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JOHANN GOTTLIEB FICHTE
(1762 - 1814)
Die Grundzüge des
gegenwärtigen Zeitalters

[2/2]

"Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach Vernunft einrichte." "Die Vernunft ist das Grundgesetz des Lebens einer Menschheit, so wie alles geistigen Lebens; und auf diese, und keine andere Weise soll in diesen Vorträgen das Wort Vernunft genommen werden."


Erste Vorlesung
Ehrwürdige Versammlung!

Wir heben hiermit an eine Reihe von Betrachtungen, welche jedoch im Grunde nur einen einzigen, durch sich selbst eine organische Einheit ausmachenden Gedanken ausdrücken. Könnte ich diesen einen Gedanken in derselben Klarheit, mit der er mir beiwohnen mußte, ehe ich an das Unternehmen ging, und mit welcher er mich leiten muß bei jedem einzelnen Wort, das ich sagen werde, auch Ihnen sogleich mitteilen: so würde vom ersten Schritt an das vollkommenste Licht sich verbreiten über den ganzen Weg, den wir miteinander zu machen haben. Aber ich bin genötigt, diesen einen Gedanken vor Ihren Augen erst allmählich aus allen seinen Teilen aufzubauen, und aus allen seinen bedingenden Ingredenzien [Inhalten - wp] herauszuläutern: dies ist die notwendige Beschränkung, welche jedwede Mitteilung drückt; und durch dieses ihr Grundgesetz allein wird zu einer Reihe von Gedanken und Betrachtungen ausgedehnt und zerspalten, was ansich nur ein einziger Gedanke gewesen wäre.

Da dieses sich so verhält, so muß ich, zumal weil hier nicht alte bekannte Sachen nur wiederholt, sondern neue Ansichten der Dinge gegeben werden sollen, voraussetzen und darauf rechnen, daß es Sie nicht befremdet, wenn im Anfang nichts diejenige Klarheit hat, die es nach dem Grundgesetz aller Mitteilung erst durch das nachfolgende erhalten kann: und ich muß Sie ersuchen, die vollkommene Klarheit erst am Schluß, und nachdem die Übersicht des Ganzen möglich geworden ist, zu erwarten. Daß jedoch jedweder Gedanke an seine Stelle zu stehen kommt, und diejenige Klarheit erhellt, die er an dieser ihm gebührenden Stelle erhalten kann, - es versteht sich für diejenigen, die der deutschen Büchersprache mächtig und fähig sind einem zusammenhängenden Vortrag zu folgen - ist die Pflicht eines jeden, der es unternimmt etwas vorzutragen; und ich werde mit ernster Mühe mich bestreben, diese Pflicht zu erfüllen.

Lassen Sie und jetzt, nach dieser ersten und einzigen Vorerinnerung, ohne weiteren Aufenthalt an unser Geschäft gehen.

Ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen Zeitalters ist es, was diese Vorträge versprechen. Philosophisch aber kann nur diejenige Ansicht genannt werden, welche ein vorliegendes Mannigfaltiges der Erfahrung auf die Einheit des Einen gemeinschaftlichen Prinzips zurückführt, und wiederum aus dieser Einheit jedes Mannigfaltigen erschöpfend erklärt und ableitet. - Der bloße Empiriker, falls er an eine Beschreibung des Zeitalters ginge, würde manche auffallende Phänomene desselben, so wie sie sich ihm in der zufälligen Beobachtung darbieten, auffassen und herzählen, ohne je sicher sein zu können, daß er sie alle erfaßt hat, und ohne je einen anderen Zusammenhang derselben angeben zu können, als den, daß sie nun eben in ein und derselben Zeit beisammen sind. Der Philosoph, der sich die Aufgabe einer solchen Beschreibung setzt, würde unabhängig von aller Erfahrung einen Begriff des Zeitalters, der als Begriff in gar keiner Erfahrung vorkommen kann, aufsuchen, und die Weisen, wie dieser Begriff in der Erfahrung eintritt, als die notwendigen Phänomene dieses Zeitalters darlegen; und er würde in dieser Darlegung die Phänomene begreiflich erschöpft, und sie in der Notwendigkeit ihres Zusammenhangs untereinander mittels ihres gemeinsamen Grundbegriffs abgeleitet haben. Jener wäre der Chronikenmacher des Zeitalters, dieser erst hätte einen Historiographen desselben möglich gemacht.

