p-4Der GolemPeter Schlemihl    
 
E. T. A. HOFFMANN
Der Sandmann
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"Nathanael versank in düstere Träumereien und trieb es bald so seltsam, wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war ihm Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene, vergeblich lehne man sich dagegen auf, demütig müsse man sich dem fügen, was das Schicksal verhängt habe. Er ging so weit, zu behaupten, daß es töricht sei, wenn man glaube, in Kunst und Wissenschaft nach selbsttätiger Willkür zu schaffen; denn die Begeisterung, in der man nur zu schaffen fähig sei, komme nicht aus dem eigenen Innern, sondern sei das Einwirken irgendeines außer uns selbst liegenden höheren Prinzips."

Clara an Nathanael

Wahr ist es, daß Du recht lange mir nicht geschrieben hast, aber dennoch glaube ich, daß Du mich in Sinn und Gedanken trägst. Denn meiner gedachtest Du wohl recht lebhaft, als Du Deinen letzten Brief an Bruder LOTHAR absenden wolltest und die Aufschrift, statt an ihn, an mich richtetest. Freudig erbrach ich den Brief und wurde den Irrtum erst bei den Worten inne: Ach mein herzlieber LOTHAR! - Nun hätte ich nicht weiter lesen, sondern den Brief dem Bruder geben sollen. Aber, hast Du mir auch sonst manchmal in kindischer Neckerei vorgeworfen, ich hätte solch' ruhiges, weiblich besonnenes Gemüt, daß ich wie jene Frau, drohe das Haus den Einsturz, noch vor schneller Flucht ganz geschwinde einen falschen Kniff in der Fenstergardine glattstreichen würde, so darf ich doch wohl kaum versichern, daß Deines Briefes Anfang mich tief erschütterte. Ich konnte kaum atmen, es flimmerte mir vor den Augen. - Ach, mein herzgeliebter NATHANAEL! was konnte so Entsetzliches in Dein Leben getreten sein! Trennung von Dir, Dich niemals wieder sehen, der Gedanke durchfuhr meine Brust wie ein glühender Dolchstich. - Ich las und das! - Deine Schilderung des widerwärtigen COPPELIUS ist gräßlich. Erst jetzt vernahm ich, wie Dein guter alter Vater solch entsetzlichen, gewaltsamen Todes starb. Bruder LOTHAR, dem ich sein Eigentum zustellte, suchte mich zu beruhigen, aber es gelang ihm schlecht. Der fatale Wetterglashändler GUISEPPE COPPOLA verfolgte mich auf Schritt und Tritt und beinahe schäme ich mich, es zu gestehen, daß er selbst meinen gesunden, sonst so ruhigen Schlaf in allerlei wunderlichen Traumgebilden zerstören konnte. Doch bald, schon den andern Tag, hatte sich alles anders in mir gestaltet. Sei mir nur nicht böse, mein Inniggeliebter, wenn LOTHAR Dir etwa sagen möchte, daß ich trotz Deiner seltsamen Ahnung, COPPELIUS werde Dir etwas Böses antun, ganz heitern unbefangenen Sinnes bin, wie immer.

Gerade heraus will ich es Dir nur gestehen, daß, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig Teil hatte. Widerwärtig genug mag der alte COPPELIUS gewesen sein, aber daß er Kinder haßte, das brachte in Euch Kindern wahren Abscheu gegen ihn hervor.

