cr-2BoltzmannMeyerson DuhemKraftDingler    
 
HUGO DINGLER
[mit NS-Vergangenheit]
Theorie und Empirie
(Zum Anwendungsproblem)
- Bemerkungen zu Carnaps Aufsatz über die Aufgabe der Physik -

"Und wie schon Aristoteles die Möglichkeit, daß die Sätze gegenseitig auseinander hergeleitet werden, abweist, weil dadurch Zirkelbeweise entstehen, so werden wir auch im Bereich des empirischen aus ganz analogen Gründen empirische Zirkeldefinitionen zu vermeiden haben, uns vielmehr klar werden, daß deren Ausschluß nur gewährleistet werden kann durch ein System, d. h. eine Ordnung der empirischen Begriffe derart, daß immer der definierte Begriff als abhängig (also im System als später) erkannt ist, im Vergleich zu denen, die zu seiner Definition verwendet wurden. Sieht man ein, daß dieses Verhältnis auch im Empirischen herrscht, dann gewinnt das Letztere einen ganz anderen Anblick als gewöhnlich. Es erscheint nicht mehr als eine von uns bei der Begriffsbildung und rationalen Darstellung unbeeinflußte Gegebenheit, sondern als ein von uns zum Zweck des Verständnisses unter Führung rationaler Überlegungen manuell zu Bearbeitendes."

Motto: "Wo faß' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste wo?"
Goethe, Faust I, 1. Szene

"Und was in schwankender Erscheinung schwebt
befestiget mit dauernden Gedanken.
ebd. Prolog


Die Stelle, an der eine Theorie der wissenschaftlichen Forschung die größten Schwierigkeiten zu überwinden hat, ist die, wo sie vom Verhältnis des Theoretischen zum Empirischen Rechenschaft geben soll. Hier bestehen schon seit der "Erfindung" der exakten Wissenschaft durch die Griechen zwei Ergebnisse, welche sich nur äußerst schwer unter eine einheitliche Auffassung bringen lassen und vielfach hat das Übergewicht, das dem einen oder anderen dieser beiden Gesichtspunkte beigelegt wurde, den Charakter eines philosophischen Systems bestimmt. Angesichts der Wissenschaft der systematischen Geometrie und deren Entwicklung schien es, daß uns die Möglichkeit gegeben ist, Aussagen, Urteile über die Realität auszusprechen, welche den Charakter einer absoluten und dauernden Geltung beanspruchen können. Andererseits schien angesichts der Entwicklung der experimentellen Wissenschaften ein Weg zu bestehen, um aus einzelnen Erlebnissen ("Erfahrungen") Aussagen zu gewinnen (Induktion), welche ebenfalls eine Geltung von sehr weitgehender Dauer beanspruchen können, wenn auch immer nur eine "empirische Genauigkeit" derselben zugebilligt wurde. Man sieht sogleich, daß hier auch einige andere philosophische Probleme sich in diesem Punkt schneiden. Ich nenne nur das Problem der Geltung und in gewissem Sinn das Generalienproblem, insofern als in der Induktion ein Weg vorlag, um aus Einzelerlebnissen, die sonst nur zu Einzelaussagen (hic etc nunc [hier und jetzt - wp]) führen können, Allgemeinaussagen zu gewinnen. Je nach der Einstellung wurde aus diesen Umständen entweder ein idealistischer oder empiristischer Standpunkt gewonnen, doch blieb immer die Schwierigkeit bestehen, wie verständlich gemacht werden kann, daß die Natur unseren so gewonnenen Aussagen auch folgt, wie dies ja als "Tatsache" weitgehend der Fall ist.

Es ergaben sich nun zwei Extremstandpunkte: Entweder man erklärte sich die Möglichkeit dauern geltender Aussagen über die Realität dadurch, daß man - hauptsächlich mit KANT - diese in seinem Sinne als synthetische Urteile a priori betrachtete, welche Aussagen enthalten über Bedingungen jeder möglichen Erfahrung. Doch dieser große Gedanke zeigte zwei Schwierigkeiten.
    1. Kant konnte mit ihm über die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kausalität, sowie seine Kategorien nicht hinausgelangen und mußte für das Weitere die gewöhnliche Induktion zu Hilfe rufen.

    2. Der Gedanke konnte, so einleuchtend er zunächst war, in sich selbst nur schwer einer systematischen Begründung und damit einer wirklichen Verständlichmachung zugänglich gemacht werden, wobei das Problem der Geltung eine wesentliche Schwierigkeit bot.
Da schien es dann andererseits Vielen bei der bewundernswerten Entwicklung der experimentellen Wissenschaften eine einfachere Lösung zu sein, auf diese apriorische Erklärungsweise ganz zu verzichten und sich gänzlich auf die Induktion (im Sinne MILLs) zu beschränken.