Zuvörderst: hat der Philosophie die in der Erfahrung möglichen Phänomene aus der Einheit seines vorausgesetzten Begriffs abzuleiten, so ist klar, daß er zu seinem Geschäft durchaus keiner Erfahrung bedarf, und daß er bloß als Philosoph, und innerhalb seiner Grenzen streng sich haltend, ohne Rücksicht auf irgendeine Erfahrung und schlechthin a priori, wie sie dies mit dem Kunstausdruck benennen, sein Geschäft treibt, und, in Beziehung auf unseren Gegenstand, die gesamte Zeit und alle möglichen Epochen derselben a priori beschreiben können muß. Ganz eine andere Frage aber ist es, ob nun insbesondere die Gegenwart durch diejenigen Phänomene, welche aus dem aufgestellten Grundbegriff fließen, charakterisiert werden, und ob somit das vom Redner geschilderte Zeitalter das gegenwärtige ist, falls er auch dieses behaupten sollte, wie wir das z. B. behaupten werden. Hierüber hat ein jeder bei sich selbst die Erfahrungen seines Lebens zu befragen, und sie mit der Geschichte der Vergangenheit, sowie mit seinen Ahnungen von der Zukunft zu vergleichen: indem an dieser Stelle das Geschäft des Philosophen zu Ende ist, und das des Welt- und Menschenbeobachters seinen Anfang nimmt. Wir unseres Ortes gedenken hier nichts weiter zu sein, als Philosophen, und haben uns zu nichts anderem verbunden: die letztere Beurteilung wird daher, so bald wir zur Stelle sein werden, ganz Ihnen anheimfallen. Jetzt bleiben wir bei unserem Vorhaben, unsere Grundaufgabe erst recht festzusetzen und zu bestimmen.

Sodann: jede einzelne Epoche der gesamten Zeit, die wir soeben erwähnt haben, ist Grundbegriff eines besonderen Zeitalters. Diese Epochen aber und Grundbegriffe der verschiedenen Zeitalter können nur neben- und durcheinander, mittels ihres Zusammenhangs zur gesamten Zeit, gründlich verstanden werden. Es ist daher klar, daß der Philosoph, um auch nur ein einziges Zeitalter, und, falls er will, das seinige, richtig zu charakterisieren, die gesamte Zeit und alle ihre möglichen Epochen schlechthin a priori verstanden und innigst durchdrungen haben muß.

Dieses Verstehen der gesamten Zeit setzt, so wie alles philosophische Verstehen, wiederum einen Einheitsbegriff dieser Zeit voraus, einen Begriff einer vorher bestimmten, obgleich allmählich sich entwickelnden Erfüllung dieser Zeit, in welcher jedes folgende Glied bedingt ist durch vorhergehendes: oder, um dies kürzer und auf die gewöhnliche Weise auszudrücken: es setzt einen Weltplan voraus, der in seiner Einheit sich klar begreifen, und aus welchem die Hauptepochen des menschlichen Erdenleben sich vollständig ableiten und in ihrem Ursprung sowie in ihrem Zusammenhang untereinander sich deutlich einsehen lassen. Der erstere, jener Weltplan, ist der Einheitsbegriff des gesamten menschlichen Erdenlebens; die letzteren, die Hauptepochen dieses Lebens, sind die eben erwähnten Einheitsbegriffe jedes besonderen Zeitalters, aus denen wiederum desselben Phänomene abzuleiten sind.

Wir haben Folgendes: zuvörderst einen Einheitsbegriff des gesamten Lebens, der sich spaltet in verschiedene Epochen, die nur neben- und durcheinander begreiflich sind; sodann, jede dieser besonderen Epochen ist wiederum Einheitsbegriff eines besonderen Zeitalters, und erscheint in mannigfaltigen Phänomenen.