Natürlich verknüpfte sich nun in  Deinem  kindischen Gemüt der schreckliche Sandmann aus dem Ammenmärchen mit dem alten COPPELIUS, der Dir, glaubtest Du auch nicht an den Sandmann, ein gespenstischer, Kindern vorzüglich gefährlicher, Unhold blieb. Das unheimliche Treiben mit Deinem Vater zur Nachtzeit war wohl nichts anders, als daß beide insgeheim alchimistische Versuche machten, womit die Mutter nicht zufrieden sein konnte, da gewiß viel Geld unnütz verschleudert und obendrein, wie es immer mit solchen Laboranten der Fall sein soll, des Vaters Gemüt ganz vom trügerischen Drang nach hoher Weisheit erfüllt, der Familie abwendig gemacht wurde. Der Vater hat wohl gewiß durch eigene Unvorsichtigkeit seinen Tod herbeigeführt und COPPELIUS ist nicht Schuld daran! Glaubst Du, daß ich den erfahrenen Nachbar Apotheker gestern frug, obwohl bei chemischen Versuchen eine solche augenblicklich tötende Explosion möglich sei? Der sagte: Ei allerdings und beschrieb mir nach seiner Art gar weitläufig und umständlich, wie das zugehen könne und nannte dabei soviel sonderbar klingende Namen, die ich gar nicht zu behalten vermochte. - Nun wirst Du wohl unwillig werden über deine CLARA, Du wirst sagen: in dieses kalte Gemüt dringt kein Strahl des Geheimnisvollen, das den Menschen oft mit unsichtbaren Armen umfaßt! sie erschaut nur die bunte Oberfläche der Welt und freut sich, wie das kindische Kind über die goldgleißende Frucht, in deren Innerem tödliches Gift verborgen.

Ach mein herzgeliebter NATHANAEL! glaubst Du denn nicht, daß auch in heiteren - unbefangenen - sorglosen Gemütern die Ahnung wohnen könne von einer dunklen Macht, die feindlich Uns in Unserem eigenen Selbst zu verderben strebt? - Aber verzeih' es mir, wenn ich einfältig' Mädchen mich unterfange, auf irgendeine Weise Dir anzudeuten, was ich eigentlich von solchem Kampf im Innern glaube. - Ich finde wohl gar am Ende nicht die rechten Worte und Du lachst mich aus, nicht, weil ich was Dummes meine, sondern weil ich mich so ungeschickt anstelle, es zu sagen. -

Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einen gefahrvollen verderblichen Weg, den wir sonst nicht betreten haben würden - gibt es eine solche Macht, so muß sie sich in Uns, wie wir selbst gestalten, ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen. Haben wir festen, durch das heitere Leben gestärkten Sinn genug, um fremdes feindliches Einwirken als solches stets zu erkennen und den Weg, in den uns Neigung und Beruf geschoben, ruhigen Schrittes zu verfolgen, so geht wohl jene unheimliche Macht unter in dem vergeblichen Ringen nach der Gestaltung, die unser eigenes Spiegelbild sein sollte. Es ist auch gewiß, fügt LOTHAR hinzu, daß die dunkle physische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht, so, daß wir selbst nur den Geist entzünden, der, wie wir in wunderlicher Täuschung glauben, aus jener Gestalt spricht. Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung auf unser Gemüt uns in die Hölle wirft oder in den Himmel verzückt. - Du merkst, mein herzlieber NATHANAEL! daß wir, ich und Bruder LOTHAR uns recht über die Materie von dunklen Mächten und Gewalten ausgesprochen haben, die mir nun, nachdem ich nicht ohne Mühe das Hauptsächlichste aufgeschrieben, ordentlich tiefsinnig vorkommt. LOTHARs letzte Worte verstehe ich nicht ganz, ich ahne nur, was er meint und doch ist es mir, als sei alles sehr wahr. Ich bitte  Dich,  schlage Dir den häßlichen Advokaten COPPELIUS und den Wetterglasmann GUISEPPE COPPOLA ganz aus dem Sinn. Sei überzeugt, daß diese fremden Gestalten nichts über Dich vermögen; nur der Glaube an ihre feindliche Gewalt kann sie Dir in der Tat feindlich machen. Spräche nicht aus jeder Zeile Deines Briefes die tiefste Aufregung Deines Gemütes, schmerzte mich nicht Dein Zustand recht in innerster Seele, wahrhaftig, ich könnte über den Advokaten Sandmann und den Wetterglashändler COPPELIUS scherzen. Sei heiter - heiter ! - Ich habe mir vorgenommen, bei Dir zu erscheinen, wie Dein Schutzgeist und den häßlichen COPPOLA, sollte er sich etwa beikommen lassen, Dir im Traum beschwerlich zu fallen, mit lautem Lachen fortzubannen. Ganz und gar nicht fürchte ich mich vor ihm und vor seinen garstigen Fäusten, er soll mir weder als Advokat ein Naschwerk, noch als Sandmann die Augen verderben.

