tb-1Die Philosophie des Als ObIst die Philosophie des Als-Ob Skeptizismus    
 
HANS VAIHINGER
(1852 - 1933)
Wie die Philosophie
des Als-Ob entstand

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Die Als-Ob-Welt, die Welt des Irrealen, ist ebenso wichtig, ja, für das Ethische und Ästethische viel wichtiger, als die Welt des im gewöhnlichen Sinne des Wortes sog. Wirklichen oder Realen.

In dieser seltsamen Verwickelung und Durchkreuzung meiner ursprünglichen Absichten kam mir nun im Jahre 1906 durch ein Unglück doch ungesucht eine glückliche Lösung, die mir nach 27 Jahren eine unmittelbare Rückkehr zu meinem 1879 aufgegebenen ursprünglichen Hauptplan ermöglichte. Jenes Unglück war die Verminderung meiner Sehkraft, die mir die Fortsetzung meiner Vorlesungen und der mir besonders lieben seminaristischen Übungen unmöglich machte. So mußte ich mich von meinen amtlichen Verpflichtungen entbinden lassen. Was mir an Sehkraft noch übrig blieb, reichte gerade noch hin, um die Herausgabe meines Manuskriptes mir zu ermöglichen. Was ich Ende 1876 als Habilitationsschrift eingereicht hatte, ließ ich nun abschreiben und brachte bei dieser Gelegenheit eine Reihe kleiner redaktioneller Änderungen an.

Dieses umfangreiche Manuskript bildet nun den "Ersten prinzipiellen Teil" der "Philosophie des Als-Ob". Was ich von 1877 bis Anfang 1879 an Umarbeitungen fertig gebracht hatte, vervollständigte ich noch auf Grund der aus jener Zeit stammenden Notizen und dies bildet den "Zweiten speziellen Teil" des Gesamtwerkes. Hatte schon diese Arbeit bei meiner geringen Sehkraft mich zweieinhalb Jahre gekostet, so erforderte der "Dritte historische Teil" noch weitere zweieinhalb Jahre: ich hatte schon von 1877 bis 1879 in Kants Werken die wichtigsten Als-Ob-Stellen angemerkt, aber ich ergänzte dies jetzt in erschöpfender Weise, so daß ich eine über hundert Seiten starke monographische Darstellung der Kantischen Als-Ob-Lehre geben konnte. Zeit kostete auch die Darstellung der Forbergschen Religion des Als-Ob, so wie die Entwicklung des mir so verwandten "Standpunkts des Ideals" von F.A. LANGE. Zeit kostete endlich vor allem, die auf wenigen Seiten zusammengedrängte Zusammenstellung der Lehre NIETZSCHEs von den Fiktionen. So konnte erst im Frühjahr 1911 das Werk erscheinen.

Diesem Werk gab ich den Namen "Philosophie des Als-Ob"; er schien mir schlagender als alle anderen möglichen Namen dasjenige auszudrücken, was ich zu sagen hatte: daß das Als-Ob, daß der Schein, daß das Bewußt-Falsche eine enorme Rolle in der Wissenschaft, in der Weltanschauung und im Leben spielt. Ich wollte eine vollständige Aufzählung aller Methoden geben, in denen wir absichtlich mit bewußt-falschen Vorstellungen bzw. Urteilen operieren, ich wollte das geheime Leben dieser wunderbaren Methode aufdecken, ich wollte eine vollständige Theorie, sozusagen eine Anatomie und Physiologie bzw. eine Biologie des Als-Ob geben. Denn gerade in dieser komplizierten Konjunktion "als ob"; "wie wenn" drückte sich die Methode der Fiktion aus, die ja in allen Wissenschaften eine mehr oder minder große Verbreitung hat, und so mußte ich einen Durchblick durch die sämtlichen Wissenschaftsgebiete von diesem Gesichtspunkt aus geben.

Aber es handelte sich nicht bloß um eine methodologische Untersuchung: das Studium des fiktionalen Denkens in allen Wissenschaftsgebieten hatte mich von Anfang ja auch zur Ausdehnung dieser Untersuchungen auf die Philosophie selbst speziell auf die Erkenntnistheorie, auf die Ethik und auf die Religionsphilosophie geführt. Wie die Untersuchungen über die Funktion des Als-Ob schon aus einer bestimmt gerichteten Weltanschauung hervorgewachsen war, so wuchs sie sich von selbst auch wieder aus zu einem allgemeinen philosophischen System. Diesem gab ich den Namen "Positivistischer Idealismus", bzw. "Idealistischer Positivismus".