Das Erdenleben der Menschheit gilt uns hier für das gesamte eine Leben, und die irdische Zeit für die gesamte Zeit; dies ist die Grenze, in welche die beabsichtigte Popularität unseres Vortrags uns einschränkt; indem vom Überirdischen und Ewigen sich nicht gründlich reden läßt, und zugleich populär. Hier, sage ich, in diesen Vorträgen, gilt sie uns dafür; denn ansich und für den höheren Aufschwung der Spekulation ist das menschliche Erdenleben und die irdische Zeit selbst nur eine notwendige Epoche der einen Zeit und des einen ewigen Lebens; und dieses Erdenleben, samt seinen Nebengliedern, läßt sich aus dem schon hiernieden vollkommen möglichen Einheitsbegriff des ewigen Lebens ableiten. Bloß unsere dermalen freiwillige Beschränkung verbietet uns, diese streng erweisende Ableitung zu unternehmen und verstattet uns nur den Einheitsbegriff des Erdenlebens deutlich anzugeben, mit der Anmutung an jeden Zuhörer, diesen Begriff an seinem eigenen Wahrheitsgefühl zu erproben, und ihn richtig zu finden, falls er es vermag. "Erdenleben der Menschheit" haben wir gesagt, und Epochen dieses Erdenlebens der Menschheit. Wir reden hier nur vom Fortschreiten des Lebens der Gattung, keineswegs von dem der Individuen, - welches letztere durch alle diese Vorträge hindurch an seinen Ort gestellt bleibt, - und ich versuche, daß Sie diesen Gesichtspunkt sich nie verschwinden lassen.

Der Begriff eines Weltplans also wird unserer Untersuchung vorausgesetzt, den ich, aus dem angegebenen Grund, hier keineswegs abzuleiten, sondern nur anzuzeigen habe. Ich sage daher, - und lege damit den Grundstein des aufzuführenden Gebäudes - ich sage: der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach Vernunft einrichte.

Mit Freiheit habe ich gesagt, ihre eigene, der Menschheit Freiheit, diese Menschheit als Gattung genommen; und diese Freiheit ist die erste Nebenbestimmung unseres aufgestellten Hauptbegriffs, aus der ich zu folgern gedenke, ich überlasse aber die übrigen Nebenbestimmungen, welche wohl ebenfalls einer Erklärung bedürfen möchten, den folgenden Vorträgen. Diese Freiheit soll im Gesamtbewußtsein der Gattung erscheinen, und eintreten als ihre eigene Freiheit, als wahre wirkliche Tat und als Erzeugnis der Gattung in ihrem Leben, und hervorgehend aus ihrem Leben; daß sonach die Gattung, als überhaupt existierend, dieser ihr zuschreibenden Tat vorausgesetzt werden müßte. (Soll eine genannte Person etwas getan haben, so wird vorausgesetzt, daß sie vor der Tat, um den Entschluß zu fassen, und während der Tat, um ihn auszuführen, existiert hat; und jedermann dürfte wohl den Beweis der Nichtexistenz derselben zu der Zeit, zugleich für den Beweis des Nichtgetanhabens zu derselben Zeit, gelten lassen. Gleichermaßen - soll die Menschheit, als Gattung, etwas getan haben und erscheinen, als es getanhabend, so muß dieser Tat notwendig die Existenz der Gattung in einer Zeit, da sie es noch nicht getan hatte, vorausgesetzt werden.)

Durch diese Bemerkung zerfällt zuvörderst, nach dem aufgestellten Grundbegriff, das Erdenleben des Menschengeschlechts in zwei Hauptepochen und Zeitalter: die eine, da die Gattung lebt und ist, ohne noch mit Freiheit ihre Verhältnisse nach der Vernunft eingerichtet zu haben; und die andere, da sie diese vernunftmäßige Einrichtung mit Freiheit zustande bringt.

Um unsere weitere Folgerung von der ersten Epoche anzuheben - daraus, daß die Gattung noch nicht mit freier Tat ihre Verhältnisse nach der Vernunft eingerichtet hat, folgt nicht, daß diese Verhältnisse sich überhaupt nicht nach ihr richten; und es soll darum durch das erstere keineswegs das letztere zugleich mitgesagt sein. Es wäre ja möglich, daß die Vernunft durch sich selber und ihre eigene Kraft, ohne alles Zutun der menschlichen Freiheit, die Verhältnisse der Menschheit bestimmt und ordnet. Und so verhält es sich dann auch wirklich. Die Vernunft ist das Grundgesetz des Lebens einer Menschheit, so wie alles geistigen Lebens; und auf diese, und keine andere Weise soll in diesen Vorträgen das Wort Vernunft genommen werden.