Ewig, mein herzinniggeliebter NATHANAEL!




Nathanael an Lothar

Sehr unlieb ist es mir, daß CLARA neulich den Brief an Dich aus, freilich durch meine Zerstreutheit veranlaßtem, Irrtum erbrach und las. Sie hat mir einen sehr tiefsinnigen philosophischen Brief geschrieben, worin sie ausführlich beweist, daß COPPELIUS und COPPOLA nur in meinem Innern existieren und Phantome meines Ichs sind, die augenblicklich zerstäuben, wenn ich sie als solche erkenne. In der Tat, man sollte gar nicht glauben, daß der Geist, der aus solch holdlächelnden Kindesaugen, oft wie ein lieblicher süßer Traum, hervorleuchtet, so gar verständig, so magistermäßig distinguieren könne. Sie beruft sich auf Dich. Ihr habt über mich gesprochen. Du liesest ihr wohl logische Kollegia, damit sie alles fein sichten und sondern lerne. - Laß das bleiben! - Übrigens ist es wohl gewiß, daß der Wetterglashändler GUISEPPE COPPOLA keineswegs der alte Advokat COPPELIUS ist. Ich höre bei erst neuerdings angekommenen Professor der Physik, der, wie jener berühmte Naturforscher, SPALANZANI heißt und italienischer Abkunft ist, Kollegia. Der kennt den COPPOLA schon seit vielen Jahren und überdem hört man es auch seiner Aussprache an, daß er wirklich Piemonteser ist. COPPELIUS war ein Deutscher, aber wie mich dünkt, kein ehrlicher. Ganz beruhigt bin ich nicht. Haltet Ihr, Du und CLARA, mich immerhin für einen düsteren Träumer, aber nicht los kann ich den Eindruck werden, den COPPELIUS verfluchtes Gesicht auf mich macht. Ich bin froh, daß er fort ist aus der Stadt, wie mir SPALANZANI sagt. Dieser Professor ist ein wunderlicher Kauz. Ein kleiner rundlicher Mann, das Gesicht mit starken Backenknochen, seiner Nase, aufgeworfenen Lippen, kleinen stechenden Augen. Doch besser, als in jeder Beschreibung, siehst Du ihn, wenn Du den CAGLIOSTRO, wie er von CHODOWIECKI in irgendeinem Berlinischen Taschenkalender steht, anschauest. - So sieht SPALANZANI aus. - Neulich steige ich die Treppe herauf und nehme wahr, daß die sonst einer Glastüre dicht vorgezogene Gardine zur Seite einen kleinen Spalt läßt. Selbst weiß ich nicht, wie ich dazu kam, neugierig durchzublicken. Ein hohes, sehr schlank im reinsten Ebenmaß gewachsenes, herrlich gekleidetes Frauenzimmer saß im Zimmer vor einem kleinen Tisch, auf den sie beide Arme, die Hände zusammengefaltet, gelegt hatt. Sie saß der Tür gegenüber, so, daß ich ihr engelschönes Gesicht ganz erblickte. Sie schien mich nicht zu bemerken und überhaupt hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe möcht' ich sagen, keine Sehkraft, es war mir so, als schliefe sie mit offenen Augen. Mir wurde ganz unheimlich und deshalb schlich ich leise fort ins Auditorium, das daneben gelegen. Nachher erfuhr ich, daß die Gestalt, die ich gesehen, SPALANZANIs Tochter, OLYMPIA war, die er sonderbarer und schlechter Weise einsperrt, so, daß durchaus kein Mensch in ihre Nähe kommen darf. - Am Ende hat es eine Bewandtnis mit ihr, sie ist vielleicht blödsinnig oder sonst. - Weshalb schreibe ich Dir aber das alles? Besser und ausführlicher hätte ich Dir das mündlich erzählen können. Wisse nämlich, daß ich über vierzehn Tage bei Euch bin. Ich muß mein süßes liebes Engelsbild, meine CLARA, wiedersehen. Weggehaucht wird dann die Verstimmung sein, die sich (ich muß das gestehen) nach dem fatalen verständigen Brief meiner bemeistern wollte. Deshalb schreibe ich auch heute nicht an sie.