Dadurch mußte aber mit Notwendigkeit die Aufmerksamkeit auf diejenigen Schwierigkeiten gelenkt werden, die diesem Begriff anhaften. -

Außerdem kam besonders von der Mathematik her ein neuer Gesichtspunkt hinzu. Man erkannte, daß den logischen Schematismen, wie sie in vollendeter Form uns im logischen System der reinen Geometrie entgegentreten, eine sehr große, ja völlige Selbständigkeit gegenüber der Realität zukommt, daß wir in der Lage sind, solche ganz für sich und ohne jede Beziehung zur Realität zukommt, daß wir in der Lage sind, solche ganz für sich und ohne jede Beziehung zur Realität beliebig weit aufzustellen. Damit hängen zwei wichtige Erkenntnisse zusammen.
    1. daß dasselbe logische System an ganz verschiedenen Stellen der Erfahrung gelegentlich zur Verwendung kommt,

    2. daß dasselbe Gebiet der Erfahrung gelegentlich durch ganz verschiedene solche Systeme "dargestellt" werden kann.
Die Wissenschaft hatte gefunden, daß alle "Erklärungen" von Gebieten der Empirie durch eine exakte Wissenschaft in Gestalt solcher logischer Systeme auftreten müßten. Da ergab sich dann der zuerst von MACH hervorgehobene Gesichtspunkt, daß unsere Erklärungen also in "Darstellungen" des betreffenden empirischen Gebietes durch solche logische Systeme bestehen, in "Beschreibungen" durch diese. Das war ein großer Fortschritt, aber eine Beantwortung der Frage, wie denn nun eine solche Beschreibung, wenn sie auch allen sonstigen Anforderungen genügt, eine dauernde sein kann, wie sie also zu geltenden Allgemeinaussagen führen kann, war damit nicht gegeben. Weiter führten diese Gedankengänge der Beschreibung zu einer Betrachtungsweise, die sagt, man müsse sich auf die bequemste Darstellung der "Tatsachen" einigen und die somit dem Ausdruck dieser Tatsachen als mehr oder weniger "konventionell" betrachtet. RUDOLF CARNAP hat nun kürzlich an dieser Stelle in überaus umfassender und konziser Weise einen Überblick über die hier vorliegenden Möglichkeiten und Versuche zu gewinnen versucht. Vielleicht dient es der Sache, wenn ich einiges dazu zu sagen unternehme, umso mehr da er sich mehrfach mit meinen Anschauungen auseinandersetzt.

I. Wenn ich nun in kurzen Strichen ein Bild entwerfen darf, wie sich für die "reine Synthese" (wie ich sie nenne) die Realität und ihre Verarbeitung darstellt, so möchte dies folgendermaßen aussehen, soweit es auf engem Raum geschildert werden kann.

Die Realität ist immer abwechselnd; sie ist immer im Fluß in einem heraklitischen Sinn. Sie ist aber durch das, was ich "Gegebenheitszufall" nenne, in unserer Umgebung meist ziemlich langsam im Fluß (relativ zu unseren Verarbeitungs- und Anpassungsfertigkeiten). Dies drückt sich überall dort aus, wo ich vom Einzelnen zum Allgemeinen überzugehen suche. Schaffe ich auf empirischem Weg einen "Begriff", indem ich von einer Gruppe von Gegenständen, welche als einem Begriff zugehörig empfunden werden, gemeinsame Eigenschaften angebe (Definitionseigenschaften), dann bin ich nie sicher, ob eine weitere Eigenschaft, welche allen erreichbaren Vertretern dieses Begriffs zukommt, jedem Vertreter des Begriffs auch notwendig zukommen muß. Sicherheit darüber erlange ich erst, wenn die neue Eigenschaft aus den Definitionseigenschaften logisch ableitbar ist, d. h. wenn ihre Aussage vom Begriff letzten Endes tautologisch begründet ist. Ist das aber nicht der Fall, dann ist die Eigenschaft nicht nur nicht mit Notwendigkeit von diesem Begriff aussagbar, sondern es sind dann auch stets Vertreter des Begriffs herstellbar (wenn auch beliebig schwierig), welche diese Eigenschaft nicht aufweisen.

Eine andere Stelle des Übergangs vom Einzelnen zum Allgemeinen ist der Fall der Kausalverknpüfung. Auch ein Satz, der eine solche Folge ausspricht, ist niemals notwendig erfüllt in der Realität, solange und soweit er nicht eine rein logische Folge der Definition des betreffenden Vorgangs darstellt, d. h. auf eine Tautologie zurückgeführt ist. (Daß alle exakte logische Ableitung auf Tautologie beruth, erkennt man aus dem Prinzip der übergreifenden Begriffsbildung. (1) Bei einer Kausalverknüpfung, wo dies nicht der Fall ist, ist dann nicht nur keine logische Ableitbarkeit vorhanden, sondern es ist dann auch stets eine Konstellation herstellbar, wo alle Definitionseigenschaften der Ausgangsumstände vorhanden sind, wo jedoch die Folge nicht eintritt. Man erkennt die große Wichtigkeit einer genauen Definition bei allen diesen Überlegungen, die ja bei jeder Absicht etwas Reales rational zu fassen unumgänglich ist. Wenn nicht genau festgelegt ist, welche Eigenschaften eines empirischen Gegenstandes oder empirischer Umstände ich als wesentlich für meine Begriffsbildung betrachte (die Realität hat in jedem endlichen Bereich ansich eine unbegrenzte Reihe von Eigenschaften), dann ist es unmöglich exakt zu sagen, ob ein andermal "dieselben" Umstände wieder vorliegen.

Wenn nun gewisse Angaben darüber auch praktisch für gewöhnlich ausreichend sein möchten, so verlang die logische und damit auch die erkenntnistheoretische Betrachtungsweise, wenn sie bündig sein soll, letzte Vollständigkeit und Exaktheit.