Die Vernunft ist das Grundgesetz des Lebens einer Menschheit, so wie alles geistigen Lebens; und auf diese, und keine andere Weise soll in diesen Vorträgen das Wort Vernunft genommen werden. Ohne die Wirksamkeit dieses Gesetzes kann ein Menschengeschlecht gar nicht zum Dasein kommen, oder, wenn es dazu kommen könnte, es kann ohne diese Wirksamkeit keinen Augenblick im Dasein bestehen. Demnach, wo, wie in der ersten Epoche, die Vernunft noch nicht mittels der Freiheit wirksam sein kann, ist sie als Naturgesetz und Naturkraft wirksam; doch so, daß sie im Bewußtsein, nur ohne Einsicht der Gründe, somit in einem dunklen Gefühl (denn so nennen wir das Bewußtsein ohne Einsicht der Gründe) eintritt und sich wirksam zeigt.

Kurz und auf die gewöhnliche Weise ausgedrückt: Die Vernunft wirkt als dunkler Instinkt, wo sie nicht durch die Freiheit wirken kann. So wirkt sie in der ersten Hauptepoche des Erdenleben der menschlichen Gattung; und hierdurch wäre dann diese erste Epoche näher charakterisiert und genauer bestimmt.

Durch diese genauere Bestimmung der ersten Epoche ist, mittels des Gegensatzes, zugleich auch die zweite Hauptepoche des Erdenlebens näher bestimmt. Der Instinkt ist blind, ein Bewußtsein ohne Einsicht der Gründe. Die Freiheit, als der Gegensatz des Instinkts, ist daher sehend und sich deutlich bewußt der Gründe ihres Verfahrens. Aber der Gesamtgrund dieses Verfahrens der Freiheit ist die Vernunft; der Vernunft sonach ist sie sich bewußt, deren der Instinkt sich nicht bewußt war. Demnach tritt zwischen beides, die Vernunftherrschaft durch den bloßen Instinkt, und die Herrschaft derselben Vernunft durch die Freiheit, noch ein uns bis jetzt neues Mitglied ein: das Bewußtsein oder die Wissenschaft der Vernunft.'

Aber weiter: der Instinkt, als blinder Trieb, schließt die Wissenschaft aus; darum setzt die Erzeugung der Wissenschaft die Befreiung von des Instinkts dringendem Einfluß als schon geschehen voraus, und es tritt zwischen die Herrschaft des Vernunftinstinkts und die Vernunftwissenschaft abermals ein drittes Glied in die Mitte: die Befreiung vom Vernunftinstinkt.

Aber wie könnte doch die Menschen vom Gesetz ihres Lebens, welches mit geliebter und verborgener Gewalt sie beherrscht, vom Vernunftinstinkt sich befreien auch nur wollen; oder wie könnte im menschlichen Leben die eine Vernunft, welche im Instinkt spricht, und die im Trieb, sich von ihm zu befreien, gleichfalls tätig ist, mit sich selber in Streit und Zwiespalt geraten? Offenbar nicht unmittelbar; es müßte daher abermals ein neues Mittelglied eintreten zwischen die Herrschaft des Vernunftinstinktes und den Trieb, sich von ihm zu befreien. Dieses Mittelglied ergibt sich so: die Resultate des Vernunftinstinkts werden von den kräftigeren Individuen der Gattung, in denen eben darum dieser Instinkt sich am lautesten und ausgedehntesten ausspricht, aus der so natürlichen, als voreilenden Begierde, die ganze Gattung zu sich zu erheben, oder vielmehr sich selber als Gattung aufzustellen, zu einer äußerlich gebietenden Autorität gemacht, und mit Zwangsmitteln aufrecht erhalten; und nun erwacht bei den übrigen die Vernunft zuvörderst in ihrer Form als Trieb der persönlichen Freiheit, welcher nie gegen den sanften Zwang des eigenen Instinkts, den er liebt, wohl aber gegen das Aufdrängen eines fremden Instinkts, der in sein Recht eingreift, sich auflehnt; und zerbricht bei diesem Erwachen die Fessel, nicht des Vernunftinstinkts ansich, sondern des zu einer äußeren Zwangsanstalt verarbeiteten Vernunftinstinkts fremder Individuen. Und so ist die Verwandlung des individuellen Vernunftinstinkts in eine zwingende Autorität das Mittelglied, welches zwischen die Herrschaft des Vernunftinstinkts und die Befreiung von dieser Herrschaft in die Mitte tritt.