Tausend Grüße.



Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden, als dasjenige ist, was sich mit meinem armen Freund, dem jungen Studenten NATHANAEL, zugetragen und was ich Dir, günstiger Leser! zu erzählen unternommen. Hast Du, Geneigtester! wohl jemals etwas erlebt, das Deine Brust, Sinn und Gedanken ganz und gar erfüllte, alles andere daraus verdrängend? Es gährte und kochte in Dir, zur siedenden Glut entzündet sprang das Blut durch die Adern und färbte höher Deine Wangen. Dein Blick war so seltsam als wolle er Gestalten, keinem anderen Auge sichtbar, im leeren Raum erfassen und die Rede zerfloß in dunkle Seufzer. Da frugen Dich die Freunde: Wie ist Ihnen, Verehrter? - Was haben Sie, Teurer? Und nun wolltest Du das innere Gebilde mit allen glühenden Farben und Schatten und Lichtern aussprechen und mühtest Dich ab, Worte zu finden, um nur anzufangen. Aber es war Dir, als müßtest Du nun gleich im ersten Wort alles Wunderbare, Herrliche, Entsetzliche, Lustige, Grauenhafte, das sich zugetragen, recht zusammengreifen, so daß es, wie ein elektrischer Schlag, alle treffe. Doch jedes Wort, alles was Rede vermag, schien Dir farblos und frostig und tot. Du suchst und suchst und stotterst und stammelst und die nüchternen Fragen der Freunde schlagen, wie eisige Windeshauche, hinein in Deine innere Glut, bis sie verlöschen will. Hattest Du aber, wie ein kecker Maler, erst mit einigen verwegenen Strichen den Umriß Deines inneren Bildes hingeworfen, so trugst Du mit leichter Mühe immer glühender und glühender die Farben auf und das lebendige Gewühl mannigfacher Gestalten riß die Freunde fort und sie sahen, wie Du, sich selbst mitten im Bild, das aus Deinem Gemüt hervorgegangen! Mich hat, wie ich es Dir, geneigter Leser! gestehen muß, eigentlich niemand nach der Geschichte des jungen NATHANAEL gefragt; Du weißt ja aber wohl, daß ich zu dem wunderlichen Geschlecht der Autoren gehöre, denen, tragen sie etwas so in sich, wie ich es vorhin beschrieben, so zu Mute wird, als frage jeder, der in ihre Nähe kommt und nebenher auch wohl noch die ganze Welt: Was ist es denn? Erzählen Sie Liebster! - So trieb es mich denn gar gewaltig, von NATHANAELs verhängnisvollem Leben zu Dir zu sprechen. Das Wunderbare, Seltsame davon erfüllte meine ganze Seele, aber eben deshalb und weil ich Dich, o mein Leser! gleich geneigt machen mußte, Wunderliches zu ertragen, welches nichts Geringes ist, quälte ich mich ab, NATHANAELs Geschichte, bedeutend - originell, ergreifend, anzufangen: "Es war einmal" - der schönste Anfang jeder Erzählung, zu nüchtern! - "In der kleinen Provinzialstadt S. lebte" - etwas besser, wenigstens ausholend zum Klimax. - Oder gleich medias in res: "Scher' er sich zum Teufel, rief, Wut und Entsetzen im wilden Blick, der Student NATHANAEL, als der Wetterglashändler GUISEPPE COPPOLA" - Das hatte ich in der Tat schon aufgeschrieben, als ich im wilden Blick des Studenten NATHANAEL etwas Possierliches zu verspüren glaubte; die Geschichte ist aber gar nicht spaßhaft. Mir kam keine Rede in den Sinn, die nur im mindesten etwas vom Farbenglanz des inneren Bildes abzuspiegeln schien. Ich beschloß gar nicht anzufangen. Nimm, geneigter Leser! die drei Briefe, welche Freund LOTHAR mir gütigst mitteilte, für den Umriß des Gebildes, in das ich nun erzählend immer mehr und mehr Farbe hineinzutragen mich bemühen werde. Vielleicht gelingt es mir, manche Gestalt, wie ein guter Porträtmaler, so aufzufassen, daß Du sie ähnlich findest, ohne das Original zu kennen, ja daß es Dir ist, als hattest Du die Person recht oft schon mit leibhaftigen Augen gesehen. Vielleicht wirst Du, o mein Leser! dann glauben, daß nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben und daß dieses der Dichter doch nur, wie in eines matt geschliffenen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen könne.