Aber auch im Praktischen liegen hier oft Lücken vor. Wenn es im Praktischen eine hinreichende Bestimmung bei der Festlegung eines Experiments ist zu sagen: "Man nehme einen Faden von 1 m Länge", "man nehme 5 g Eisen" usw., so kann es dies für die erkenntnistheoretische Betrachtung niemals sein. Wenn es auch praktisch ganz einfach ist, in unserer Kulturumgebung sich die konventionellen Äquivalente dieser Worte "1 m", "Eisen" usw. in hinreichender Konstanz zu verschaffen, so darf der Philosoph diesen Zustand nicht als einen "von Natur gegebenen", nicht weiter problematischen betrachten, wie dies etwa dem Physiker naheliegen möchte, sondern er muß fragen: Wie ist es möglich, aus dem Fluß des Seins heraus solche Konstanzen wie "1 m", "Eisen" usw., theoretisch und praktisch zu definieren, daß ich sie nach dieser Definition wirklich in der gewohnten Art zu erhalten vermag, und damit auch zu erkennen, was von diesen Begriffen mit Notwendigkeit ausgesagt werden kann und was nicht? Zugleich aber ist anläßlich dieser Frage wieder eine prinzipielle Unterscheidung zu beachten:
    a) Ich kann danach fragen, wie das geschilderte Verfahren "wirklich" vor sich geht. - Dies ist eine reine Tatsachenfrage über ein hic et nun, deren Antwort in der Angabe besteht, wie bei uns heute die zu diesen Begriffen gehörigen Realisierungen praktisch gewonnen werden. Die dabei sich ergebenden Verfahren sind natürlich von den mannigfachsten historischen Zufälligkeiten und Absonderlichkeiten behaftet.

    b) Ich kann aber andererseits auch fragen, ob und wie man etwa einen völlig systematischen Einblick in diese Dinge, wie man ein systematisches Verfahren gewinnen kann, das keinerlei historische Zufälligkeiten und Unklarheiten mehr enthält. Das letztere eben ist die Fragestellung der "reinen Synthese".
Als das Mittel, das die Verbindung zwischen der Realität und der Theorie, dem rationalen Element der Realitätsdarstellung, bildet, gilt das "Experiment". Unter diesem Wort werden einige ganz heterogene [ungleichartige - wp] Arten von Handlungen zusammengefaßt, die von ganz verschiedener erkenntnistheoretischer oder methodischer Dignität sind. Damit ein Experiment so beschaffen ist, daß man sein Resultat in einen Satz fassen kann, ihm also eine größere Konstanz oder Dauer zuschreiben kann, müssen natürlich die Dinge, die bei seiner Auf- und Anstellung verwendet werden, selbst auf eine bestimmte dauernde, also stets reproduzierbare Weise definiert sein. Zunächst sollte man sogar meinen: auf eine aus dem "Chaos" heraus reproduzierbare Weise. Das ist nun aber nicht möglich. Wenn wir gar keine Dinge gegeben in der Außenwelt vorfinden würden, die mit den (wie wir, ohne uns hier auf Erkenntnistheoretisches einzulassen, etwa mit MACH kurz sagen können): "instinktiven" Forderungen unsererseits für Konstanz merklich übereinstimmen, dann wäre natürlich eine systematische Begriffsbildung überhaupt unmöglich. So müssen wir uns in den dem System nach ersten (das proteron te physei [vor der Natur - wp] des ARISTOTELES) Begriffsbildungen auf solche instinktive Beziehungen stützen, die einerseits historisch von der Menschheit auch instinktiv so gewählt werden, die wir aber von einem systematischen Gesichtspunkt aus in der reinen Synthese bewußt bejahen und mit Willenszustimmung (freiwillige Prinzipien) unserem System als Grundformulierungen zugrunde legen. Diese Prinzipien sind nun lediglich qualitativer Natur, die sich noch nicht irgendwelcher Maßbegriffe bedienen.

Viele grundlegende Begriffe der Physik beziehen sich nicht auf direk Wahrnehmbares, wie dies bei den qualitativen Begriffen der Fall ist, sondern sind auf indirekte und quantitative Weise definiert. Wir nennen sie "Maßbegriffe". Ob und welcher solcher Maßbegriff in einem Fall anzuwenden ist, wird festgestellt durch "Messung" und diese eben geschiecht durch die Verwendung anderer Gegenstände, durch Apparate. So wird z. B. die schwere Masse eines Körpers durch eine Waage gemessen. Man kommt nun leicht zu der Meinung, daß eine so an einem Körper gemessene Eigenschaft, diesem auf eine transzendente Weise immanent ist, und notwendig sich immer bei geeigneter Beanspruchung ergeben muß. Aber auch diese vermeintliche Notwendigkeit zeigt sich als nicht bestehend, da - und soweit - sie eine Aussage über ein dauerndes Zutreffen in der Realität enthält. Eine genaue Analyse des Messungsvorgangs zeigt, daß dieser ein "Experiment" ist, und daß keinerlei prinzipielle Garantie aus irgendeiner Art von Übergang gewonnen werden kann, daß nun dieses Experiment dauernd das gleiche Resultat liefert. Der einzige Weg hierzu wäre - wie oben - die logische Tautologie. Diese kann nun hier so erreicht werden, daß die Physik in systematischer Weise von einer Gruppe von Prinzipien aus derart aufgebaut wird, daß jeweils alle Abweichungen von diesen Prinzipien und ihren schon gezogenen Folgerungen zur Definition neuer Begriffe und Erscheinungen benutzt werden, soweit sie nicht durch die bisherigen schon darstellbar sind. Ich habe seiner Zeit vorgeschlagen, diesen methodischen Prozeß mit dem Namen einer "Exhaustion" [Erschöpfung - wp] zu belegen. Auf diese Weise entsteht eine schrittweise, stufenweise "Ausschöpfung" der Realität durch unsere logischen Formen, eine, wenn man das "Prinzip der Genauigkeitsschichten" heranzieht, immer genauere Darstellung oder Beschreibung der Realität. Dadurch, daß das Verfahren vom ernsten Anfang an systematisch ausgeübt werden soll, entsteht die Möglichkeit, die benutzten logischen Formen unverändert beizubehalten und es erwächst so jenes Gebäude dauernder "Gesetze" oder Darstellungsformen der Realität, welches ich im Hinblick auf seine Systematik die "reine Synthese" genannt habe.