Und um endlich diese Aufzählung der notwendigen Glieder und Epochen des Erdenlebens unserer Gattung zu vollenden: - durch die Befreiung vom Vernunftinstinkt wird die Wissenschaft der Vernunft möglich, haben wir oben gesagt. Nach den Regeln dieser Wissenschaft sollen nun durch die freie Tat der Gattung alle ihre Verhältnisse eingerichtet werden. Aber es ist klar, daß zur Ausführung dieser Aufgabe die Kenntnis der Regel, welche allein doch nur durch die Wissenschaft gegeben werden kann, nicht ausreicht, sondern daß es dazu noch einer eigenen Wissenschaft des Handelns, die nur durch Übung zur Fertigkeit sich bildet, mit einem Wort: daß es dazu noch der Kunst bedarf. Diese Kunst, die gesamten Verhältnisse der Menschheit nach der vorher wissenschaftlich aufgefaßten Vernunft einzurichten (denn in diesem höheren Sinn werden wir uns hier immer des Wortes Kunst, wenn wir es ohne Beisatz aussprechen, bedienen), - diese Kunst wäre nun vollständig auf alle Verhältnise der Menschheit anzuwenden und durchzuführen, so lange bis die Gattung als ein vollendeter Abdruck des ewigen Urbildes in der Vernunft dasteht; und sodann wäre der Zweck des Erdenlebens erreicht, das Ende desselben erschienen, und die Menschheit beträte die höheren Sphären der Ewigkeit.

Wir haben soeben das gesamte Erdenleben durch seinen Endzweck begriffen, - eingesehen, warum unser Geschlecht überhaupt in dieser Sphäre sein Dasein beginnen sollte, und so das gesamte ehemalige Leben der Gattung beschrieben; und dieses eben wollten wir, und es war unsere nächste Aufgabe. Es gibt, zufolge dieser Auseinandersetzung, fünf Grundepochen des Erdenlebens; deren jede, da sie doch immer von Individuen ausgehen, aber, um Epoche im Leben der Gattung zu sein, allmählich alle ergreifen und durchdringen muß, eine geraume Zeit dauern, und so das Ganze zu sich scheinbar durchkreuzenden und zum Teil nebeneinander fortlaufenden Zeitaltern ausdehnen wird.
    1) Die Epoche der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den Instinkt: der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts.

    2) Die Epoche, da der Vernunftinstinkt in eine äußerlich zwingende Autorität verwandelt ist: das Zeitalter positiver Lehr- und Lebenssysteme, die nirgends zurückgehen bis auf die letzten Gründe, und deswegen nicht zu überzeugen vermögen, dagegen aber zu zwingen begehren, und blinden Glauben und unbedingten Gehorsam fordern: der Stand der anhebenden Sünde.

    3) Die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmäßigkeit des Vernunftinstinkts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit.

    4) Die Epoche der Vernunftwissenschaft: das Zeitalter, wo die Wahrheit als das Höchste anerkannt, und am höchsten geliebt wird: der Stand der anhebenden Rechtfertigung.

