnen substantivisch als Bezeichnungen für sich feststehende Inhalte anderen adjektivischen eine Stätte der Anknüpfung gewährten, noch andere verbale die flüssigen Beziehungen darstellten, die eines mit dem andern in Verbingung zu bringen bestimmt sind. Ich halte nicht für angemessen, diese eigentümliche Gestaltung des Vorstellungsinhaltes als eine zweite Denkhandlung von jener ersten zu trennen, der wir die Vergegenständlichung desselben zuschrieben; ich fasse vielmehr die erste Tat des Denkens in diese unteilbare Leistung zusammen, dem vorgestellten Inhalt eine dieser logischen Forderungen zu geben, indem sie ihn für das Bewußtsein vergegenständlicht, oder ihn auch eben dadurch zu vergegenständlichen, daß sie ihm eine dieser bestimmten Formungen gibt.

§ 5. Unvermeidlich erinnern die drei Redeteile, die ich hervorhob, an drei unserer Beurteilung der Wirklichkeit unentbehrliche Begriffe. Denn in der Tat nicht einmal eine aussprechbare Übersicht über die wahrnehmbare Welt ist uns möglich, ohne in ihr Dinge als die festen Punkte zu denken, die einer Vielheit unselbständiger Eigenschaften als Träger dienen und durch veränderliche Ereignisse, das Spiel des Geschehens, untereinander verbunden werden. Ist Metaphysik die Untersuchung nicht des Denkbaren überhaupt, sondern des Wirklichen oder dessen, was als wirklich anerkannt werden soll, so sind diese Begriffe des Dinges der Eigenschaft und des Geschehens metaphysische Begriffe; nicht solche vielleicht, welche die Metaphysik am Ende ihrer Untersuchung in unveränderter Geltung lassen würde, aber solche gewiß, die am Anfang derselben unmittelbar das eigene Wesen und die Gliederung des Seienden zu bezeichnen vorgeben. Mit ihnen scheinen nun die logischen Formen der Substantivität, Adjektivität und Verbalität für den ersten Blick zusammenzufallen; ein zweiter freilich zeigt zwischen beiden Reihen den gleichen Unterschied, welcher die logische Vergegenständlichung eines Vorstellungsinhaltes von äußerer Wirklichkeit trennte. Denn für Ding oder Substanz gilt uns nur, was außer uns wirklich und in der Zeit dauernd teils in etwas anderem Veränderungen bewirkt, teils unveränderliche Zustände selbst zu erleiden vermag; substantivisch aber fassen wir nicht die Dinge allein, sondern ihre Eigenschaften ja auch; substantivisch sprechen wir von der Veränderung, dem Ereignis, dem Nichts selbst, kurz von Unzähligem, was entweder nicht ist oder doch nicht selbständig für sich, sondern nur an anderem Bestand hat. Durch die Form der Substantivität eignen wir daher dem in sie gebrachten Inhalt nur in Beziehung auf das, was von ihm als einem Subjekt künftiger Urteile weiter ausgesagt werden soll, dieselbe Priorität und Selbständigkeit zu, die dem Ding gegenüber seinen Eigenschaften, Zuständen und Wirkungen zukommt, aber keineswegs die Realität selbständiger Wirklichkeit und Wirksamkeit, die dieses vor dem bloße Denkbaren voraus hat. Auch Verba bezeichnen am häufigsten freilich ein in der Tat zeitlich verlaufendes Geschehen; aber wenn wir sagen, daß die Dinge sind oder daß sie ruhen, daß eines das andere bedingt oder ihm gleicht, so zeigt sich, daß auch die verbale Form nicht allgemein ihrem Inhalt die Bedeutung eines Geschehens gibt, sondern sie nur gewöhnlich in ihm vorfindet. Um den Sinn solcher Verba, wie wir sie eben als Beispiele brauchen, vollständig zu denken, haben wir mehrere einzelne Inhalte durch eine Bewegung unseres Vorstellens zu verknüpfen, eine Bewegung, die freilich nur in der Zeit ausführbar ist, von allem Zeitverlauf unabhängig ist. Mit einem Wort: nicht ein Geschehen, sondern eine Beziehung zwischen mehreren Beziehungspunkten ist der allgemeine Sinn der verbalen Form; und diese Beziehung kann ebenso gut zwischen Inhalten vorkommen, die stets unzeitlich nur in der Welt des Denkbaren zusammen, wie zwischen solchen, die, der Wirklichkeit angehörig, einer zeitlichen Veränderung zugänglich sind. Gewiß bezeichnen endlichdie Stammadjektiva der Sprache, wie blau und süß, zunächst das, was unserer ersten Auffassung als wirkliche Eigenschaft von Dingen erscheint; aber jede ausgebildete Sprache kennt doch Worte wie: zweifelhaft, parallel und erlaubt; Worte, die schon der einfachsten Überlegung nicht mehr in einem einfachen Sinn, wie jene, eine an den Dingen selbst haftende Eigenschaft bedeuten können; sie sind verkürzte und verdichtete Bezeichnungen der Ergebnisse von allerhand Beziehungen und nur für Zwecke des Denkens bringen wir ihren adjektivisch gefaßten Inhalt in das formale Verhältnis zu dem eines Substantivs, in welchem wir uns die Eigenschaft zu ihrem Träger stehend vorstellen. Allgemein ausgedrückt ist daher der logische Sinn der Redeteile nur ein Schatten von dem jener metaphysischen Begriffe; er wiederholt nur die formalen Bestimmungen, die diese vom Wirklichen behaupten; aber indem er ihre Anwendung nicht auf das Wirkliche beschränkt, läßt er auch den Teil ihrer Bedeutung fallen, den sie nur in dieser Anwendung erhalten.

