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FRITZ MAUTHNER
Tote Sprachen
II-24

"Nicht nur Gesetz und Rechte, auch die Worte der Sprache erben sich wie eine ewige Krankheit fort. In unserer Sprache schleppen wir unzählige Leichen der Vergangenheit auf unserem Rücken mit uns herum."

Wenn man von toten Sprachen redet, so glaubt man auf irgendeine ehemalige Sprache des Volks oder auf die Sprache eines ehemaligen Volks die bekannteste und volkstümlichste von allen Metaphern anzuwenden. Was könnte den Menschen außer dem Leben vertrauter sein als der Tod? Und doch ist die Übertragung des Todesbegriffs auf die Sprache um so viel schwankender, als auch seine ursprüngliche Bedeutung einer ernsten Frage nicht standhält. Wie sollten wir auch wissen, was der Tod ist, die wir nicht wissen, was das Leben ist. "Leben" ist eine notdürftige Abstraktion für das, was wir an uns selbst als Lebenserscheinungen kennen. Nehmen wir keine Lebenserscheinungen mehr wahr, so nennen wir diesen Mangel an Wahrnehmungen den Tod.

Der Todesbegriff hat noch andere Schwierigkeiten. Er kann nur das Aufhören eines Individuums bedeuten, und wir wissen ja nicht, was ein Individuum sei. Die Rebe, welche auf dem Freundschaftsstück bei Deidesheim 1893 die edelsten Trauben getragen hat, ist nicht ein nachgeborenes Enkelkind der Rebe, welche vor anderthalb Jahrtausenden ein römischer Kaiser am Rhein pflanzte; sie ist vielmehr dieselbe Rebe, weil immer wieder Teile der lebendigen Pflanze weiter grünen. Das individuelle Leben der Rebe des Kaisers PROBUS hat nicht aufgehört. Auch wo die Fortpflanzung durch Früchte geschieht, wie z.B. beim Getreide und bei entwickelteren Tierarten bis zum Menschen hinauf, auch da geht ein individuelles Leben durch die Jahrtausende. Wollte ich mit apriorischen Gründen bestechen, so würde ich sagen: es ist ja gar nicht anders möglich, als daß das Menschenkind individuell gebunden sei an die endlose Reihe seiner Ahnen, weil sonst seine Existenz., sein organischer Körper, der doch nur ererbtes Artgedächtnis ist, nicht möglich wäre; ich könnte so ein fortgesetztes Individuum nennen, was gewöhnlich eine Art heißt. Auch Leben und Tod sind nur relative Begriffe. Erst wenn eine Tierart ausstirbt, erst wenn eine Familie erlischt, erst dann ist der Tod eingetreten.

Es ist das kein Spiel mit Worten. Im Gegenteil, die schwatzenden Menschen spielen mit dem Worte Tod, wenn sie es alle Tage wie eine Scheidemünze gebrauchen und wenn sie es gar auf wirklichere Dinge anwenden als auf das Aufhören eines in den Registern des Standesamts verzeichneten Individuums. Die Register des Standesamts sind kein philosophisches Werk. Man hat den Todesbegriff metaphorisch in der Mechanik gebraucht und meint eine schlummernde Kraft (z.B. die Schwere des Dachziegels, bevor er herunterfällt), wenn man von einer toten Kraft spricht. Mit unbewußter Weisheit nennt aber die Mechanik auch denjenigen Punkt, an welchem z.B. das Schwungrad der Dampfmaschine sich für die eine oder andere Richtung entscheiden könnte, wenn es nicht bereits eine bestimmte Richtung besäße, den toten Punkt. Auch der Tod eines Menschen ist nur der Punkt, auf welchem die Natur sich entscheidet, ob der Stoff weiterhin die Erscheinungen des Lebens oder die Erscheinungen der "toten" Chemie bieten soll.

