tb-1Leonhard NelsonVorrede 2. Auflage    
 
JAKOB FRIEDRICH FRIES
Neue Kritik der Vernunft
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"Es geht die allgemeine Sage: auf dem Gebiet der Philosophie sei irgendwo ihr oberster und erster Anfang, in welchem aus der  einen Einheit  der Quell aller Wahrheit entspringe. Dieses Gebiet aufzufinden, sei das wahre Rätsel des philosophischen Steins der Weisen. Gar mancher ging auf dieses Abenteuer aus und glaubte den Fund gemacht zu haben, aber fast jeder stellte sich schon unter dem, was er suchte, etwas anderes vor. Es soll aus  einem  obersten alles Einzelne, Besondere, Mannigfaltige bald begründet, bald bewiesen, erklärt, deduziert, indifferenziert werden. Wodurch die Sache bald eine logische, bald eine dunklere metaphysische Bedeutung bekommt."

"Der Mißgriff des transzendentalen Beweises hat eigentlich den Anschein von Unvollständigkeit in das Kantische System gebracht, seine Folgen sind die Ursache aller späteren Fehler seiner Schüler geworden und nur dadurch erhielt die gute Sache seiner Kritik nicht Deutlichkeit genug, um mit Festigkeit allgemein anerkannt zu werden."

"Beweisen heißt nur, ein Urteil aus  anderen Urteilen  ableiten, welches in Schlüssen geschieht. Die Grundsätze einer Wissenschaft können nicht bewiesen werden. Man hat sich dagegen mit der Hypothese geholfen, was in einer Wissenschaft als Grundsatz vorausgesetzt werde, müsse in einer höheren doch noch dem Beweis unterworfen werden. Diese Hypothese ist aber durchaus unrichtig. Jede Wissenschaft hat ihre eigenen Grundurteile und jedes ganze System in unserem Wissen beruth für sich auf Grundsätzen, die gar keinem Beweis mehr unterworfen werden können."


Was durch KANT unmittelbar klar wurde, war die Unzulänglichkeit alles englischen und französischen Empirismus, denn er wies in unserem Geist als Tatsache ein Bewußtsein von Allgemeinheit und Notwendigkeit auf, welches nach jenen Grundsätzen schlechthin unmöglich sein müßte. Auf der anderen Seite war aber auch gegen den natürlichen Rationalismus durch JACOBI und KANT klar, daß die logischen Formen der Reflexion mit ihrer Identität und ihrem Widerspruch, daß die bloßen Beweise nicht hinlangten, um uns spekulative Gewißheit zu verschaffen. Man wurde nun so ziemlich über den Ausdruck einig, daß die bisherige Behandlung der Philosophie als  Reflexionsphilosophie  zu verwerfen sei und fühlte das Bedürfnis anstatt der mittelbaren Gewißheit der Beweise eine  unmittelbare Erkenntnis der Vernunft  als eigentlichen Quell spekulativer Wahrheiten nachzuweisen. Dabei benahmen sich nun verschiedene sehr verschieden, die meisten aber kamen darauf überein, eine unmittelbare Erkenntnis des Unbedingten, Absoluten, des über das Endliche erhabenen Ewigen einzuleiten, welches Einige durch ein dem Wissen entgegengesetztes Glauben, andere durch ein unmittelbares höchstes Wissen der intellektuellen Anschauung zu erreichen hofften.

Diese geschichtlichen Momente sind hinreichend, um den rein spekulativen Geist unserer Zeit in deutscher Philosophie zu fassen und zu begreifen. Was mehr oder weniger laut im einzelnen über dieses hinaus gesagt worden ist, ist mehr Modesache als Eigentum des Zeitgeistes.