Bei diesem systematischen Vorgehen, das auch auf systematische, praktische Definitionen physikalischer Begriffe in der Realität hinausläuft, gewinnt man dann auch automatisch eine Eindeutigkeit der Begriffe, da dies in der angewandten Definitionsweise liegt.

So zeigt z. B. die genaue Analyse, daß alle anderen experimentellen Massebestimmungen - außer der der schweren Masse -, eben auf letztere zurückgehen. Versucht man z. B. die sogenannte träge Masse eines Körpers experimentell zu bestimmen, so zeigt sich, daß man zu ihrer Ermittlung stets schon der Kenntnis der "Elastizität" des Körpers in dem hier benötigten Sinn bedarf, und daß diese Kenntnis nicht zu gewinnen ist, ohne selbst schon wieder einen Massenbegriff zu verwenden, der dann eben nur der der schweren Masse sein kann. So ist es kein Wunder, wenn die träge und schwere Masse stets als proportional gefunden wird. Wir bewirken es unbewußt durch die Art unseres experimentellen Vorgehens selbst (2).

Unsere durch einen Gegebenheitszufall sehr konstanten Verhältnisse gestatten uns, - wie gezeigt, - zu vielen Begriffen (z. B. Eisen, Kanarienvogel usw.) und ihren Definitionseigenschaften sehr konstante reale Äquivalente oft mit Leichtigkeit beizubringen. Diese Begriffe bilden die "konstanten empirischen Begriffe". Die Konstanz dieser Begriffe ist in einem vorwissenschaftlichen Stadium rein qualitativ und beruth in ihrer Konstatierung durch uns auf "irreduziblen Relationsurteilen" (welche insbesondere die Gleichheit oder Verschiedenheit von Erlebnissen qualitativ unmittelbar zu konstatieren erlauben, wobei außerdem einer oder beide der Komparanden nicht real, sondern nur repräsentativ gegeben zu sein brauchen, z. B. als Vorstellung, Erinnerung).

Auf dieser Basis der vorwissenschaftlichen Bildung konstanter empirischer Begriffe, die natürlich nur durch eine gegebenheitszufällige Konstanz der Verhältnisse und unsere ebenfalls durch einen Gegebenheitszufall vorhandenen "Fähigkeiten" zur Bildung unmittelbarer Relationsurteile möglich wird, erheben sich nun auch die Anfänge der "exakten Wissenschaft" und exakten Begriffe. Aber schon diese konstanten empirischen Begriffe hängen vielfach voneinander ab. Um das Thermometer und damit den Anfang einer vorsynthetischen Wärmemessung zu definieren, brauche ich den empirischen Begriff des Hg [Quecksilber - wp] und des Glases, implizit die der räumlichen Unveränderlichkeit (Starrheit) der Glasröhre und ihrer Undurchlässigkeit. Eine eventuell empirische Variabilität dieser Begriffe würde auch die empirische Wärmemessung beeinflussen. Und ähnlich in den meisten Fällen. Nun kommen hier im Bereich des Empirischen genau die analogen Überlegungen zur Geltung wie im Logischen. Und wie schon ARISTOTELES (An. post. 1. Buch 3. Kap.) die Frage nach der Ableitung der Sätze innerhalb des Systems der Wissenschaft ventiliert und die Möglichkeit, daß die Sätze gegenseitig auseinander hergeleitet werden, abweist, weil dadurch Zirkelbeweise entstehen, so werden wir auch im Bereich des empirischen aus ganz analogen Gründen empirische Zirkeldefinitionen zu vermeiden haben, uns vielmehr klar werden, daß deren Ausschluß nur gewährleistet werden kann durch ein "System", d. h. eine Ordnung der empirischen Begriffe derart, daß immer der definierte Begriff als abhängig (also im System als "später") erkannt ist, im Vergleich zu denen, die zu seiner Definition verwendet wurden. Sieht man ein, daß dieses Verhältnis auch im Empirischen herrscht, dann gewinnt das Letztere einen ganz anderen Anblick als gewöhnlich. Es erscheint nicht mehr als eine von uns bei der Begriffsbildung und rationalen Darstellung unbeeinflußte Gegebenheit, sondern als ein von uns zum Zweck des Verständnisses unter Führung rationaler Überlegungen manuell zu Bearbeitendes. Und dies bringt und die Laboratoriumstätigkeit des Physikers viel näher als die Anschauung, daß die im Laboratorium erhaltene Erscheinung unbeeinflußtr Natur ist. Sie ist auch Natur, aber eine unter einem Kontinuum von Möglichkeiten nach unserem bewußten oder unbewußten Willen durch unsere manuelle Tätigkeit ausgewählte und herausgearbeitete.