ERNST LAAS hatte, wie ich schon erwähnte, 1884 bis 1886 ein dreibändiges Werk veröffentlicht, "Idealismus und Positivismus". Darin bekämpfte er den Idealismus und vertrat seinerseits den Positivismus. Letzterer wurde dann weiterhin in Deutschland (jedoch ohne den Namen "Positivismus" programmatisch in den Vordergrund zu stellen) von MACH und von AVENARIUS und auch zum Teil von SCHUPPE vertreten, und fand speziell bei naturwissenschaftlich Orientierten vielen Anklang, aber die herrschenden Richtungen der deutschen Philosophie machten, wenn auch in verschiedener Weise auf den Namen "Idealismus" Anspruch.

Zwischen diesen beiden Einseitigkeiten 8) schien mir einen Vermittlung notwendig, um so mehr, als auch schon in andern Ländern solche Versuche mit Erfolg gemacht wurden. So schien es mir Zeit, endlich auch in Deutschland eine Verbindung von Idealismus und Positivismus das Wort zu reden. Der Erfolg hat wohl gezeigt, daß das richtige Wort zur richtigen Zeit gesprochen wurde.

Gelegentlich ist nun auf die "Philosophie des Als-Ob" und ihre systematische Überzeugung der Ausdruck "Skeptizismus" angewendet worden. Mit Unrecht: Skeptizismus heißt eine Lehre, welche das Zweifeln oder Bezweifeln zum Prinzip erhebt. In der Philosophie des Als-Ob ist aber nirgends eine solche Richtung eingeschlagen: es wird in einfacher und direkter Untersuchung nachgewiesen, daß in allen Wissenschaften bewußtfalsche Begriffe und Urteile angewendet werden und es wird gezeigt, daß solche wissenschaftliche Fiktionen von Hypothesen scharf zu unterscheiden sind, letztere sind Annahmen, welche wahrscheinlich sind, Annahmen, deren Wahrheit eventuell durch weitere Erfahrungen erwiesen werden kann, sie sind also verifizierbar.

Fiktionen aber sind niemals verifizierbar, denn sie sind ja Annahmen, von deren Falschheit der Annehmende von vornherein überzeugt ist, die er aber um ihrer Brauchbarkeit willen anwendet. Wenn nun auf diese Weise eine Reihe von Annahmen in der Mathematik, in der Mechanik, in der Physik, in der Chemie aber auch in der Ethik und in der Religionsphilosophie sich als brauchbare Fiktionen herausstellen, und als solche sich Geltung verschaffen, so liegt darin doch kein Skeptizismus. Denn es wird ja nicht an der Realität jener Annahmen gezweifelt, sondern die Realität derselben wird negiert auf Grund der positiven Tatsachen der Erfahrung. Man könnte eher den Ausdruck "Relativismus" auf die Philosophie des Als-Ob anwenden, insofern sie überall alle absoluten Punkte (sowohl im mathematischen als metaphysischen Sinn) negiert, und insofern zur Relativitätslehre sowohl der Vergangenheit als der Gegenwart eine natürliche Verwandtschaft hat.

Bei der Anwendung der Bezeichnung "Skeptizismus" auf die Philosophie des Als-Ob hat man teilweise wohl zum Ausdruck bringen wollen, daß sie die metaphysischen Realitäten, besonders Gott und Unsterblichkeit in Zweifel ziehe. Aber auch hier gilt dasselbe wie oben: die Philosophie des Als-Ob hat nirgends ein Hehl daraus gemacht, daß sie diese Begriffe als ethisch wertvolle Fiktionen betrachtete. Auch hierin ist ihre Überzeugung klar, einfach und entschieden.

Mancher verwechselt freilich die hierher gehörigen Fachausdrücke und meint wohl in der Philosophie des Als-Ob nicht eigentlich "Skeptizismus", sondern "Agnostizismus" zu finden: letzterer lehrt ja, daß unser menschliches Erkennen auf mehr oder minder enge Grenzen eingeschränkt sei und spricht vom "Unerkennbaren", vom Unknowable im Sinne von Spencer; daß dem Erkennen gewisse Grenzen gezogen sind, lehrt natürlich auch die Philosophie des Als-Ob. Aber nicht in dem Sinne, daß diese Grenzen nur das menschliche Erkennen einengen, daß aber einem übermenschlichen Erkennen jene Grenzen nicht gezogen seien. Letzteres ist eben die Lehre von KANT und von SPENCER; es ist die alte Klage, daß der menschliche Geist an enge Schranken gebunden sei, von denen höhere Geister nicht eingeengt seien.