Unter den Philosophen, die am meisten gehört wurden, brachte REINHOLD, indem er die fehlende Einheit zum Kantischen System hinzu suchen wollte, das rationalistische Vorurteil unter der Formel wieder bestimmt in Anregung: es sei der Zweck aller theoretischen Wissenschaft und Spekulation, all unser Wissen aus einem höchsten Prinzip abzuleiten. Dieses Prinzip sollte anfangs logisch ein Grundsatz sein, wandte sich aber bald metaphysisch herum und wurde zur Idee des Universums oder der Gottheit. Hier faßt man denn die Aufgabe der Philosophie unter die Formel: Das Wesen der Dinge aus dem Wesen der Gottheit zu begreifen. Und so klar es nun auch für jede besonnene Sprache ist, daß alles durch die Gottheit sei, wie es ist, wenn die Idee der Gottheit Realität hat; daß aber der Mensch das Wesen der Gottheit weder fassen noch begreifen könne, noch viel weniger also das Wesen der Dinge aus ihm: so ist doch diese Idee von der Philosophie für den Augenblick unter uns so ausgebreitete Modesache geworden, daß man sie fast das charakteristische des Geistes unserer Spekulation nennen möchte.

FICHTE mit seinem reinen Ich; BARDILI mit seinem  prius,  REINHOLD mit seinem Denken als Denken, SCHELLING mit seiner absoluten Vernunft und die ganze SCHELLINGsche Schule mit ihrer absoluten Wissenschaft und ihrer Wissenschaft des All stimmen darauf zusammen, daß ihre Philosophie das Wesen der Dinge aus der ewigen Einheit erkennen will. Doch der Fehler ist hier so offen am Tage, daß diese Idee nie mehr als vorübergehende Modesache werden kann. Sobald nämlich jede Schule ihre Sprache hinlänglich wird ausgebildet haben, wird es sich von selbst ergeben, daß sie nur die nachbildliche menschliche Weltanschauung mit der Idee eines vorbildlichen göttlichen Verstandes verwechselt und in der Aufgabe ihrer Philosophie ihre menschliche Vernunft in jene göttliche hinüber geworfen haben.

Wenn ich nun durch vorliegende Schrift den Gang der Spekulation um einige Schritte weiter führen will: so fragt sich erstlich, welchen im Geiste der Zeit liegenden Vorurteilen werde ich hier begegnen müssen und zweitens welche Anforderungen wird dieser Geist der Zeit an mich machen, welche soll er an mich machen?

Zunächst wollen wir aus der bisherigen Darstellung das erstere genauer entwickeln. Die Fortschritte der Spekulation in neuerer Zeit lassen sich im allgemeinen so bezeichnen:
    1) Vollendung der Spekulationi aus dem rationalistischen Vorurteil: alle Wahrheit müsse aus einem obersten Prinzip begriffen werden, durch die Systeme von SPINOZA, LEIBNIZ und WOLFF.

    2) Gegenversuch einer Spekulation aus dem empirischen Vorurteil der Anschauung in LOCKEs Versuchen über den menschlichen Verstand, worin er die Empfindung zum alleinigen Quell unserer Wahrheit machen will.

    3) Vollendung dieses Empirismus in der HUMEschen Darstellung, in welcher der Empirismus seinen richtigen Standpunkt für die Philosophie annimmt, durch die Ableugnung aller spekulativen Wahrheit, wenn man nur der Anschauung trauen darf.

    4) Vereinigung der empirischen und rationalistischen Ansicht durch die Kantische Kritik der Vernunft.
Wir sehen also in dieser Geschichte einen Streit zwischen den Vorurteilen des natürlichen Empirismus und Rationalismus, die der mit einem Ausgleichungsversuch zwischen beiden endet. Unsere Frage ist daher eigentlich: was ist im philosophischen Geist unserer Zeit durch Streit und Ausgleichung wirklich über die Einseitigkeit jener Vorurteile gewonnen? und was mag noch von ihr übrig geblieben sein?