§ 6. Fanden wir endlich in den Formen der Redeteile die ursprünglichsten Denkhandlungen, so müssen wir sie nun auch von diesem ihrem sprachlichen Ausdruck zu unterscheiden wissen. Jetzt, nachdem sich der Mensch einmal zur Mitteilung seiner Gedanken der Lautsprache bedient, jetzt erscheinen jene Denkhandlungen allerdings am anschaulichsten in der Form der Redeteile; ansich aber sind sie nicht unlösbar an das Vorhandensein der Sprache gebunden. Schon die Entwicklung, deren die Gedankenwelt der Taubstummen, wenn auch unter erster Anleitung der Sprechenden, fähig ist, beweist uns, daß die innere logische Arbeit von der Möglichkeit ihres sprachlichen Ausdrucks unabhängig ist. Nur darin besteht diese Arbeit, daß wir den einen Vorstellungsinhalt mit dem Gedanken seiner verhältnismäßigen Selbständigkeit begleiten, einen anderen als der Anlehnung bedürftig, einen dritten als Mittelglied denken, das weder für sich besteht, noch an einem anderen ruht, sondern die vermittelnde Beziehung zwischen zweien bildet. Niemand bezweifelt die höchst wirksame Unterstützung, welche für die Ausbildung des Denkens in der Fähigkeit der Sprache liegt, durch scharfbestimmte Lautbilder und regelmäßige Umlautungen derselben allen jenen Formungen und Umformungen der Gedanken eine für das Bewußtsein anschauliche Gegenständlichkeit zu geben; gleichwohl, wäre dem Menschen, anstatt der Lautsprache eine andere Mitteilungsweise natürlich, son würden dieselben logischen Nebengedanken sich auch in dieser einen entsprechenden, freilich ganz anders gearteten Ausdruck zu verschaffen wissen. Und wenn die Formenarmut einzelner Sprachen nicht zur Ausprägung aller dieser Nebengedanken, nicht zum Beispiel zur Unterscheidung substantivischer und verbaler Fassung überall zureicht, so ist doch kein Zweifel, daß das Denken auch der so Redenden die logischen Unterschiede in der Formung der lautlich ununterschiedenen Vorstellungen festhält. Wo immer diese innere Gliederung ist, da ist Denken; es ist nicht, wo sie fehlt. Darum ist Musik kein Denken; denn wie mannigfach und fein abgemessen auch die Verhältnisse ihrer Töne sind, niemals bringt sie doch den einen zum andern in die Stellung eines Substantivs zum Verbum, nie in eine Abhängigkeit, die der eines Adjektivs von seinem Hauptwort oder der eines Genitivs zum Nominativ gliche, von dem er regiert wird.