Meiner Meinung nach liegen aber jene Grenzen des Erkennens nicht in der Natur des Denkens überhaupt, d.h. sie müßten, wenn es höhere Geister gebe, auch diese und sogar den höchsten Geist begrenzen. Denn das Denken dient ursprünglich nur dem Willen zum Leben, als Mittel zum Zweck, und erfüllt auch nach dieser Seite hin seine Bestimmung. Nachdem aber das Denken nach dem Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck sich vn seinem ursprünglichen Zwecke losgerissen und sich zum Selbstzweck gemacht hat, stellt es sich auch Aufgaben, denen es nicht gewachsen ist, weil es selbst überhaupt nicht für sie gewachsen ist, und schließlich stellt sich das so emanzipierte Denken Aufgaben, die in sich sinnlos sind, wie z.B. die Fragen nach dem Ursprung der Welt, nach der Entstehung dessen, was wir Materie nennen, nach dem Anfang der Bewegung, nach dem Sinne der Welt und nach dem Zweck des Lebens.

Betrachtet man das Denken als eine biologische Funktion, so erkennt man, daß das Denken sich damit unmögliche Aufgaben stellt und über seine natürlichen Grenzen, die jedem Denken als solchem gezogen sind, hinausstrebt. Von diesem Standpunkt aus haben wir natürlich auch keine Veranlassung zu der beliebten alten Klage über die Grenzen des menschlichen Erkennens. Wir können höchstens darüber klagen, daß wir durch das Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck verführt werden, Fragen zu stellen, die so unbeantwortbar sind, wie die Frage nach der Wurzel aus -1. Außerdem lehrt ja eine einfache Überlegung, daß alles Erkennen eine Zurückführung des Unbekannten auf Bekanntes bzw. ein Vergleichen ist. Daraus ergibt sich also, daß dieses Vergleichen bzw. Zurückführen irgendwo ein natürliches Ende findet. In keinem Sinne ist als die Philosophie des Als-Ob Skeptizismus oder Agnostizismus zu nennen.

In ähnlicher Weise erledigt sich auch der Vorwurf, der gegen die Philosophie des Als-Ob erhoben worden ist, nämlich, daß der in ihr vertretene Wirklichkeitsbegriff nicht einheitlich sei: auf der einen Seite werde alle Wirklichkeit zurückgeführt auf die Empfindungen bzw. die Empfindungsinhalte (im Sinne der Lehre Mills von den "Sensations and possibilities of sensations"), auf der anderen Seite werde doch immer wieder der naturwissenschaftliche Wirklichkeitsbegriff, der alles auf Bewegungen von Massen und Massenteilchen zurückführe, bald stillschweigend, bald ausdrücklich benützt. Und so wird daran die Frage geknüpft, wie sich denn diese beiden Wirklichkeitsbegriffe der Philosophie des Als-Ob zur Einheit bringen lassen?

Man könnte den Scharfsinn jener Entdeckung eines doppelten Wirklichkeitsbegriffes in der Philosophie des Als-Ob bewundern, wenn man nicht über die Kurzsichtigkeit der sich daran anschließenden Frage erstaunt sein müßte. Ich erlaube mir eine Gegenfrage: ist es denn überhaupt jemals einem philosophischen System älterer, neuerer und neuester Zeit, gelungen diese beiden Sphären in ein logisch rationales Verhältnis zu bringen? Jene beiden Hemisphären der Wirklichkeit, kurz gesagt, einerseits die Welt der Bewegung andererseits die Welt des Bewußtseins, sind noch niemals von irgendeinem Philosophen in ein logisch befriedigendes Verhältnis gebracht worden. Niemals werden sie auch durch eine rationale Formel in definitiv einheitlichen Zusammenhang gebracht werden.

Wir stehen hier wieder an einem Punkte, an welchem der Verstand sich eine unmögliche Aufgabe stellt. Diese Frage ist auf rationalem Wege ebensowenig zu beantworten, wie die Frage nach dem Ursprung der Welt oder die Frage nach dem Zweck des Daseins. Trotzdem wir selbst, die Fragenden, jene beiden Hälften der Wirklichkeit in uns dauernd vereinigen, oder vielmehr, eben weil der Riß bzw. der scheinbare Widerspruch zwischen Bewegung und Bewußtsein durch unser eigenes Wesen geht, ist unser Verstand nicht in der Lage, jene Grundfrage oder jenes sog. Welträtsel befriedigend zu beantworten.