Hier können wir mit dem reinen LOCKEschen Vorurteil leicht fertig werden, KANT hat darauf so bestimmt und deutlich geantwortet, daß kein gebildeter Selbstdenker mehr in diesen Fehler verfallen kann. Der einzige Grund der LOCKEschen Ansicht war der, daß jede menschliche Erkenntnis durch Sinn und Empfindung bestimmt wird und mit Empfindung anfängt. Darauf antwortet aber KANT: wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit sinnlicher Empfindung anfängt, so entspringt sie doch nicht alle aus dieser, sondern sie kommt uns nur bei Gelegenheit der Empfindung zu Bewußtsein. Hätten wir nur sinnliche Anschauung, so wäre dadurch der Begriff der Notwendigkeit und Allgemeinheit in unserem Verstand nicht einmal möglich, auch vorausgesetzt, daß er sich gar nicht anwenden ließe; nun besitzt unser Geist sogar in Mathematik und Philosophie notwendige Erkenntnisse, die nach LOCKEs Theorie ganz unmöglich sein müßten, diese ist also auf jeden Fall einseitig.

Die HUMEsche Vollendung dieses Empirismus ist aber bei weitem nicht so rein vernichtet, wie die LOCKEsche Darstellung, weil in ihr auch das rationalistische Vorurteil zur Sprache kommt.

Dieses ist das Vielgestaltige, welches, wenn es von einer Seite abgewiesen ist, doch immer wieder auf andere Art seine Fehler mitteilt. Es geht die allgemeine Sage: auf dem Gebiet der Philosophie sei irgendwo ihr oberster und erster Anfang, in welchem aus der  einen Einheit  der Quell aller Wahrheit entspringe. Dieses Gebiet aufzufinden, sei das wahre Rätsel des philosophischen Steins der Weisen. Gar mancher ging auf dieses Abenteuer aus und glaubte den Fund gemacht zu haben, aber fast jeder stellte sich schon unter dem, was er suchte, etwas anderes vor. Es soll aus  einem  obersten alles Einzelne, Besondere, Mannigfaltige bald begründet, bald bewiesen, erklärt, deduziert, indifferenziert werden. Wodurch die Sache bald eine logische, bald eine dunklere metaphysische Bedeutung bekommt. SPINOZA und LEIBNIZ nahmen die Sache ganz metaphysisch und wollten das Wesen aller Dinge aus der Einheit eines höchsten Wesens begreifen. Sollte eine solche Lehre aber wirklich aufgestellt werden, so müßte sie doch unter der logischen Form eines Systems erscheinen, WOLFF also machte sich eigentlich ganz dieselbe Aufgabe, nur daß er sie von ihrer logischen Seite ansah: wir sollen alles unser Wissen in ein logisches System anordnen und so aus einem höchsten Prinzip beweisen.

HUME setzte wieder die nämliche Aufgabe voraus, machte dagegen die Einwendung: wie wollt ihr dann einen Beweis für die Anwendbarkeit der Begriffe von Ursache und Wirkung mit Notwendigkeit finden? und antwortete: aus den sinnlichen Impressionen, mit denen jede Erkenntnis anfängt, folgt die Gültigkeit dieser Begriffe nicht, also könnt ihr ihnen keine Gültigkeit als nach Gewohnheit verschaffen.