    5) Die Epoche der Vernunftkunst: das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdruck der Vernunft aufbaut: der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung. -
Der gesamte Weg aber, den zufolge dieser Aufzählung die Menschheit hiernieden macht, ist nichts anderes, als ein Zurückgehen zu dem Punkt, auf welchem sie gleich anfangs stand, und beabsichtigt nichts, als die Rückkehr zu seinem Ursprung. Nur soll die Menschheit diesen Weg auf ihren eigenen Füßen gehen; mit eigener Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zutun gewesen ist; und darum mußte sie aufhören es zu sein. Könnte sie nicht selber sich machen zu sich selber, so wäre sie eben kein lebendiges Leben; und es wäre sodann überhaupt kein Leben wirklich geworden, sondern alles verharrt in einem toten, unbeweglichen und staaren Sein. - Im Paradies, - daß ich eines bekannten Bildes mich bediene - im Paradies des Rechttuns und Rechtseins ohne Wissen, Mühe und Kunst, erwacht die Menschheit zum Leben. Kaum hat sie Mut gewonnen, ein eigenes Leben zu wagen, so kommt der Engel mit dem feurigen Schwewrt des Zwangs zum Rechtsein, und treibt sie aus dem Sitz ihrer Unschuld und ihres Friedens. Unstet und flüchtig durchirrt sie nun die leere Wüste, kaum sich getrauend, den Fuß irgendwo festzusetzen, in Angst, daß jeder Boden unter ihrem Fußtritt versinkt. Kühner geworden durch die Not, baut sie sich endlich dürftig an, und reißt im Schweiße ihres Angesichts die Dornen und Disteln der Verwilderung aus dem Boden, um die geliebte Frucht der Erkenntnis zu erziehen. Vom Genuß derselben werden ihr die Augen aufgetan und die Hände stark, und sie erbaut sich selber ihr Paradies nach dem Vorbild des verlorenen; der Baum des Lebens erwächst ihr, sie streckt ihre Hand aus nach der Frucht und ißt und lebt in Ewigkeit.

Dies ist die für unseren Zweck ausreichende Schilderung des Erdenlebens im Ganzen, und in allen seinen einzelnen Epochen. - So gewiß das uns gegenwärtige Zeitalter ein Teil des Erdenlebens ist, was wohl keiner bezweifeln wird; so gewiß ferner keine anderen Teile dieses Lebens möglich sind, als die angegebenen fünf, wie ich dieses erwiesen habe: so gewiß steht unser Zeitalter in einem der angegebenen Punkte. In welchem nun unter den fünfen, wird meine Sache sein, nach meiner Weltkenntnis und Weltbeobachtung anzuzeigen, und die notwendigen Phänomene des aufgestellten Prinzips zu entwickeln; und die Ihrige, sich zu erinnern, und um sich zu blicken, ob Ihnen nicht diese Phänomene ihr ganzes Leben hindurch innerlich und äußerlich aufgestoßen sind und noch aufstoßen; und dieses ist das Geschäft unserer künftigen Vorträge.

Das gegenwärtige Zeitalter im Ganzen, meine ich; denn da oben bemerkt wurde, daß gar füglich ihrem geistigen Prinzip nach verschiedene Zeitalter in ein und derselben chronologischen Zeit in mehreren Individuen sich durchkreuzen und nebeneinander fortfließen können: so läßt sich erwarten, daß dasselbe auch in unserem Zeitalter der Fall sein mag, daß daher unsere, das apriorische Prinzip auf die Gegenwart anwendende Welt- und Menschenbeobachtung nicht gerade alle früher lebenden Individuen, sondern nur diejenigen betreffen möge, die da wirklich Produkte ihrer Zeit sind, und in denen diese Zeit sich am klarsten ausspricht. Es kann einer hinter seinem Zeitalter zurück sein, weil er während seiner Bildung nie mit einer sattsamen Masse der allgemeinen Individualität in Berührung gekommen ist, der enge Zirkel aber, in welchem er sich gebildet hat, noch ein Überrest der alten Zeit ist. Es kann ein anderer seinem Zeitalter vorgeeilt sein, und in seiner Brust schon den Anfang der neuen Zeit tragen, indessen rund um ihn her die für ihn alte, in der Wahrheit aber wirkliche, frühere und gegenwärtige herrscht. Die Wissenschaft endlich setzt über alle Zeit und alle Zeitalter hinweg, indem sie die eine, sich selber gleiche Zeit als den höheren Grund aller Zeitalter erfaßt, und ihrer freien Betrachtung unterwirft. Von allen dreien ist, in der Schilderung irgendeiner gegenwärtigen Zeit, nicht die Rede.