Wer also an einem philosophischen System überhaupt oder speziell der Philosophie des Als-Ob den Vorwurf macht, diese Frage nicht gelöst zu haben, der steht auf derselben Höhe des Geistes wie derjenige, der gegen einen Mathematiker den Vorwurf erhebt, er habe in seinem Lehrbuch der Geometrie das Problem der Quadratur des Kreises nicht gelöst oder gegen einen Techniker, der habe in seinem Lehrbuch der Maschinenkunde die Konstruktion des perpetuum mobile vergessen.

Bei der Erörterung der letzten Weltfragen stößt man immer wieder auf diesen rational unlösbaren Gegensatz einerseits der Bewegungen von Massen und Massenteilchen und andererseits der Empfindungen bzw. der Bewußtseinsinhalte. Für den Philosophen, der sich mit der Analyse unserer Bewußtseinsinhalte beschäftigkt, endigt diese Analyse überall psychologisch mit unseren Empfindungen, erkenntnistheoretisch mit unseren Empfindungsinhalten. Ihm ist die Welt eine unendliche Häufung von Empfindungsinhalten, die aber nicht regellos ihm und uns gegeben werden, sondern in denen gewisse Regelmäßigkeiten des Zusammenseins und der Abfolge vorhanden sind.

Diese Empfindungsdata, oder wie WINDELBAND sich ausdrückt, die "Gegebenheiten", oder wie Ziehen es nennt, die "Gignomene" oder diese Begebenheiten drängen sich uns mehr oder minder unwiderstehlich auf, ja, sie üben einen dauernden Terror auf uns aus: wir müssen uns nach ihnen bzw. nach ihrem zu erwartenden Eintreten richten. Diese Welt der Empfindungsinhalte ist das Material, mit dem der Philosoph als solcher einzig und allein rechnen kann. Aber andererseits muß der Philosoph nun sich auch wohl oder übel damit abfinden, daß der Naturwissenschaftler eine ganz andere Wirklichkeitssphäre konstruiert, die Welt der Bewegungen, die bewegte Welt. Ein rationales Verhältnis zwischen diesen beiden Welten herzustellen, ist ein unmögliches Verlangen unseres Verstandes, der ja eben von Hause aus gar nicht zur theoretischen Welträtsel bestimmt ist, sondern zur praktischen Unterstützung des Willens zum Leben.

Natürlich quält nun den menschlichen Verstand jener unlösbare Widerspruch zwischen Bewegungswelt und Bewußtseinswelt und diese Qual kann auf die Dauer sehr lästig werden. Man wird gut tun, sich daran zu erinnern, daß schon Kant darauf hingewiesen hat, daß es Fragen gibt, die uns ewig äffen und die wir doch nicht los werden. Aber es gibt eine Erlösung von solchen und ähnlichen quälenden Fragen des Verstandes: in der Anschauung und im Erleben verschwindet der ganze quälende Gegensatz zu nichts.

Erlebnis und Anschauung sind höher als alle menschliche Vernunft. Wenn ich ein Reh im Walde äsen sehe, wenn ich ein Kind spielen sehe, wenn ich einen Mann bei seiner Arbeit oder im Sport sehe, vor allem aber, wenn ich selbst arbeite oder selbst spiele -, wo sind dann jene Rätsel mit denen sich unser Verstand unnötig abquält? Wir begreifen die Welt nicht, indem wir über ihre Rätsel nachdenken, sondern indem wir an ihr arbeiten. Auch hier macht sich also das Primat des Praktischen geltend.

Alle Überzeugungen nun, welche in der Philosophie des Als-Ob zum Ausdruck gebracht werden oder ihr zugrunde liegen oder sich aus ihr ergeben, fasse ich zum Schlusse in folgenden Thesen zusammen.
  • Die philosophische Analyse führt erkenntnistheoretisch in letzter Linie auf Empfindungsinhalte, psychologisch auf Empfindungen, Gefühle und Strebungen bzw. Handlungen. Auf einen anderen Wirklichkeitsbegriff führt die naturwissenschaftliche Anylyse, auf Massen und deren kleinste Teile und deren Bewegungen. Es ist dem Verstande als solchem naturgemäß unmöglich, diese beiden Wirklichkeitssphären in ein rationales Verhältnis zu bringen, die aber in der Anschauung und im Erleben eine harmonische Einheit bilden.