Das obige Beispiel vom Verhältnis der schweren und trägen Masse illustriert das hier Gesagte. Es zeigt zugleich die Wichtigkeit einer kritischen Analyse der manuellen Tätigkeiten des Physikers bei den verschiedenen Experimenten und bei deren Vorbereitung. Hier liegt ein ansich von der speziellen philosophischen Einstellung ganz unabhängiges, bisher völlig vernachlässigtes Gebiet der Physik vor. Es sei noch darauf hingewiesen, daß unsere, dem Empirismus kritisch gegenüberstehende Auffassung sich gerade auch in der erkenntniskritischen Betrachtung selbst geltend macht. Denn wir können jetzt auch nicht (etwa auf einem introspektiven) empirischen Weg zur Grundlegung der reinen Synthese feststellen, aß es die und die Wege gäbe, gültige Aussagen zu machen, indem wir etwa aussagen: "es gibt" solche und solche Urteile (3). Wir können also zusammenfassend etwa sagen:

Die fernere Geltung eines einmal ausgesprochenen Satzes, der sich auf Realität bezieht, in der Realität kann aus zwei Quellen entspringen.

1. Der Satz ist insofern tautologisch begründet, als er durch eine Undefinierbarkeitsstelle jederzeit mit der Realität in Übereinstimmung gebracht werden kann, z. B. "die Sonne erwärmt bei Abwesenheit störender Umstände den Stein" (um das alte kantische Beispiel zu gebrauchen). Die Undefinierbarkeitsstelle ist der Begriff "störende Umstände". Dieses Verfahren nenne ich "Exhaustion". Es hat natürlich nur einen Sinn, wenn es von einer einheitlichen Basis aus ganz systematisch betrieben wird, was dann zur "reinen Synthese" führt. Nur eine solche Undefiniertheitsstelle in einem Satz ermöglicht die dauernde Anpassung einer rationalen Gedankenform an die Realität.

Rein als Tatsache erwärmt die Sonne nämlich den Stein nicht immer. Sonst müßten bei Sonnenschein ohne Ausnahme alle "Steine" "warm" sein (ich sehe dabei von der völlig mangelnden Definition der Begriffe "Stein" und "warm" ab). Wenn es aber überhaupt Ausnahmen gibt, dann gilt auch der Satz nicht in der absoluten Form. Versucht man dann die nötigen Einschränkungen dem Satz anzufügen und meint die möglichen störenden Umstände einzeln aufführen zu können, dann erkennt man, daß man nie Sicherheit haben kann alle aufgezählt zu haben, daß diese Reihe so unbegrenzt ist (wobei natürlich über die Art der Feststellung dieser störenden Umstände noch viel zu sagen wäre). Der einzige Weg zu einer wirklichen, absolut gültigen Aussage ist also die Tautologie, d. h. eine stets erfüllbaren logische "Gleichung".

Diese tautologischen Sätze haben natürlich dauernde und absolute Geltung auch in der Realität.

2. Eine zweite Möglichkeit von Aussagen die auf (hier nur eine gewisse) Dauer der Geltung in der Realität rechnen können, besteht in der Formulierung "konstanter empirischer Aussagen". Das sind solche, von denen die realen Äquivalenzen aller beteiligten Begriffe eine solche praktische Konstanz aufweisen, daß eben auch die gleichen Umstände, welche bei einer Formulierung der Aussage bestanden, praktisch in einem absehbaren Zeitraum stets wieder hergestellt werden können und wo dann auch der gleiche Vorgang folgt, falls inzwischen nicht unbekannte, störende Umstände eingetreten sind, was einem Gegebenheitszufall zuzuschreiben ist. Zu dieser Gruppe gehören die meisten Aussagen der experimentellen Physik, diejenigen, welche nicht aus einer Deduktion erschlossen sind.

Im Vorstehenden wird nun die Realität als solche in einem gewissen Maß einfach vorausgesetzt (daher sind auch die meisten unserer Resultate unabhängig von der erkenntnistheoretischen Einstellung und als solche auch für den Physiker in zwingender Form darstellbar): nämlich in dem Maße, als der Begriff des "Gegebenheitszufalls" es bedingt. Dennoch aber geschieht mit ihr etwas auch erkenntnistheoretisch sehr Wichtiges: sie wird dadurch von der Verantwortung für die Allgemeinaussagen befreit. Wegen der Beschränktheit des zur Verfügung stehenden Raums kann ich auf den erkenntnistheoretischen Unterbau meiner Resultate nicht mehr weiter eingehen (4).

Bei dessen Untersuchung zeigt sich, daß man ein voll begründetes Recht zu einer Voraussetzung der Realität im genannten Umfang hat und eben in der gewonnenen Beschränkung dieser Voraussetzung liegen ja auch für die Grundprobleme der Erkenntnistheorie (Problem des Objekts, Verhältnis von Subjekt und Objekt) sehr bedeutende Verschiebungen.