KANT endlich griff das WOLFFische Vorurteil von manchen Seiten an, erstlich in der Hauptsache dadurch, daß er die WOLFFische Methode als dogmatisch für die Philosophie verwarf und die kritische das System nur vorbereitende Untersuchung für das Wichtigste erklärte; zweitens darin, daß er zeigt; ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit sei ein Widerspruch, indem jedes allgemeine Prinzip der menschlichen Vernunft nur formal ist; drittens darin, daß er zeigt, die spekulative Vernunft für sich gar nichts zu beweisen vermöge. Mit all dem aber hatte er den Satz gegen dieses Vorurteil doch nicht auf den einfachsten Ausdruck gebracht, er fällt sogar, eben in der Art, wie er seine Kritik der Vernunft behandelt, wieder selbst unter das nämliche Vorurteil. KANT gibt es HUME stillschweigend als anerkannte Wahrheit zu und setzt mit allen anderen voraus: was die  reine Vernunft  behaupte, das müsse sie erst einem  Beweis  unterworfen haben. Diese Voraussetzung liegt in  seiner  Idee der Deduktion der Kategorien, sie verleitet ihn zu dem Widerspruch, daß er in der Kritik der reinen Vernunft ein System der  Grundsätze  des reinen Verstandes aufstellt, wo er doch für jeden, wiewohl er ein Grundsatz sein soll, noch einen sogenannten transzendentalen Beweis führt aus seinem angeblich obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori, dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung. (Vorzüglich aus Kritik der reinen Vernunft, Methodenlehre I, Von der Disziplin der Vernunft zeigt sich, daß KANT wirklich die Absicht seiner Deduktion mit Beweis verwechselt.) Der Mißgriff dieses transzendentalen Beweises hat eigentlich den Anschein von Unvollständigkeit in das Kantische System gebracht, wogegen REINHOLD zu arbeiten anfing, seine Folgen sind die Ursache aller späteren Fehler seiner Schüler geworden und nur dadurch erhielt die gute Sache seiner Kritik nicht Deutlichkeit genug, um mit Festigkeit allgemein anerkannt zu werden.

Wir haben uns also jetzt immer noch zu verwahren, erstlich gegen das  natürliche Vorurteil des Rationalismus überhaupt;  zweitens gegen eine besondere Folge desselben, welche ich das  HUMEsche Vorurteil  nenne und drittens gegen ein  eigentümlich Kantisches Vorurteil  oder das Vorurteil des transzendentalen.


1) Das rationalistische Vorurteil überhaupt

An der EUKLIDischen Geometrie haben wir das Beispiel einer Wissenschaft unter der strengen Form des logisch-dogmatischen Systems, jeder abgeleitete Begriff tritt hier nur durch seine Definition auf und jeder abgeleitete Satz findet seine Stelle nur durch den Beweis aus vorhergehenden. Das logische Ideal vom Zustand unseres Wissens wäre nun: unser ganzes Wissen durchaus auf die nämliche Art systematisch behandelt. Das ist auch wirklich der Form nach das Ziel der Ausbildung unseres Verstandes. Aus dieser Idee hat sich aber eine Regel aller philosophischen Beurteilungen gebildet, nach der man voraussetzt, es gebe eine gewisse Architektonik der Wissenschaften, in dieser sei einer jeden einzelnen ihre Stelle im Ganzen so angewiesen, daß sie unter anderen steht, in denen ihre Grundsätze bewiesen werden, z. B. Maschinenlehre steht unter der reinen Mechanik und diese unter der reinen Mathematik und das so fort bis man an eine oberste und erste Wissenschaft, die Begründerin aller anderen komme, welche der Sage nach die Philosophie sein soll. (Wer Lust hat, die Pyramide ganz zuzuspitzen, nimmt dann noch mit REINHOLD und FICHTE an: die oberste Wissenschaft habe wieder nur einen höchsten Grundsatz, aus dem also alle menschliche Weisheit fließe.) Wer nun irgendeine Wissenschaft regelmäßig theoretisch behandeln wolle, der müsse zuvor nachsehen, wo sie in dieser Reihe stehe und dürfe dann ja an ihrem Anfang nichts weiter voraussetzen, als was schon in höheren Wissenschaften festgesetzt worden ist. Zum Beispiel in der reinen Geometrie darf nicht von Bewegung die Rede sein, denn die ist ein Begriff aus der angewandten Mathematik; in der Logik darf man weder Psychologie noch Metahphysik voraussetzen, denn die stehen unter ihr, in ihr gibt es noch keine Ursachen, keine Naturgesetze und keine produktive Einbildungskraft.