Wieder anders sieht man die Dinge, wenn man die Sprache mit dem organischen Leben vergleicht und von toten Sprachen redet. Die landläufige Vorstellung, daß eine tote Sprache diejenige sei, die von keinem Volke mehr gesprochen werde, ist ungenau. Ungelehrte Menschen wissen von solchen Sprachen nur durch Hörensagen, und für die Sachkenner gibt es fast keine toten Sprachen. Vielleicht enthielten die hieroglyphischen Inschriften eine Sprache, die zur Zeit ihrer Niederschrift längst nicht mehr gesprochen wurde. Aber wir haben bekanntere Beispiele von Sprachen, welche keine Volkssprachen mehr waren und dennoch in gewissen Berufskreisen und bei gewissen Lebenserscheinungen fortwirkten. Das alte Sanskrit war zur Zeit der klassischen Dichter und Grammatiker Indiens bereits eine tote Sprache und wird in den dortigen Gelehrtenschulen heute noch zu Zwecken gelehrt, die halb theologisch, halb philosophisch sind. Hebräisch ist seit langer Zeit eine tote Sprache, und doch gewinnt sie täglich Leben, wenn ein orthodoxer Jude am Todestage seines Vaters oder am Versöhnungstage die Formeln in dieser toten Sprache aufsagt. Das Latein hörte vor anderthalb Jahrtausenden auf, eine Volkssprache zu sein, und wurde in Rom selbst von einer Mundart verdrängt; noch tausend Jahre jedoch blieb diese tote Volkssprache lebendig in dem großen Kreise der internationalen europäischen Schreiberwelt; in den letzten Jahrhunderten sind diese Kreise immer mehr zusammengeschmolzen, aber heute noch ergreift die tote lateinische Sprache in der katholischen Messe das Herz orthodoxer Italiener, und heute noch zuckt ein letztes Leben dieser Sprache in den Köpfen römischer Juristen und schönheitstrunkener Dichter.

Mit diesen letzten Zuckungen des Sprachlebens sollen aber nur diejenigen Reste gemeint sein, in denen nicht nur der Wortschatz, sondern auch die Sprachform des alten Latein gewahrt sind. Denn sonst müßte man das Fortleben des Latein nicht nur in den romanischen Sprachen, sondern auch in der englischen Mischsprache und selbst im Deutschen unaufhörlich annehmen. In Wirklichkeit ist eine Grenze zwischen dem Leben und dem Tode einer Sprache nicht zu ziehen. Der Sprachgebrauch wird aber wohl die wissenschaftliche Anschauung ausdrücken wollen, daß es auf den Wortschatz nicht ankomme, daß die Wortformen darüber entscheiden, ob eine Sprache tot heiße. In den romanischen Sprachen ist der größte Teil des lateinischen Wortschatzes durch die Wortstämme erhalten. Trotzdem betrachtet der Franzose das Latein als eine tote Sprache, weil - um es mit einem Worte zu sagen - die Grammatik eine andere geworden ist. Wohl steckt auch in der neufranzösischen Grammatik noch der alte Stoff an Flexions- und Wortbildungsformen, wohl wirkt sogar die alte lateinische Betonung noch nach, aber das Sprachgefühl des Franzosen findet keine Brücke mehr zwischen der französischen und der lateinischen Grammatik und nennt nur darum das Latein eine tote Sprache. Die Entscheidung ob tot oder lebendig ist keine sachliche Frage, sondern eine Gefühlsfrage.

Die Sprachgemeinschaft ist zu sparsam, um den alten Wortschatz freiwillig aufzugeben; und sie könnte es nicht, wenn sie auch wollte. Denn die Entwicklung der Sprache schreitet hinter der Entwicklung des menschlichen Geistes einher, das heißt hinter der Erfahrung. Und wie die Erfahrung, seltene Fälle überraschender Entdeckungen abgerechnet, Zug um Zug mikroskopisch der Summe des Menschengedächtnisses hinzufügt, so kann auch, seltene Neubildungen abgerechnet, die Schatzkammer des Gedächtnisses, die Sprache, nicht anders als Zug um Zug mikroskopisch die vorhandenen Worte nach Laut und Bedeutung ändern. So kann eine ältere Sprache als Organismus für unser Sprachgefühl längst tot sein, während unzählige Worte neues Leben gewonnen haben. Muß man nicht an die Rebe des Kaisers PROBUS denken, wenn man beachtet, daß bekanntlich zur selben Zeit zahlreiche Lateinworte an den Rhein kamen, wie z.B. das Wort  Kaiser  selbst, und dort von Geschlecht zu Geschlecht auf deutschem Boden neue Formen entwickelten, ebenso wie die alte italische Rebe? Im Deutschen sind solcher lateinischer Lehnworte eine Legion.