Es ist nunmehr die Aufgabe unserer gesamten Vorträge, in diesem Winter und in diesen Stunden, genau bestimmt, und, wie es mir scheint, klar ausgedrückt und angekündigt; und dies war der Zweck unserer heutigen Rede. Bloß über die äußere Form dieser Vorträge erlauben Sie mir noch einige Worte.

Wie auch immer unser Urteil über das Zeitalter ausfallen mag, und in welche Epoche wir auch dasselbe zu stellen uns gedrungen fühlen möchten, so erwarten Sie doch hier weder den Ton der Klage, noch den der Satire, zumal der persönlichen. Nicht den der Klage: das ist eben die süßeste Belohnung der philosophischen Betrachtung, daß, da sie alles in seinem Zusammenhang ansieht, und nichts vereinzelt erblickt, sie alles notwendig, und darum gut findet, und das, was da ist, sich gefallen läßt, so wie es ist, weil es, um des höheren Zweckes willen, sein soll. Auch ist es unmännlich, mit Klagen über das vorhandene Übel Zeit zu verlieren, die man besser weiser anwendet, um, so viel in unseren Kräften steht, das Gute und Schöne zu schaffen. Nicht den der Satire: ein Gebrechen, das die ganze Gattung trifft, ist kein Gegenstand des Spottes eines Individuums, das zu dieser Gattung gehört, und welches, wie es sich auch stellen mag, doch einmal auch durch dieses Gebrechen hindurch gemußt hat. Individuen aber verschwinden nun vollends vor dem Blick des Philosophen, und fallen ihm alle zusammen in die eine große Gemeine. Seine Charakteristik faßt jedes Ding in einer Schärfe und Konsequenz auf, zu der es das ewige Schwanken in der Wirklichkeit nie kommen läßt; sie trifft darum keine Person, und nie herabfallend bis zum Porträt, bleibt sie in der Sphäre des idealisierten Gemäldes. Über den Nutzen von Betrachtungen dieser Art wird es schicklicher sein, Sie selber, besonders dann, wenn Sie einen beträchtlichen Teil davon schon hinter sich haben werden, urteilen zu lassen, als Ihnen im Voraus vieles darüber zu preisen. Niemand ist entfernter, als der Philosoph, von dem Wahn, daß durch seine Bestrebungen das Zeitalter sehr merkwürdig fortrücken wird. Jeder, dem es Gott verliehen hat, soll freilich alle seine Kräfte für diesen Zweck anstrengen, sei es auch nur um seiner selbst willen, und damit er im Zeitenfluß denjenigen Platz behauptet, der ihm angewiesen ist. Übrigens geht die Zeit ihren festen, ihr von Ewigkeit her bestimmten Tritt, und es läßt in ihr durch einzelne Kraft sich nichts übereilen, oder erzwingen. Nur die Vereinigung aller, und besonders der innewohnende ewige Geist der Zeit und der Welten vermag zu fördern.

Was meine gegenwärtigen Bestrebungen betrifft, so wird es mir ein schmeichelhafter Lohn sein, wenn ein gebildetes und verständiges Publikum sich während einiger Stunden dieses halben Jahres auf eine anständige und seiner würdige Weise unterhalten, und so lange in eine über die Geschäfte so wie Erholungen des gewöhnlichen Lebens erhebende, freiere und reinere Stimmung, und in einen geistigeren Äther sich hineinversetzt finden sollte. Dürfte es sich zumal zutragen, daß in irgendein junges kräftiges Gemüt ein Funken fiele zu fortdauerndem Leben, der aus meinen vielleicht schwachen Gedanken bessere und vollkommenere entwickelt, und die rüstige Entschließung, sie zu realisieren, anzündet: so würde mein Lohn vollkommen sein.

In diesem Geist habe ich es über mich vermocht, Sie auf Vorträge, wie der gegenwärtige, einzuladen; in diesem Geist beurlaube ich mich jetzt von Ihnen, um es Ihrer eigenen Überlegung zu überlassen, ob Sie noch ferner gemeinschaftlich mit mir zu denken begehren.
LITERATUR - Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, dargestellt in Vorlesungen gehalten zu Berlin, im Jahre 1804-1805, erste Auflage, Berlin 1806, in "Johann Gottlieb Fichtes Sämtliche Werke", hg. von J. H. Fichte, Bd. 7, Berlin 1846