II. Diese vorstehenden, notwendig nur kurzen und skizzenhaften Darlegungen werden es nun ermöglichen, die Ausführungen, welche RUDOLF CARNAP an dieser Stelle (Kant-Studien, Bd. 28, 1923) in seinem Aufsatz "Über die Aufgabe der Physik" gegeben hat, in einigen Punkten nachzuprüfen und zu ergänzen.

Vielleicht darf ich gleich die Frage des "Zeitgesetzes", wie CARNAP sagt, anschneiden. Sie stellt ein gutes Beispiel dar zur Anwendung des in I. Gesagten. Wenn man sich die Definition der Zeitmessung (etwa durch ein Pendel) betrachtet, dann stecken darin allerdings bereits Festsetzungen, aber nur solche qualitativer, allgemeinster Art. Diese Definition geschieht aufgrund des Satzes, daß bei gleichen sonstigen Umständen auch die zeitlichen Verhältnisse der Schwingung gleich sind. Dieser Satz ist aber nichts anderes als eine Definition dessen, was man unter "gleichen zeitlichen Verhältnissen" verstehen soll. Um zu dieser Definitioni reale Äquivalente zu haben, müssen bei einem Pendel also gleiche, d. h. unveränderliche "sonstige Verhältnisse" hergestellt werden. Dazu nun bedarf es am ersten Anfang der reinen Synthese nur der unmittelbaren Relationserkenntnisse.

Ist schon ein "Raumgesetz" aufgestellt, dann wird durch dessen Anwendung (die selbst ja auf Vergleichsurteilen beruth (5), die Konstatierung und Herstellung der Gleichheit der Umstände verfeinert. Noch mehr geschieht dies, wenn auch "kausale" Abhängigkeiten zur Konstanthaltung herangezogen werden; doch ist Letzteres nicht von Anbeginn an nötig. Die Zunahme der Genauigkeit der Zeitmessung erfolgt (grob gesprochen) proportional mit der Genauigkeit der manuell beherrschten Umstände. Dazu bedarf es jedoch nicht der Kenntnis und Anwendung des "Wirkungsgesetzes". Denn es handelt sich hier nur um eine Konstanthaltung der naheliegenden Umstände ("Umgebung"). Etwa "von außen einwirkende, störende Kräfte" würden erst dadurch definiert werden, daß unter gleich erscheinenden Umständen gleiche Pendel verschieden schwingen. So arbeitet nicht das Wirkungsgesetz die Zeit heraus, sondern letztere definiert gegebenfalls erst die später durch das Wirkungsgesetz zu erklärenden "Kräfte". Wir sehen hier klar, wie wir ausgehend von den unmittelbaren Relationserkenntnissen in der Realität durch ein Eingreifen unserer Festsetzungen in einem sukzessiven Prozeß unter fortgesetzter gegenseitiger Unterstützung derselben immer genauere empirische Begriffe, d. h. reale Äquivalente der Begriffe der reinen Synthese herausarbeiten. Zwei Zeitbestimmungen dieser Art gelten also solange als gleich, als nicht eine Verschiedenheit derselben empirisch bemerkt ist. So auch würden zunächst zwei entfernte, gleiche Pendeluhren unter gleichen Umständen solange als synchron gelten, als dies nicht (etwa durch Lichtsignale) widerlegt ist. Durch ein solches Auffinden immer neuer Verschiedenheiten und ihre Berücksichtigung (manuelle oder logische Eliminierung) erhalten wir immer genauere Äquivalente unserer Begriffe der reinen Synthesef. Ich pflege dies das "Prinzip der Genauigkeitsschichten" zu nennen.

Noch besser aber blicken wir in diese Zusammenhänge, wenn wir die geistreiche und anschauliche Darlegung CARNAPs von den 3 Bänden, in welchen die supponierte [unterstellte - wp] "vollendete" Darstellung der Physik enthalten sein soll, heranziehen.

Der 1. Band sollten den logischen Schematismus der Physik umfassen, der 2. Band ein Wörterbuch, das zu jedem "Gegenstand" der Realität die zugehörige "Formel" aus dem 1. Band nachweist. Der 3. Band enthält die Beschreibung des physikalischen Zustandes der Welt für zwei Zeitpunkte. Aus diesen 3 Bänden wäre dann entnehmbar, was zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort wahrnehmbar ist (CARNAP, a. a. O., Seite 102); sie würden der Kenntnis des Weltgeistes von LAPLACE, einer Weltformel entsprechen, sie würden die Realität in Bezug auf das Wissen über sie entbehrlich machen, ersetzen können. So enthält der 2. Band Sätze wie:
    "Einem solchen stechenden Geruch (Chlorgeruch) entspricht ein Gemenge von Elektronenkomplexen bestimmter Struktur (Cl-Atome)",
wobei bemerkt wird, daß nur die Übersetzung des physikalischen Tatbestandes in den phänomenologischen eindeutig ist, die umgekehrte nicht (a. a. O., Seite 100). Die Benutzung der Bände erfolgt so: Um also zu wissen, was illic et tunc [dort und dann - wp] phänomenologisch geschieht, wird aus den Zustandsbeschreibungen des 3. Bandes durch das logische System des 1., der Zustand für illic et tunc berechnet und dieser Zustand durch das Wörterbuch von Band 2 eindeutig in Empfindungsqualitäten ausgedrückt.