In vielen Fällen haben sie so starke Wurzeln geschlagen, haben sich so sehr dem deutschen Lautgefühl und der deutschen Grammatik angepaßt, daß unser Sprachgefühl sie nicht mehr als Fremdworte empfindet. Ich nenne nur:  Apfel, dichten, Enkel, Esel, Fieber, Gabel Kalk, Käse, Koch, kurz, Meister, Pflaume, Rettig, Spiegel, Stolz, Straße, Tisch, Ziegel.  Bei jüngeren Entlehnungen hat das Sprachgefühl wohl die Neigung, das Fremdwort als einen Fremdkörper zu empfinden, aber dann unterscheidet das natürliche Sprachgefühl nicht zwischen toten und fremden Sprachen. Und eigentlich besteht ein solcher Unterschied auch nicht. Das Lebensbedürfnis der Sprache greift auf einer gewissen Kulturhöhe ohne zu prüfen nach jedem Sprachstoff, es nimmt Bestandteile fremder wie toter Sprachen in sich auf und kümmert sich so wenig um die Lebensfrage als das Tier oder auch der Mensch darum, ob toter Nahrungsstoff oder lebendiger hinuntergeschluckt wird. Auf den Assimilierungsprozeß kommt es an. Das Wort  Käse  (aus dem lateinischen  caseus)  ist vollkommen assimiliert, das Wort  Kasus  ist trotz des langen Gebrauchs noch nicht assimiliert. Aber wir wissen, daß das Kind den Gebrauch seiner eigenen Gliedmaßen nicht nur sehr langsam kennen lernt, sondern daß es gewissermaßen die Lebensverbindung mit seinen eigenen Gliedmaßen erst langsam erwerben muß.

Im Deutschen sind selbst tote und fremde Bildungssilben in den Sprachstoff aufgenommen worden, als Bildungssilben. Auch sie werden mit der Zeit zu deutschem Sprachgut, aber auch sie werden lange als tote Anhängsel empfunden. Die Endsilben "ieren" und "-age" werden als tot oder fremd empfunden; das zartere Sprachgefühl empfindet es noch wie leisen Leichengeruch, wenn sie mit deutschen Stämmen verbunden werden; "stolzieren" und "Stellage" sind häßlich.

Viel besser als in den Dokumenten der Vergangenheit können wir die Aufnahme toten Sprachstoffs an dem in der Gegenwart sich vollziehenden Sprachwandel beobachten, nicht nur weil wir Zeugen sind, was die Beobachtung oft erschwert, sondern auch weil die ungeheuere, zielbewußte, fast krankhafte Bereicherung unserer Erfahrungen gegenwärtig eine vermehrte Nahrungsaufnahme der Sprache zur Folge hat. Wir werden bald sehen, welch einen neuen Sinn der Begriff der toten Sprache dadurch für unsere Gegenwart gewinnt, wie nämlich das Wort von gestern tot werden kann für das Sprachgefühl von heute. Vorläufig jedoch soll nur an die alltäglichen Neubildungen erinnert werden, mit welchen die sich überhastende Industrie beinahe zu einer sich überhastenden Sprachindustrie zu führen droht, welche in der Not nach toten Sprachen greift, und zwar oft genug vergessene Worte direkt aus den Wörterbüchern der toten Sprache herbeiholt.

Der Vorgang vollzieht sich so: Das Gedächtnis des Menschengeschlechtes wächst unaufhörlich durch neue Erfahrungen, welche die bisherigen Vorstellungen mehr oder weniger verändern. Man kann das auch wissenschaftlichen Fortschritt nennen. Das Gedächtnis des Menschengeschlechts ist an die Worte und an die Formen der Beziehungskategorien geknüpft. Ist nun eine der unzähligen Vorstellungen, welche im Gedächtnis als ein bestimmtes Wort vorhanden war, stark abgeändert worden, so macht natürlich das Wort die Veränderung mit, entweder im Sprachgefühl des gesamten Volkes, oder in der Anschauungsweise der gebildeten Klassen. Im letzteren Falle kann es leicht geschehen, daß das Wort zugleich in seinem populären Sinn für alle Welt bestehen bleibt, zugleich aber für Fachkreise ein technisches Wort wird. Das Wort "Erde" ist seit tausend Jahren so gut wie unverändert geblieben; aber jeder Dorfjunge verbindet heute mit den gleichen Lauten richtigere Vorstellungen als etwa Karl der Große, der sich als der mächtigste Herr der ihm bekannten Erde fühlen konnte. Aber auch hier geht daneben schon ein wissenschaftlicher Erdbegriff mit astronomischen und mathematischen Merkmalen, die dem Dorfknaben fremd sind. Eigentlich wird schon "Erde" für den Astronomen ein technischer Ausdruck, wenn man das auch gewöhnlich nicht so nennt. Ähnlich liegt der Fall bei so alltäglichen Begriffen wie Kälte, Farbe u. dgl.; der Physiker denkt sich etwas ganz anderes dabei als wenn der frierende Handwerksbursche weißen Schnee um sich sieht.