Damit klarer werden, was gleich anfangs zu wissen nötig, ist jenen Briefen noch hinzuzufügen, daß bald darauf, als NATHANAELs Vater gestorben, CLARA und LOTHAR, Kinder eines weitläufigen Verwandten, der ebenfalls gestorben und sie verwaist nachgelassen, von NATHANAELs Mutter ins Haus genommen wurden. CLARA und NATHANAEL faßten eine heftige Zuneigung zueinander, wogegen kein Mensch auf Erden etwas einzuwenden hatte; sie waren daher Verlobte, als NATHANAEL den Ort verließ, um seine Studien in G. - fortzusetzen. Da ist er nun in seinem letzten Brief und hört Kollegia bei dem berühmten Professor Physices, SPALANZANI.

Nun könnte ich getrost in der Erzählung fortfahren; aber in dem Augenblick steht CLARAs Bild so lebendig mir vor Augen, daß ich nicht wegschauen kann, so wie es immer geschah, wenn sie mich holdlächelnd anblickte. - Für schön konnte CLARA keineswegs gelten; das meinten alle, die sich von Amtswegen auf Schönheit verstehen. Doch lobten die Architekten die reinen Verhältnisse ihres Wuchses, die Maler fanden Nacken, Schultern und Brust beinahe zu keusch geformt, verliebten sich dagegen sämtlich in das wunderbare Magdalenenhaar und faselten überhaupt viel von Battonischem Kolorit. Einer von ihnen, ein wirklicher Phantast, verglich aber höchstseltsamer Weise CLARAs Augen mit einem See von RUISDAEL, in dem sich des wolkenlosen Himmels reines Azur, Wald- und Blumenflur, der reichen Landschaft ganzes buntes, heitres Leben spiegelt. Dichter und Meister gingen aber weiter und sprachen: Was See - was Spiegel! - Können wir denn das Mädchen anschauen, ohne daß uns aus ihrem Blick wunderbare himmlische Gesänge und Klänge entgegenstrahlen, die in unser Innerstes dringen, daß da alles wach und rege wird? Singen wir selbst denn nichts wahrhaft Gescheites, so ist überhaupt nicht viel an uns und das lesen wir denn auch deutlich in dem um CLARAs Lippen schwebenden seinen Lächeln, wenn wir uns unterfangen, ihr etwas vorzuquinkelieren, das so tun will als sei es Gesang, unerachtet nur einzelne Töne verworren durcheinander springen. Es war dem so. CLARA hatte die lebenskräftige Phantasie des heiteren unbefangenen kindischen Kindes, ein tiefes weiblich zartes Gemüt, einen gar hellen scharf sichtenden Verstand. Die Nebler und Schwebler hatten bei ihr böses Spiel; denn ohne zu viel zu reden, was überhaupt in CLARAs schweigsamer Natur nicht lag, sagte ihnen der helle Blick und jenes seine ironische Lächeln: Liebe Freunde! wie mögt ihr mir denn zumuten, daß ich Eure verfließende Schattengebilde für wahre Gestalten ansehen soll, mit Leben und Regung? - CLARA wurde deshalb von vielen kalt, gefühllos, prosaisch gescholten; aber andere, die das Leben in klarer Tiefe aufgefaßt, liebten ungemein das gemütvolle, verständige, kindliche Mädchen, doch keiner so sehr, als NATHANAEL, der sich in Wissenschaft und Kunst kräftig und heiter bewegte. CLARA hing an Ihrem Geliebten mit ganzer Seele; die ersten Wolkenschatten zogen durch ihr Leben, als er sich von ihr trennte. Mit welchem Entzücken flog sie in seine Arme, als er nun, wie er im letzten Brief an LOTHAR es verheißen, wirklich in seiner Vaterstadt ins Zimmer der Mutter eintrat. Es geschah so wie NATHANAEL geglaubt; denn in dem Augenblick, als er CLARA wiedersah, dachte er weder an den Advokaten COPPELIUS, noch an CLARAs verständigen Brief, jedes Bestimmung war verschwunden.