Zu dieser interessanten Fiktion ist nun Verschiedenes zu bemerken. Offenbar sollen die Zustandsbeschreibungen von Bd. 3 nicht phänomenologisch sein. Sie müßten also schon eine physikalische Interpretation des damals gegebenen phänomenologischen Zustandes darstellen (CARNAP weist hierauf Seite 101/102 ausdrücklich hin). Wir befinden uns also in Band 3 innerhalb der (Wort-)Sprache des physikalischen Systems, gehen mit Band 1 teil- oder zeitweise zur Formelsprache über (was logisch eindeutig ist) und werden im 2. Band dann zum Phänomenologischen zurückgelangen können. Das setzt voraus, daß man bei der Herstellung des 3. Bandes eindeutig vom Phänomenologischen zum Physikalischen übergehen kann, falls die Festsetzungen des 1. Bandes gemacht sind.

Es ist notwendig sich zu erinnern, daß ja die Idee der "vollendeten Physik", die doch das Wissen des LAPLACE'schen Geistes umfassen würde, eine Fiktion, einen unerreichbaren Limes darstellt, und deshalb wesentliche Züge vermissen läßt, die unsere wirkliche Physik dauernd von diesem Bild unterscheiden. Es wäre ja der Fall möglich, daß diese Züge für unsere erkenntnistheoretische Betrachtung unwesentlich wären. Dieser Fall dürfte jedoch hier nicht vorliegen. In der vollendeten Physik nämlich könnte keinerlei unerwarteter Umstand eintreten, und es wäre tatsächlich der Übergang unerwarteter Umstand eintreten, und es wäre tatsächlich der Übergang von der rationalen Formulierung zum Phänomenologischen, wie es im 2. Band geschieht, eindeutig. Solange aber der im 3. Band beschriebene Bereich extensiv und intensiv nur endlich (d. h. ein verschwindender Bruchteil des von der vollendeten Physik zu erfassenden Bereiches) ist, bleibt stets das Vorhandensein unerwarteter Umstände möglich, welche bewirken, daß beim Übergang von der errechneten rationalen Formulierung zum Phänomenologischen wir Letzteres nicht in der in Band 2 dafür angegebenen Weise vorfinden. Noch klarer wird diese Überlegung, wenn wir den Standpunkt etwas wechseln, und von der jeweils vorhandenen, also unvollendeten Physik ausgehen. Dann stellt sie die Tatsache dar, daß wir überhaupt das Phänomenologische niemals absolut in rationale Formulierungen einzufangen vermögen, daß immer wieder Fälle auftreten, wo statt des erwarteten und errechneten phänomenologischen Erlebnisses wir ein anderes vorfinden und daß wir überhaupt das Phänomenologische niemals absolut in rationale Formulierungen einzufangen vermögen, daß immer wieder Fälle auftreten, wo statt des erwarteten und errechneten phänomenologischen Erlebnisses wir ein anderes vorfinden, und daß wir dadurch gezwungen sind, diese Abweichung durch unerwartete "störende Umstände" zu erklären, die wir dann als aus dem noch unbekannten Gebiet des Seins hervorgekommen zu betrachten haben. So liefert uns nur das dauernde Vorhandensein eines solchen Gebietes die Möglichkeit, unerwartete Erscheinungen, die bei einem prinzipiellen Auseinanderfallen meiner rationalen Formulierungen und dem phänomenologischen Erleben stets zu erwarten sind, in ihrer Provenienz [Herkuft - wp] innerhalb unseres wissenschaftlichen Systems unterzubringen. Wenn solche unerwartete Erscheinungen an einem Ort und zu einer Zeit nur selten auftreten werden, ist dies nicht etwa dem metaphysischen Umstand zuzuschreiben, daß uns da eine absolut dauernde Fassung der Realität in unsere rationalen Formen gelungen ist, sondern muß, wie schon gesagt, einer zufälligen Beschaffenheit des gegebenen Raum-Zeit-Bereiches in dieser Hinsicht zugeschrieben werden, was ich oben als Gegebenheitszufall bezeichnet habe (6).

Theoretisch kann also, trotz genau berechneter Voraussagen, phänomenologisch alles Beliebige eintreten (mit der in der letzten Anmerkung genannten Ausnahme). Geschieht es nicht, so ist dies eine zufällige Beschaffenheit der Umgebung, geschieht es, dann bleibt mir, wenn ich nicht auf jede rationale Verarbeitung der Realität verzichten will, nichts übrig, als zu sagen, daß trotzdem meine Voraussage zu Recht besteht, - nur, - daß sie hier durch störende Umstände verdeckt ist ("Exhaustion"). Natürlich hat dieses Verfahren nur einen Sinne, falls es im Rahmen eines einzigen, geschlossenen Systems der rationalen Naturdarstellung ("reine Synthese") geschieht; es kann also nicht mit Fug in allen Fällen angewendet werden, wo die Vorgänge und deren rationale Darstellung erst erforscht werden sollen, wie die in den aktuellen Teilen der Physik meist der Fall ist. Hier tritt dann die Hypothese und deren empirische Widerlegung oder Stützung in ihr Recht, dort nämlich, wo diese Hypothese an die reine Synthese noch nicht angeschlossen ist (7). Die hier angedeuteten Verhältnisse finden sich noch näher bestätigt, wenn man den sogenannten Täuschungen nachgeht. Niemals ist ein rationaler Begriff, ein Allgemeinbegriff mit bestimmten phänomenologischen Erlebnissen absolut verknüpft; hier sind zwei Fälle möglich: Entweder der betreffende Allgemeinbegriff muß angewandt werden, trotzdem das Erlebnis nicht da ist. Dann ist er eben durch irgendwelche "störende" Umstände verdeckt. Nach Entfernung derselben erscheint das Erlebnis. Kein Wunder, denn die störenden Umstände waren ja gerade dadurch definiert, daß es durch ihre Entfernung zutage tritt. Im 2. Fall ist das Erlebnis vorhanden, aber keine Berechtigung, den Allgemeinbegriff anzuwenden. Dies ist der Fall der Täuschungen. So kann durchaus eine Rotempfindung vorhanden sein, ohne daß Licht von der betreffenden Wellenlänge gegeben ist usw.