Wenn nun jedermann unter "Salz" die bekannte Speisewürze versteht, der Chemiker aber eine bestimmte Gruppe von Verbindungen, so wird der Unterschied zwischen dem alten Worte und dem neuen technischen Ausdruck deutlicher. Die alte und die neue Sprache gehen, beide lebendig, nebeneinander her wie Großvater und Enkel. Wo aber das Wort der alten Sprache auch im weiteren Volksbewußtsein seinen Sinn verloren hat, da könnte man es wohl das Wort einer toten Sprache nennen. Bei Religionsbegriffen wird das jetzt schon einleuchten, wenn auch solche Worte nicht immer für das ganze Volk gestorben sind. "Himmel" als der Wohnsitz oder die Heimat der Götter ist nur noch ein poetisches Bild, von einer toten Sprache genommen, genau so wie die archaistischen Poetenworte Olymp oder Paradies. "Hölle" ist nicht lebendiger als die lateinischen Worte der katholischen Messe. Aber selbst so unendlich oft gebrauchte Worte wie Heiliger, Ablaß, gehören für den protestantischen Norden ebensogut einer toten Sprache an wie altdeutsche Götternamen (z.B. Asen) für das christianisierte Deutschland, die alten slawischen Götter für das christliche Rußland. Geht man so die Entwicklung einer Sprache von alten Zeiten bis zur Gegenwart hin durch, so kann man Schritt für Schritt verfolgen, wie Teile der alten Sprache absterben. Selbst bei LESSING noch (von LUTHER nicht zu reden) findet der ungelehrte Leser deutsche Worte, die er nicht mehr versteht, die ihre einstige Bedeutung verloren haben, die für die Gegenwart tot sind.

Tote Worte lassen sich nicht unmittelbar, nicht mit ihrer alten Seele lebendig machen. "Lebt das Wort, so wird es von Zwergen getragen; ist das Wort tot, so können es keine Riesen aufrecht erhalten." (HEINE, Über Deutschland).