Recht hatte aber NATHANAEL doch, als er seinem Freund LOTHAR schrieb, daß des widerwärtigen Wetterglashändlers COPPOLA Gestalt recht feindlich in sein Leben getreten sei. Alle fühlten das, da NATHANAEL gleich in den ersten Tagen in seinem ganzen Wesen sich durchaus unverändert zeigte. Er versank in düstere Träumereien und trieb es bald so seltsam, wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war ihm Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene, vergeblich lehne man sich dagegen auf, demütig müsse man sich dem fügen, was das Schicksal verhängt habe. Er ging so weit, zu behaupten, daß es töricht sei, wenn man glaube, in Kunst und Wissenschaft nach selbsttätiger Willkür zu schaffen; denn die Begeisterung, in der man nur zu schaffen fähig sei, komme nicht aus dem eigenen Innern, sondern sei das Einwirken irgendeines außer uns selbst liegenden höheren Prinzips.

Der verständigen CLARA war diese mystische Schwärmerei im höchsten Grad zuwider, doch schien es vergebens, sich auf Widerlegung einzulassen. Nun dann, wenn NATHANAEL bewies, daß COPPELIUS das böse Prinzip sei, was ihn in diesem Augenblick erfaßt habe, als er hinter dem Vorhang lauschte und daß dieser widerwärtige  Dämon  auf entsetzliche Weise ihr Liebesglück stören werde, da wurde CLARA lehr ernst und sprach: "Ja NATHANAEL! Du hast Recht, COPPELIUS ist ein böses feindliches Prinzip, er kann entsetzliches wirken, wie eine teuflische Macht, die sichtbar ins Leben trat, aber nur dann, wenn Du ihn nicht aus Sinn und Gedanken verbannst. So lange Du an ihn glaubst, ist er auch und wirkt, nur Dein Glaube ist seine Macht." - NATHANAEL, ganz entzürnt, daß CLARA die Existenz des  Dämon  nur in seinem eigenen Innern statuiere, wollte dann hervorrücken mit der ganzen mystischen Lehre von Teufeln und grausen Mächten. CLARA brach aber verdrießlich ab, indem sie irgendetwas Gleichgültiges dazwischen schob, zu NATHANAELs nicht geringem Ärger.  Der  dachte, kalten unempfänglichen Gemütern verschließen sich solche tiefe Geheimnisse, ohne sich deutlich bewußt zu sein, daß er CLARA eben zu solchen untergeordneten Naturen zähle, weshalb er nicht abließ mit Versuchen, sie in jene Geheimnisse einzuweihen. Am frühen Morgen, wenn CLARA das Frühstück bereiten half, stand er bei ihr und las ihr aus allerlei mystischen Büchern vor, daß CLARA bat: Aber lieber NATHANAEL, wenn ich Dich nun das böse Prinzip schelten wollte, das feindlich auf meinen Kaffee wirkt? - Denn, wenn ich, wie Du es willst, alles stehen und liegen lassen und Dir, indem Du liesest, in die Augen schauen soll, so läuft mir