An diese Regel werden wir uns aber gar nicht binden, sie ist ein irriges Vorurteil aus der richtigen logischen Idee. Wir werden nämlich erstens zeigen, daß das logische System unseres Wissens kein aus seiner Spitze entspringender Lichtkegel sei, sondern gar manche voneinander unabhängige Anfangspunkte habe, wie schon ganz einfach daraus folgt, daß im System nur Sätze durch Schlüsse aneinander gereiht werden, jeder Schluß aber außer seinem Prinzip im Obersatz noch einen unabhängig davon gegebenen Untersatz fordert, damit nur  ein  Schlußsatz entstehe. Aus  einem  Grundsatz entspringt also keine Wissenschaft. Zweitens diese Regel ist eigentlich der Dogmatismus, vor welchem KANT so sehr warnt. Nur in einer Wissenschaft, in welcher man, wie in reiner Mathematik, unmittelbar mit dem Allgemeinsten und dem System selbst dogmatisch anfangen kann, ohne unverständlich zu werden, kann man auch der Klassifikation der Begriffe so folgen, daß man nie beim übergeordneten den untergeordneten schon als bekannt annimmt. Das findet aber bei keiner Wissenschaft statt, welche der regressiven oder kritischen Methode bedarf, wie dies bei Erfahrungswissenschaften und Philosophie der Fall ist, denn da macht man sich das Höhere eben erst durch den untergeordneten einzelnen Fall bekannt. Wer z. B. streng jener vermeintlichen Regel folgen wollte, der dürfte im Vortrag der Logik weder vom Verstand noch vom Denken sprechen, denn das sind psychologische Begriffe, welche nur in die Vorbereitung zur Logik, aber nicht in das System ihrer Gesetze gehören.

Die Ursache, wodurch sich dieses Vorurteil bei sonst noch so verschiedenen Ansichten so allgemein in Ansehen erhält, liegt in der nicht hinlänglich deutlich gedachten rationalistischen Grundforderung:  Reduktion aller unserer Erkenntnisse auf Einheit;  deren Ansprüche man zu unbegrenzt gelten läßt. Wozu dann noch für die logisch systematische Form ein Mißverstand des logischen Satzes vom Grunde kommt. Dieser logische Satz vom Grunde wird nämlich meist so allgemein ausgesprochen, daß er ungefähr fordert: jede Erkenntnis muß ihren hinreichenden Grund haben; nun sagt man weiter: Beweisen heißt eine Erkenntnis aus ihren Gründen ableiten - folglich muß jede Erkenntnis bewiesen werden können. In diesem Schluß sind aber beide Prämissen falsch und mit ihnen auch der Schlußsatz.
    Erstens, die Logik hat es nicht mit aller Erkenntnis überhaupt, sondern nur mit der  gedachten Erkenntnis,  d. h. mit dem Urteil zu tun. Für Urteile allein läßt sich der Satz des Grundes anwenden und zugleich leicht beweisen, denn jedes Urteil ist nur das mittelbare Bewußtsein einer anderen Erkenntnis, die in ihm wiederholt wird.