§ 7. Ich habe nur drei bisher aus der größeren Anzahl der Redeteile erwähnt: diejenigen, ohne die auch die einfachste logische Aussage unmöglich wäre; ich leugne darum den logischen Wert der übrigen nicht. Aber unser eigener Weg ist zu weit, um uns in das anziehende Gebiet sprachwissenschaftlicher Betrachtung weitere Umwege zu gestatten, die, nach der eben besprochenen Unabhängigkeit des Denkens von seinen Ausdrucksweisen, für unseren Zweck doch Umwege bleiben würden. Gliederung und Gebrauch der Sprache deckt eben die Leistungen des Denkens nicht durchaus. Wir werden später finden, daß sie häufig nicht den vollständigen Bau des Gedankens ausdrückt: und dann müssen wir für die Zwecke der Logik das Geäußerte aus dem ergänzen, was gemeint war; die Sprache besitzt andererseits technische Bestandteile, die auf wesentlichen logischen Bestimmungen nicht beruhen oder doch auf solch sich nur mittelbar in verschiedenen Abstufungen beziehen: wir würden dann unrecht tun, wenn wir ebenso viele logische Handlungen des Denkens unterscheiden wollten, als uns die Sprache grammatisch oder syntaktisch verschiedene Formen des Ausdrucks darbietet. Nicht bloß Interjektionen, sondern auch Partikeln gibt es, die im gewöhnlichen Gebrauch, dem Tonfall der Stimme ähnlich, fast nur noch den gemütlichen Anteil bezeichnen, den der Sprechende an seiner Aussage nimmt, nichts dagegen zur logischen Fassung ihres Inhalts beitragen. Wenn die Sprache den Unterschied der Geschlechter in alle substantivischen und adjektivischen Worte einführt, folgt sie einer logisch ganz gleichgültigen ästhetischen Phantasie; wenn sie sich dann aber das Geschlecht des Adjektivs nach dem seines Hauptwortes richten läßt, deutet sie durch diese Folgerichtigkeit innerhalb einer willkürlich angenommenen Gewohnheit wieder auf ein echt logisches Verhalten hin, das wir kennen lernen werden. Wenn sie in den Beugungen des Zeitwortes den Redenden vom Angeredeten und dem abwesenden Dritten unterscheidet, so hebt sie damit, für den lebendigen Gebrauch der Rede ganz unentbehrlich, ein vor allem wichtiges sachliches Verhalten hervor, dem aber kein eigentlich logischer Unterschied entspricht. Es ist nur ganz derselbe Grund, der die Grammatik berechtigt, Pronomina als eine eigene Klasse der Redeteile zu betrachten; logisch sind die persönlichen völlig den Substantiven zuzurechnen, mit denen sie die Form der Fassung gänzlich teilen; die possessiven und demonstrativen haben wir keinen Grund von den Adjektiven zu trennen; das relative würden wir für das eigentümliche technische Element der Sprache ansehen, nur dem Bedürfnis der geordneten Mitteilung gewidmet und auf kein anderes logisches Verhältnis gegründet, als auf welchem auch sein Widerspiel, das demonstrative, beruth. Zahlworte behandelt die Grammatik als besondere Redeteile; die lebendige Sprache stellt sie den Adjektiven gleich und ohne Zweifel gehören sie logisch zu diesen, wenn man sich erinnert, daß logisch die Form der Adjektivität jeder nicht für sich selbständigen Bestimmung eines Inhalts zukommt und keineswegs derjenigen allein, welche an ihm in dem Sinne einer Eigenschaft haftet. Die Adverbien endlich treten zum verbalen Inhalt völlig in dieselbe Beziehung, wie die Adjektiva zum substantivischen; auch sie würde daher die Logik nicht Veranlassung haben, als einen besonderen Teil der Rede oder als eine eigentümliche Form des Gedankeninhalts zu fassen. Nur die Präpositionen und Konjunktionen blieben mithin übrig, um diesen Anspruch zu erheben, und sie allerdings glaube ich, egal welche Ableitungen ihre sprachlichen Ausdrücke noch zulassen mögen, zu den unentbehrlichen Bestandteilen unserer Vorstellungswelt rechnen zu müssen. Aus dem Begriff der Beziehung, dem sie zunächst verwandt scheinen, sind sie nicht ableitbar; jede Beziehung, indem sie zwei Glieder verbindet, enthält den Gedanken einer Stellung jedes dieser Glieder innerhalb dieser Beziehung selbst und diese Stellung braucht nicht für beide dieselbe zu sein, sie wird im Gegenteil am häufigsten verschieden, das eine Glied das Umfassende, Ganze, Bedingende, das andere das Umfaßte sein, der Teil, das Bedingte. Man wird nun, wenn man es versucht, nicht damit zustande kommen, die Verschiedenwertigkeit dieser beiden Endpunkte, ohne welche die Beziehung keinen Sinn hat, durch einen verbal gefaßten Inhalt allein auszudrücken; man wird irgendwo eine Präposition, eine Konjunktion oder eine der verschiedenen Kasusformen wenigstens bedürfen, in denen viele Sprachen einem Teil dieser Nebengedanken einen noch kürzeren Ausdruck geben. Denn es ist logisch freilich ganz gleichgültig, in welcher sprachlichen Form diese Nebengedanken auftreten; sowie wir Bedingtes bald im Genitiv, bald in anderem Sinne im Akkusativ dem bedingenden Nominativ entgegenstellen, so könnte ein noch größerer Reichtum der Kasus, wenn die Sprache ihn erzeugt oder bewahrt hätte, jede Präposition, eine gleiche Mannigfaltigkeit der Modi des Verbums jedes Konkunktion überflüssig machen. An den logischen Bedürfnissen des Denkens würde hierdurch nichts geändert; so wie so müßte zu den substantivischen, den adjektivischen und den verbalen Inhalten noch eine Anzahl von Vorstellungen treten, welche entweder, wie die sprachlichen Präpositionen, die Stellung zweier als einfach geltender Inhalte in einer einfachen Beziehung oder wie die Konjunktionen, die verschiedenwertige Stellung zweier Beziehungen oder Urteile zueinander bezeichnen.