der Kaffee ins Feuer und ihr bekommt alle kein Frühstück! - NATHANAEL klappte das Buch heftig zu und rannte voll Unmut fort in sein Zimmer. Sonst hatte er eine besondere Stärke in anmutigen, lebendigen Erzählungen, die er aufschrieb und die CLARA mit dem innigsten Vergnügen anhörte; jetzt waren seine Dichtungen düster, unverständlich, gestaltlos, so daß, wenn CLARA schonend es auch nicht sagte, er doch wohl fühlte, wie wenig sie davon angesprochen wurde. Nichts war für CLARA tötender, als das Langweilige; in Blick und Rede sprach sich dann ihre nicht zu besiegenden geistige Schläfrigkeit aus. NATHANAELs Dichtungen waren in der Tat sehr langweilig. Sein Verdruß über CLARAs kaltes prosaisches Gemüt stieg höher, CLARA konnte ihren Unmut über NATHANAELs dunkle, düstere, langweilige Mystik nicht überwinden und so entfernten beide sich im Innern immer mehr voneinander, ohne es selbst zu bemerken. Die Gestalt des häßlichen COPPELIUS war, wie NATHANAEL selbst es sich gestehen mußte, in seiner Phantasie erbleicht und es kostete ihm oft Mühe, ihn in seinen Dichtungen, wo er als grauser Schicksalspopanz auftrat, recht lebendig zu kolorieren. Es kam ihm endlich ein, jene düstere Ahnung, daß COPPELIUS sein Liebesglück stören werde, zum Gegenstand eines Gedichtes zu machen. Er stellte sich CLARA dar, in treuer Liebe verbunden, aber dann und wann war es, als griffe eine schwarze Faust in ihr Leben und risse irgendeine Freude heraus, die ihnen aufgegangen. Endlich, als sie schon am Traualtar stehen, erscheint der entsetzliche COPPELIUS und berührt CLARAs holde Augen;  die  springen in NATHANAELs Brust wie blutige Funken sengend und brennend, COPPELIUS faßt ihn und wirft ihn in einen flammenden Feuerkreis, der sich dreht mit der Schnelligkeit eines Sturmes und ihn sausend und brausend fortreißt. Es ist ein Tosen, als wenn der Orkan grimmig hineinpeitscht in die schäumenden Meereswellen, die sich wie schwarze, weißhauptige Riesen emporbäumen in wütendem Kampf. Aber durch dieses wilde Tosen hört er CLARAs Stimme: Kannst Du mich denn nicht erschauen? COPPELIUS hat Dich getäuscht, das waren ja nicht meine Augen, die so in Deiner Brust brannten, das waren ja glühende Tropfen Deines eigenen Herzbluts - ich habe ja meine Augen, sieh' mich doch nur an! - NATHANAEL denkt: das ist CLARA und ich bin ihr Eigen ewiglich. - Da ist es, als faßt der Gedanke gewaltig in den Feuerkreis hinein, daß er stehen bleibt und im schwarzen Abgrund verrauscht dumpf das Getöse. NATHANAEL blickt in CLARAs Augen; aber es ist der Tod, der ihn mit CLARAs Augen freundlich anschaut.