    Zweitens, die angegebene Erklärung des Beweises taugt nichts. Beweisen heißt nur, ein Urteil aus  anderen Urteilen  ableiten, welches in Schlüssen geschieht. Die Grundsätze einer Wissenschaft können nicht bewiesen werden. Man hat sich dagegen mit der Hypothese geholfen, was in einer Wissenschaft als Grundsatz vorausgesetzt werde, müsse in einer höheren doch noch dem Beweis unterworfen werden. Diese Hypothese ist aber durchaus unrichtig. Jede Wissenschaft hat ihre eigenen Grundurteile und jedes ganze System in unserem Wissen beruth für sich auf Grundsätzen, die gar keinem Beweis mehr unterworfen werden können. Dies kann indessen erst durch Wegräumung des transzendentalen Vorurteils klar werden. Aber jeder Satz, selbst jeder Grundsatz steht unter der Bedingung des logischen Satzes vom Grunde, er muß seinen anderweitigen Grund haben. Die Hauptsache ist, daß wir Begründung der Urteile und Beweis gehörig zu unterscheiden wissen. Gerade da, wo der Beweis aufhört, wo wir nicht mehr ein Urteil auf andere stützen, sondern die Grundsätze als erste Urteile aussprechen, da fragt sich: auf welche unmittelbare Erkenntnis gründet sich der Grundsatz? Ist diese unmittelbare Erkenntnis eine Anschauung, so wird der Grundsatz durch Demonstration, durch Nachweisung seines Wertes in der Anschauung, wie bei Mathematik und Erfahrungssätzen, begründet. Ist sie aber, wie in der Philosophie, keine Anschauung, so heit die Begründung dann Deduktion.
Hier entspringt das transzendentale Vorurteil aus der Verwechslung des Beweises mit der Deduktion und das ist der schlimmste Fehler, welcher aus jener falschen Regel des systematischen folgt. Wer unter dieser Voraussetzung Deduktionen versucht, dem verwandeln sie sich in logische  Zirkel im Beweis  oder wenn andererseits wichtige Deduktionen unter dieser Voraussetzung geprüft werden sollen, so hält der Beurteiler sie fälschlich für solche Zirkel.

Ersteres ist den Worten nach der Fall mit KANTs Deduktionen in der Kritik der reinen Vernunft. Er will die Grundsätze des reinen Verstandes aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung beweisen; wie kann er aber aus dieser das Gesetz der Kausalität beweisen wollen, da Erfahrung ja nur in der Wechselwirkung unserer sinnlichen und verständigen Erkenntniskräfte gegründet ist? oder noch deutlicher: wie will er das Gesetz der Möglichkeit überhaupt aus dem Gesetz der Möglichkeit der Erfahrung beweisen? da würde ja gegen alle Regel philosophischer Erkenntnisse das allgemeine Gesetz aus einem einzelnen Fall desselben folgen.

Für das andere, so hat man auch meinen philosophischen Deduktionen Schuld gegeben, daß sie ein Zirkel im Beweis seien, das sind sie aber nicht, denn sie sind gar kein Beweis. Sie gehören vielmehr zu einer Theorie dieser Erkenntnisse und der Fall kommt beständig ohne alle Schwierigkeit bei allen Induktionen in der Physik vor. Aus einzelnen Tatsachen lerne ich z. B. die Phänomene der Elektrizität kennen und führe sie auf ihre allgemeinsten Gesetze zurück; nehme dann diese Gesetze als Grundgesetz einer Theorie der Elektrizität an und erkläre aus ihnen wieder jene Tatsachen, mit denen ich anfing. Einmal geht mein Raisonnement vorbereitend den regressiven, dann erst als Folge den progressiven Gang des Systems. Auf eine ganz ähnliche Weise gehen wir von der Beobachtung unseres Erkennens aus, zeigen dadurch, wie die  menschliche Erkenntniskraft  beschaffen sei, erheben uns zu einer Theorie derselben, zeigen, welche Prinzipien dieser Theorie gemäß in unserer Erkenntnis liegen müssen und leiten nun erst wieder die einzelnen Erkenntnisse und Urteile aus diesen Prinzipien ab. Sollten jene Grundsätze durch dieses Verfahren auf irgendeine Art bewiesen werden, so wäre das Verfahren freilich durchaus inkonsequent, denn wir zeigen aus einer Theoie der Erkenntnisse, warum sie in unserer Vernunft vorkommen und diese Theorie des Erkennens ist nur ein einzelner Teil der inneren Naturlehre, wogegen jene Grundsätze zum Teil die ersten Gesetze aller Natur überhaupt sind. Ihre Wahrheit wird also schon vorausgesetz unter den Gründen ihrer Deduktion.
LITERATUR - Jakob Friedrich Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft I, Heidelberg 1807