  • Die wahrscheinlich schon in den elementarsten physischen Vorgängen vorhandenen Strebungen summieren sich in den organischen Wesen zu Trieben, die sich schon bei höheren Tieren, vollends aber bei den aus den Tieren entstandenen Menschen zum Willen und zum Handeln entwickeln, das sich in Bewegungen äußert und durch Reize, bzw. durch die durch Reize entstandenen Empfindungen hervorgerufen wird.

  • Dem Willen zum Leben und zum Herrschen dienen als Mittel die Vorstellungen, Urteile und Schlüsse, also das Denken. Das Denken ist somit ursprünglich nur ein Mittel im Kampf ums Dasein und insofern nur eine biologische Funktion.

  • Es ist eine allgemeine Naturerscheinung, daß Mittel, die einem Zwecke dienen, öfters eine stärkere Ausbildung erfahren, als es nötig wäre zur Erreichung ihres Zweckes. Dann können solche Mitte, je stärker sie selbst als solche ausgebildet werden, sich von ihrem Zwecke ganz oder zum Teil emanzipieren und sich als Selbstzwecke etablieren (Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck).

  • Diese Überwucherung des Mittels über den Zweck ist auch eingetreten bei dem Denken, das im Laufe der Zeit sich immer mehr von seinem ursprünglichen praktischen Zwecke entfernt hat und schließlich als theoretisches Denken um seiner selbst willen ausgeübt wird.

  • Infolgedessen stellt sich dieses anscheinend unabhängige, anscheinend ursprünglich theoretische Denken Aufgaben, die nicht bloß dem menschlichen Denken, sondern jedem Denken überhaupt unmöglich sind, z.B. die Fragen nach dem Ursprung und nach dem Sinn der Welt. Hierher gehört auch die Frage nach dem Verhältnis von Empfindung und Bewegung, populär gesprochen von Seelischem und Materiellem.

  • Solche aussichtslosen, streng genommen auch einsichtslosen Fragen sind nicht nach vorwärts, sondern nur nach rückwärts aufzulösen, indem man zeigt, wie diese Fragen psychologisch in uns entstanden sind. Solche Fragen sind zum Teil so sinnlos, wie z.B. die Frage nach der Wurzel von -1.

  • Wenn man die Annahme einer ursprünglichen theoretischen Vernunft als eines eigenen menschlichen Vermögens mit eigenen eben für dies Vermögen bestimmten Aufgaben als Intellektualismus oder als Rationalismus bezeichnet, so ist das hier Vorgetragene als Antirationalismus oder auch als Irrationalismus zu bezeichnen, in demselben Sinne, in welchem die Geschichte der neueren Philosophie, z.B. von WINDELBAND, von "idealistischem Irrationalismus" spricht.

  • Von diesem Standpunkte aus erscheinen alle Denkvorgänge und Denkgebilde von vornherein nicht als in erster Linie rationalistische, sondern als biologische Phänomene.

  • Viele Denkvorgänge und Denkgebilde zeigen sich nun unter dieser Beleuchtung als bewußtfalsche Annahmen, die entweder der Wirklichkeit widersprechen oder sogar in sich selbst widerspruchsvoll sind, die aber absichtlich so gemacht werden, um durch diese künstliche Abweichung Schwierigkeiten des Denkens zu überwinden und auf Umwegen und Schleichwegen das Denkziel zu erreichen. Solche künstliche Denkgebilde heißen wissenschaftliche Fiktionen, die durch ihren Als-Ob-Charakter sich als bewußte Einbildungen kennzeichnen.

  • Die so entstehende Als-Ob-Welt, die Welt des "Irrealen", ist ebenso wichtig, ja, für das Ethische und Ästethische viel wichtiger, als die Welt des im gewöhnlichen Sinne des Wortes sog. Wirklichen oder Realen. Jene ästethische und ethische Als-Ob-Welt, die Welt des Irrealen, wird für uns schließlich zu einer Welt der Werte, die sich, besonders in der Form einer religiösen Welt, der Welt des Werdens, in unserer Vorstellung schroff gegenüberstellt.