Während NATHANAEL dies dichtete, war er sehr ruhig und besonnen, er seilte und besserte an jeder Zeile und da er sich dem metrischen Zwang unterworfen hatte, ruhte er nicht, bis sich alles rein und klingend fügte. Als er jedoch nun endlich fertig wurde und das Gedicht für sich laut las, da faßte ihn Grausen und wildes Entsetzen und er schrie auf: Wessen grauenvolle Stimme ist das? - Bald schien ihm jedoch das Ganze wieder nur eine sehr gelungen Dichtung und es mag ihm, als müsse CLARAs kaltes Gemüt dadurch entzündet werden, wiewohl er nicht deutlich dachte, wozu den CLARA entzündet und wozu es denn nun eigentlich führen soll, sie mit den grauenvollen Bildern zu ängstigen, die ein entsetzliches, ihre Liebe zerstörendes Geschick weissagten. - Sie, NATHANAEL und CLARA, saßen in er Mutter kleinem Garten, CLARA war sehr heiter, weil NATHANAEL sie seit drei Tagen, in denen er an jener Dichtung schrieb, nicht mit seinen Träumen und Ahnungen geplagt hatte. Auch NATHANAEL sprach lebhaft und froh von lustigen Dingen wie sonst, so, daß CLARA sagte: Nun erst habe ich Dich ganz wieder, siehst Du es wohl, wie wir den häßlichen COPPELIUS vertrieben haben? Da fiel dem NATHANAEL erst ein, daß er ja die Dichtung in der Tasche trage, die er habe vorlesen wollen. Er zog auch sogleich die Blätter hervor und fing an zu lesen: CLARA, etwas langweiliges wie gewöhnlich vermutende und sich darein ergebend, fing an, ruhig zu stricken. Aber so wie immer schwärzer und schwärzer das düstere Gewölk aufstieg, ließ sie den Strickstrumpf sinken und blickte starr dem NATHANAEL ins Auge.  Den  riß seine Dichtung unaufhaltsam fort, hochrot färbte seine Wangen die innere Glut, Tränen quollen ihm aus den Augen. - Endlich hatte er geschlossen, er stöhnte in tiefer Ermattung - er faßte CLARAs Hand und seufzte wie aufgelöst in trostlosem Jammer: Ach! - CLARA - CLARA! - CLARA drückte ihn sanft an ihren Busen und sagte leise, aber sehr langsam und ernst: NATHANAEL - mein herzlieber NATHANAEL! - wirf das tolle - unsinnige - wahnsinnige Märchen ins Feuer. Da sprang NATHANAEL entrüstet auf und rief, CLARA von sich stoßend: Du lebloser, verdammter Automat! Er rannte fort, bittere Tränen vergoß die tief verletzte CLARA: Ach er hat mich niemals geliebt, denn er versteht mich nicht, schluchzte sie laut. - LOTHAR trat in die Laube; CLARA mußte ihm erzählen was vorgefallen war; er liebt seine Schwester mit ganzer Seele, jede Wort ihrer Anklage fiel wie ein Funkte in sein Inneres, so, daß der Unmuth, den er wider den träumerischen NATHANAEL lange im Herzen getragen, sich entzündete zum wilden Zorn. Er lief zu NATHANAEL, er warf ihm das unsinnige Betragen gegen die geliebte Schwester in harten Worten vor, die der aufbrausende NATHANAEL eben so erwiderte. Ein phantastischer, wahnsinniger Geck wurde mit einem miserablen, gemeinen Alltagsmenschen erwidert. Der Zweifkampf war unvermeidlich. Sie beschlossen, sich am folgenden Morgen hinter dem Garten nach dortiger akademischer Sitte mit scharf geschliffenen Stoßrappieren [Degen - wp] zu schlagen. Stumm und finster schlichen sie umher, CLARA hatte den heftigen Streit gehört und gesehen, daß der Fechtmeister in der Dämmerung die Rappiere brachte. Sie ahnte was geschehen sollte. Auf dem Kampfplatz angekommen hatten LOTHAR und NATHANAEL so eben düsterschweigend die Röcke abgeworfen, blutdürstige Kampflust im brennenden Auge wollten sie gegeneinander ausfallen, als CLARA durch die Gartentür herbeistürzte. Schluchzend rief sie laut: Ihr wilden entsetzlichen Menschen! - stoßt mich nur gleich nieder, ehe ihr Euch anfallt; denn wie soll ich denn länger leben auf der Welt, wenn der Geliebte den Bruder oder wenn der Bruden den Geliebten ermordet hat! - LOTHAR ließ die Waffe sinken und sah schweigend zur Erde nieder, aber in NATHANAELs Innerem ging in herzzerreißener Wehmut alle Liebe wieder auf, wie er sie jemals in der herrlichen Jugendzeit schönster Tagen für die holde CLARA empfunden. Das Mordgewehr entfiel seiner Hand, er stürzte zu CLARAs Füßen. Kannst Du mir denn jemals verzeihen, Du meine einzige, meine herzgeliebte CLARA! - Kannst Du mir verzeihen, mein herzlieber Bruder LOTHAR! - LOTHAR wurde gerührt von des Freundes tiefem Schmerz; unter tausend Tränen umarmten sich die drei versöhnten Menschen und schwuren, nicht von einander zu lassen in steter Liebe und Treue.

Dem NATHANAEL war es zumute, als sei eine schwere Last, die ihn zu Boden gedrückt, von ihm abgewälzt, ja als habe er, Widerstand leistend der finstern Macht, die ihn befangen, sein ganzes Sein, dem Vernichtung drohte, gerettet. Noch drei selige Tage verlebte er bei den Lieben, dann kehrte er zurück nach G., wo er noch ein Jahr zu bleiben, dann aber auf immer nach seiner Vaterstadt zurückzukehren gedachte.

Der Mutter war alles, was sich auf COPPELIUS bezog, verschwiegen worden; denn man wußte, daß sie nicht ohne Entsetzen an ihn denken konnte, weil sei, wie NATHANAEL, ihm den Tod ihres Mannes Schuld gab.
LITERATUR - E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Nachtstücke, Berlin 1872