Unaufhörlich jedoch werden abgestorbene Worte und Sprachformen durch lebendige Worte und Formen ersetzt und zwar so reichlich, daß der Zuwachs immer größer ist als der Verlust. Und die Sprache kann, wie gesagt, nicht anders als sparsam sein; sie muß das tote Material immer wieder neu verwenden. Gewöhnlich geht der Prozeß so vor sich, daß ein Wort oder eine Silbe auf einem Gebiete wieder lebt, während der Tod auf einem anderen Gebiete langsam eintritt. Die deutschen Endsilben "lich" (bekanntlich so viel wie Leiche, Körper, Gestalt, gleich, englisch like), "heit" (Geschlecht, Art und Weise) sind solche Hauptworte der toten altdeutschen Sprache, welche als Bildungssilben leben geblieben sind, so wie etwa ein Wurzelsproß neu zu grünen beginnt, während der alte Stamm abstirbt. Nur die stetige Entwicklung täuscht uns darüber, daß hier derselbe Vorgang statthat, wie wenn wir aus der toten lateinischen Sprache (oder indirekt aus der noch toteren griechischen) die Endsilben "ismus" oder "-ianer" herübernehmen und Darwinismus, Wagnerianer bilden. Werden Worte aus toten Sprachen nun gar nicht bloß für die Formen der Beziehungskategorien, sondern für gegenständliche Begriffe herübergenommen, so liegt jedesmal ein Versuch vor, das Bedürfnis der sprachlichen Gegenwart durch die Aufnahme toten Materials zu befriedigen. Und hier ist es, wo die Sprachindustrie untrennbar ist von der gewinnsüchtigen Industrie der Geschäftswelt. Man braucht nur die Schaufenster einer hauptstädtischen Straße aufmerksam zu betrachten, man braucht nur die Inseratenbeilage irgendeines weit verbreiteten Blattes zu lesen und wird Überfluß an Beispielen haben. Ich nehme nur die Inseratenbeilage der letzten Nummer der "Fliegenden Blätter" zur Hand und notiere nach flüchtiger Übersicht folgende Neubildungen, von denen freilich die meisten nicht erst der letzten Woche. angehören: Dynamomaschinen, Fleischpepton, Odonta, Sanatorium, Verrophon, Klaviaturschreibmaschinen, Dikatopter, Antiarthrinpillen, Cyclostyle, Lanolin, Patentkoffer, Motorwagen, Reformbett, Blankoplakate, Mineralwasser, Amandine, Kinetograph usw. usw. Man glaubt gewöhnlich, und die industriellen Erfinder der Dinge und der Namen glauben es selbst, daß die Entlehnung aus dem Griechischen oder Lateinischen nur einem Reklamebedürfnisse entspreche. Aber in Wirklichkeit wäre es unmöglich, die tausend und aber tausend neuen Maschinen und Sächelchen, die in unseren Tagen fortwährend auf den Markt geworfen werden, sprachlich auseinanderzuhalten, ohne für jede, noch so leise abgeänderte Form einen besonderen Namen zu erfinden. Oft hilft man sich mit dem Eigennamen des Erfinders oder des Fabrikanten.

Aber die Anlehnung an antike Sprachen weckt doch bei den oberen Zehntausend eine Erinnerung, die mit helfen kann, das Wort scheinlebendig zu machen. Es kann dann in Ausnahmsfällen ein glückliches Wort dem bezeichneten Gegenstande zur Verbreitung helfen. Gewöhnlich aber wird das neue Leben des Worts von der Existenzberechtigung des Gegenstandes abhängen. Telegraph, Phonograph, Telephon usw. waren eines Tages ebenso fremd dem Sprachgebrauch und darum so geschmacklos, wie heute etwa Antiarthrinpillen. Sie sind allgemeines Sprachgut geworden, weil das konkrete Ding und sein Begriff sich allgemein verbreiteten. Siegt die neue Erfindung rasch und glänzend, so wirft die Sprache mitunter das tote Sprachmaterial wieder fort und läßt ein lebendiges Wort einen Bedeutungswandel durchmachen; sie setzt "Rad" an Stelle von Veloziped. Oder die Sprache assimiliert das barbarische Wort; der Franzose sagt dann "velo" anstatt Veloziped. In den meisten Fällen jedoch geht das tote Sprachmaterial mit der neuen Erfindung gleichen Schrittes in den Gebrauch über. Trotz dem Bemühen unserer Sprachreiniger werden wir Telegraph und Telephon kaum los werden. Selbst wahrhafte Wortungeheuer verträgt die Sprache mitunter. "Konversationslexikon", worin Material aus zwei toten Sprachen unförmlich zusammengekuppelt worden ist, hat sich vorläufig eingebürgert. Ich erinnere mich aus meiner Jugend, daß für erleuchtete Springbrunnen, die damals aufkamen und die jetzt Fontaine lumineuse heißen, einige Jahre lang das, geradezu entsetzliche Wort  Kalospinthechromokrene  wirklich gebräuchlich war. Wir brachten als brave Gymnasiasten heraus, daß es griechisch sei, "Schönfunkenfarbenquell" bedeute und eigentlich Kalospintherochromatokrene lauten müßte. Es war aus dem Gebrauch wieder verschwunden, bevor wir noch die erweiterte zehnsilbige Form auswendig gelernt hatten.