  • Was wir gewöhnlich das Wirkliche nennen, besteht aus unseren Empfindungsinhalten, die sich uns mit größerer oder geringerer Unwiderstehlichkeit gewaltsam aufdrängen, und als Gegebenheiten von uns für gewöhnlich nicht abgewiesen werden können.

  • In diesen gegebenen Empfindungsinhalten (zu denen auch das gehört, was wir unseren Körper nennen) herrscht eine Fülle von Regelmäßigkeiten in Koexistenz und Sukzession, deren Erforschung den Inhalt der Wissenschaften bildet. Vermittels derjenigen Empfindungsinhalte, die wir unseren Körper nennen, könne wir auf die reiche Welt der übrigen Empfindungsinhalte einen mehr oder minder großen Einfluß ausüben.

  • In dieser Welt zeigen sich uns einerseits überaus viele Zweckmäßigkeitsbeziehungen, andererseits überaus vieles Unzweckmäßiges. Das müssen wir hinnehmen, so wie es ist, denn nur Weniges können wir ändern. Für viele ist es eine befriedigende Fiktion, die Welt so zu betrachten, als ob ein vollkommener höherer Geist sie geschaffen oder wenigstens eingerichtet hätte. Aber das erfordert dann die ergänzende Fiktion, eine solche Welt so zu betrachten, als ob die durch jenen höheren göttlichen Geist geschaffende Ordnung durch eine entgegengesetzte Kraft gestört werde.

  • Nach einem Sinn der Welt zu fragen, hat keinen Sinn, es gilt das Wort von SCHILLER: "Wisset, ein erhabner Sinn legt das Große in das Leben, und er sucht es nicht darin." 9) Dies ist positivistischer Idealismus.
Der Verbreitung und Vertiefung dieses positivistischen Idealismus oder idealistischen Positivismus dienen die von mir im Vereine mit Dr. Raymund Schmidt im Jahre 1919 neugegründeten "Annalen der Philosophie mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als-Ob-Betrachtung". Diese Zeitschrift stellt insofern einen ganz neuen Typus dar, als an ihrer Herausgabe nicht bloß Fachphilosophen (CORNELIUS, GROOS, BECHER, BERGMANN, KOFFKA, KOWALEWSKI ) beteiligt sind, sondern auch hervorragende Vertreter der wichtigsten Einzelwissenschaften: der Theologe HEIM, der Jurist KRÜCKMANN , der Mediziner ABDERHALDEN , der Mathematiker PASCH , der Physiker VOLKMANN , der Biologe Botaniker HANSEN , der Nationalökonom POHLE , der Kunsthistoriker LANGE .

Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, daß die Philosophie nur im engsten Zusammenwirken mit den Einzelwissenschaften gedeihen kann und daß die Philosophie, wenn sie auch den Einzelwissenschaften Manches geben kann, doch noch viel mehr von ihnen zu lernen hat. Aus dieser Wechselwirkung wird auch erst eine fruchtbare und dauernde Vermittlung und Versöhnung des Positivismus und des Idealismus entstehen können, wie sie wenigstens im Prinzip und der Absicht nach von der "Philosophie des Als-Ob" angestrebt wird. Die kritische Untersuchung der Anwendung der verschiedenen Methoden der Als-Ob Betrachtung in den verschiedensten Einzelwissenschaften sol einerseits der Förderung der wissenschaftlichen Methodenlehre dienen. Es soll aber andererseits gleichzeitig der richtige Weg gefunden werden, auf welchem der Positivismus der Tatsachen mit dem "Standpunkte des Ideals" (F.A. LANGE) in haltbarer Weise verbunden werden kann. Jene Analyse und diese Synthese sollen sich gegenseitig ergänzen.
LITERATUR - Hans Vaihinger in Raymund Schmidt (Hrsg), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924
    Anmerkungen
  1. Besonders die im Laufe der Zeit stärker werdende Rückkehr der "idealistischen" Philosophen, auch der Neukantianer zu FICHTE und Hegel erschien mir immer bedenklicher. Ich war stets der Meinung, daß diese der Wirklichkeit zum Teil fremd, zum Teil sogar feindlich gegenüberstehende einseitig idealistische Richtung für die ganze deutsche Bildung eine um so schwerere Gefahr in sich berge, als sie die Jugend dazu verführte, die ausländische Philosophie und damit die ganze Bildung der uns benachbarten Kulturvölker und schließlich ihrer Leistungsfähigkeit, ihre geistige und sittliche Kraft überhaupt zu unterschätzen.
  2. "Huldigung der Künste" 1805