Was das anschauliche Beispiel anbelangt, das CARNAP zur Behandlung der Frage der Einfachstheit beibringt (die systematische Darstellung der Positionen der Bäume eines Obstgartens Seite 95), so könnte dieses analog zu meinen obigen Darlegungen nur dann, wie es scheint, den vollen Vergleich liefern, wenn der Obstgarten und die Zahl der Bäume als unendlich vorausgesetzt wird, der Unerschöpfbarkeit der Realität entsprechend. Dann aber sieht man sofort, daß jedes weitere Fortschreiten im Obstgarten von einem Zentrum (der Erkenntnis) aus die bisherige Einfachstheit wieder umwerfen kann. Da nun der Moment einer solchen Erweiterung unserer "Erkenntnis" ganz unvorhersehbar ist, von ganz zufälligen Umständen abhäng, so erkennt man, welcher dauernden Unsicherheit man ausgesetzt bleibt, wenn man die Einfachstheit durch die Beschaffenheit des momentanen Erkenntnisbereiches bestimmt sein läßt (CARNAPs zweiter Weg Seite 104, was ich "außenbestimmte Einfachstheit" genannt habe.) (8) Dem kann auch CARNAPs Hinweis (Seite 96) auf die Beschaffenheit der in den letzten Jahrtausenden durchschrittenen Raum- und Zeitgebiete nicht abhelfen, denn die eventuell notwendig werdenden Änderungen des Darstellungssystems werden fast ausschließlich von einem weiteren Eindringen ins "Feine" bedingt, dessen Fortschritte aber hängen von gänzlich zufälligen Umständen ab.

Betrachtet man dagegen CARNAPs ersten Weg, das Kriterium der Einfachstheit anzuwenden (was ich "innenbestimmte Einfachstheit" genannt habe), dann erkennt man, daß dieser Weg eine absolute Sicherheit und Dauer der Darstellungsgesetze der Realität gewährt und diese unabhängig macht von den Schwankungen und Zufälligkeiten des praktischen experimentellen Forschungsganges, der durch seine notwendige Abhängigkeit vom Gegebenheitszufall natürlich eine völlige Unsicherheit für die Darstellungsgesetze der Realität mit sich bringen würde, wenn wir ihn zur bestimmenden Grundlage derselben machen wollten.
LITERATUR - Hugo Dingler, Theorie und Empirie, Kantstudien, Bd. 28, Berlin 1923
    Anmerkungen
    1) siehe Dingler, Übergreifende Begriffsbildung und Kausalität, Zeitschrift für positivistische Philosophie, Bd. 1, Berlin 1913
    2) Siehe meine Abhandlung "Das Problem des absoluten Raumes. In historisch-kritischer Behandlung.", Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik 1923 (auch selbständig Leipzig 1923).
    3) Näheres siehe die zweite Auflage meiner "Grundlagen der Physik", Berlin/Leipzig 1923.
    4) Ich darf dafür auf die völlig neu bearbeitete zweite Auflage meiner "Grundlagen der Physik" hinweisen, wo diese Probleme ausführlich behandelt werden (besonders auch das Problem der Geltung, das stillschweigend hier überall hereinspielt).
    5) Siehe meine Schrift "Relativitätstheorie und Ökonomieprinzip", Leipzig 1922, Seite 35f.
    6) Dies gilt nur für Experimente, die in ihrem rationalen Äquivalent noch nicht auf eine Tautologie zurückgeführt sind. Solche müssen natürlich stets identisch eintreffen (z. B. daß ein aus drei Seiten gezeichnetes Dreieck stets drei Winkel hat). Die der aktuellen Forschungsphysik angehörigen Experimente sind aber meist noch nicht so weit verarbeitet, noch auch unmittelbar schon verarbeitbar.
    7) Näheres siehe die zweite Auflage meiner "Grundlagen der Physik".
    8) Dingler, "Relativitätstheorie und Ökonomieprinzip", Leipzig 1922. - Bezüglich einer Bemerkung Carnaps (Seite 105), daß es bei mir nur anziehende Kräfte gibt, möchte ich hinzufügen, daß meine Darstellung in den "Grundlagen der Physik" tatsächlich diesen Eindruck erwecken muß. Dieser entsteht jedoch nur, weil auch ich an dieser Stelle zu sehr den "Limes" in der Darstellung zu Wort kommen ließ. In Wirklichkeit tritt zu den anziehenden Kräften der elastische Stoß stets ergänzend hinzu, da niemals eine völlige Aufspaltung in Attraktionen im Endlichen in Betracht kommt und der Limes bei unseren Überlegungen, wie wir oben sahen, keine ausschlaggebende Rolle spielen darf (siehe "Grundlagen der Physik", zweite Auflage).