Mir kommt es jedoch bei diesen Hinweisen nicht darauf an, den Geschmack der Sprachindustrie zu beurteilen. Nur auf die Hervorhebung einer Tatsache kommt es mir an: daß nämlich gerade die allerlebendigste Gegenwart in ihrer Hut, dem Gedächtnisse der Menschheit neue Erzeugnisse mit neuen Namen einzuprägen, mit der organischen Fortentwicklung der lebendigen Sprache nicht auskommt, daß sie Stoff aus toten Sprachen massenhaft zu Hilfe nimmt; es kommt mir darauf an hervorzuheben, daß dieser Prozeß nicht wesentlich verschieden ist von der erzwungenen Neigung der lebendigen Sprache, ihr eigenes totes Sprachgut in Gestalt von Bildungssilben wieder zu verwerten, wie wir denn Zeugen sind davon, daß das gute Substantiv "Werk" eben in unserem Munde dazu übergeht, z.B. in  Stückwerk, Teufelswerk, Mundwerk  usw., eine Endsilbe wie schaft, keit und heit, wie -voll zu werden; es kommt mir darauf an, weiter darauf hinzuweisen, wie auch dann, wenn die alten Wortformen erhalten bleiben, dennoch ihre ehemalige Bedeutung der toten Sprache angehören kann und wie dieser Bedeutungswandel im Wandel der menschlichen Weltanschauung langsam aber sicher alle Begriffe der Sprache nacheinander ergreift. Es ist dieses VerhäItnis, daß nämlich die neue Sprache zur alten Sprache sich verhält wie eine lebendige zu einer toten, selten deutlich, weil nur in Ausnahmsfällen ein Bruch mit der Vergangenheit stattfindet. Ein klassischer Fall hegt aber in der englischen Sprache vor, die doch nur ein Gemisch von Normannisch und Angelsächsisch ist. WHITNEY bemerkt übrigens sehr gut, daß die angelsächsische Volkssprache wahrscheinlich unterdrückt worden wäre, wenn die europäische Politik anders gewesen, wenn die Normannen Frank-reich und England gemeinsam beherrscht hätten. Das aber bemerkt er nicht, was mir bedeutungsvoll scheint, daß für den heutigen Engländer sowohl Angelsächsisch als Normannisch tote Sprachen sind, trotzdem das heutige Englisch fast durchaus aus angelsächsischem und normannischem Material besteht.

WHITNEY sieht trotz aller feinen Bemerkungen dennoch einen gewaltigen Unterschied zwischen den toten Sprachen des Altertums und zwischen den hochentwickelten Sprachen der Gegenwart, denen er ein weit längeres Leben in Aussicht stellt. Er will nicht wahrnehmen, daß Leben und Tod einer Sprache relative Begriffe sind, daß für die heutige Sprache immer und ohne Gnade Teile der gestrigen Sprache schon tot sind, und daß wie auf allen andern Lebensgebieten auch in unseren heutigen Kultursprachen der Wandel immer hastiger vor sich geht. Und es muß mächtig in unsere Anschauungen von Staat und Gesellschaft, von Recht und Sitte eingreifen, wenn wir erkennen, daß alle Sprache des vergangenen Geschlechts für uns weit mehr tote Begriffe enthält als die gleichbleibende und in der Neuzeit durch die Schriftsprache besser konservierte Form ahnen läßt. Nicht nur Gesetz und Rechte, auch die Worte der Sprache erben sich wie eine ewige Krankheit fort. In unserer Sprache schleppen wir unzählige Leichen der Vergangenheit auf unserem Rücken mit uns herum. Nichts, nichts ist mehr lebendig, was in toten Begriffen niedergeschrieben worden ist, und wäre es auch nur vor wenigen Jahren geschehen. Die kritische Auflösung aller historischen Ordnung bedeutet freilich diese Überzeugung, einen Anarchismus, der auch nicht einen einzigen Begriff der überlieferten Sprache für lebendig hält, so lange er sein Leben nicht bewiesen hat; es ist aber ein kritischer Anarchismus, der wiederum an keine Utopien glaubt, an die Begriffsembryonen der Zukunft ebensowenig wie an die Begriffsleichen der Vergangenheit.

Für das kleine Gebiet der Sprache allein jedoch lehrt diese erschreckende Überzeugung, daß nicht in den Sprachänderungen, die wir heute als Sprachfehler empfinden und die morgen Sprachgebrauch sein können, die Krankheit der Sprache steckt. Diese Sprachunrichtigkeiten sind Zeichen des Lebens; die Sprachrichtigkeit aber ist das Zeichen der Krankheit, der Vorbote des Todes. Niemand kann sagen, was tadellos richtiges Deutsch ist; wohl aber gibt es ein zweifellos richtiges ciceronianisches Latein.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906