§ 8. Als die unerläßlichste und in diesem Sinne erste aller Denkhandlungen wird uns die Vergegenständlichung der Eindrücke und ihre damit verbundene Formung der Redeteile in dem Sinne dann auch stets erscheinen, wenn wir mit einem Blick auf die ausgebildete Gestalt unserer Gedankenwelt nach den Bedingungen fragen, auf deren Erfüllung diese Gestaltung beruth. Denn gewiß, vom einfacheren oder zusammengesetzteren Satzbau, durch den wir die Arbeit und die Ergebnisse unseres Denkens ausdrücken, wäre nichts möglich gewesen ohne diese Leistung. Aber unsere Meinung kann nicht diese sein, daß im Anfang aller seiner Denkarbeit der logische Geist, ehe er einen weiteren Schritt wagte, diese erste seiner notwendigen Handlungen ein für allemal an der Gesamtheit seines Vorstellungsinhaltes vollzogen habe. Schon die Unbegrenztheit der Zahl möglicher Eindrücke, deren jeder Augenblick neue bringen kann, hätte dieses Geschäft unausführbar gemacht; es wird noch unausführbarer darum, weil ja das Denken selbst durch seine Bearbeitung des gegebenen Inhalts unablässig neuen Inhalt erzeugt und diesen wieder in dieselben logischen Formen bringen muß, aus deren Anwendung auf einfacheren Denkstoff er selbst entstand. Jede gebildete Sprache enthält daher in der Form eines einfachen Substantivs, eines Adjektivs oder Verbums zahlreiche Vorstellungen, deren Inhalt sich nicht ohne vielfache höhere Denkarbeit, nicht ohne Benutzung von Urteilen und Schlüssen, ja selbst nicht ohne Voraussetzung zusammenhängender wissenschaftlicher Untersuchung zusammenbringen ließ und nicht ohne sie völlig verständlich ist. Diese leicht zu machende Beobachtung hat die Behauptung hervorgerufen, mindestens die Lehre vom Urteil müsse in der Logik der Behandlung der Begriffe vorangeschict werden, mit welcher nur altes Herkommen die Betrachtung des Denkens eröffne. Ich halte diese Behauptung für eine Übereilung, die teils aus der Verwechslung des Zieles der reinen Logik mit dem der angewandten, teils aus einer Verkennung dessen überhaupt entspringt, wodurch sich Denken von einem bloßen Verlauf der Vorstellungen unterscheidet. Denn jene Urteile, aus denen der Begriff entstehen soll, woraus würden sie selbst denn, solange sie wirkliche Urteile sein sollen, bestehen können, wenn nicht aus einer Verknüpfung von Vorstellungen, die nicht mehr bloße Eindrücke wären, deren jede vielmehr mindestens diese einfache bisher erwähnte Formung schon empfangen hätte, deren Mehrzahl aber, wie ein anzustellender Versuch lehren würde, in der Tat schon die höhere logische Form besäßen, welche die Anhänger jener Meinung selbst mit dem Namen des Begriffs bezeichnen? Das Richtige dieser vorgeschlagenen Neuerung kommt auf einen sehr einfachen Gedanken zurück: um Begriffe eines verwickelten und mannigfachen Inhalts zu bilden, um namentlich die Grenzen festzustellen, innerhalb deren es sich lohnt und rechtfertigt, diesen Inhalt als ein Begriffsganzes zusammenzufassen und von anderen zu unterscheiden, dazu freilich sind mannigfache Vorarbeiten des Denkens nötig; aber damit diese Vorarbeiten selbst möglich seind, muß ihnen die Gestaltung einfacherer Begriffe vorangegangen sein, aus denen sie ihre Hilfsurteile zusammensetzen. Ohne Zweifel hat daher die reine Logik die Form des Begriffs der des Urteils voranzusetzen; die angewandte erst hat zu lehren, wie sich zur Bildung bestimmter Begriffe Urteile verwenden lassen, die aus einfacheren Begriffen bestehen. Ein Vorschlag zur Umkehrung dieser Ordnung kann sich nur denen empfehlen, welche das Denken überhaupt nur als Wechselwirkung der von außen uns angeregten Eindrücke betrachten und die rückwirkende Tätigkeit übersehen, die in den Verlauf der Vorstellungen, Zusammengeratenes scheidend, Zusammengehöriges verbindend und darum auch schon die einzelnen Bestandteile des künftigen Gedankens formend, überall eingreift.
LITERATUR - Hermann Lotze, Vom Denken, System der Philosophie, Erster Teil: Drei Bücher der Logik (vom Denken, Untersuchen und Erkennen), Leipzig 1874