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ALFRED KÜHTMANN
Mauthner
- I I -

"Der alte griechische Satz, man kann nicht zweimal in denselben Fluß hinabsteigen, gilt auch für die Sprache."

B. Das erkenntnistheoretische Problem nicht scharf herausgearbeitet.

Nach der soeben mitgeteilten Charakteristik der Sprache wird es freilich die höchste Zeit, sich von ihrer Tyrannei zu befreien und in das prälinguistische Paradies zurückzukrebsen. Aber bei ruhiger Überlegung sagt sich MAUTHNER, daß es sich doch nur um eine Befreiung von den falschen und zu weit gehenden Ansprüchen an die Sprache handeln könne. Dahin gehört zunächst, daß wir die falsche Vorstellung aufgeben, wir seien imstande, durch das Denken und die Sprache die Wirklichkeit der Dinge und des Geschehens zu erkennen.

Die weiter zurückliegende Frage aber: gibt es denn überhaupt eine Wirklichkeit, die nicht zugleich Bewußtseinswirklichkeit ist, darf man eine wirkliche Welt annehmen, abgetrennt von einer Welt der Begriffe und Worte, welche sich auf sie beziehen? darüber scheint MAUTHNER mit sich nicht ins Reine gekommen zu sein.

Bd.I, S.634 heißt es: "Daß irgendeine Wirklichkeit existiert, scheint mir aber nicht nur eine unabweisliche Vorstellung unseres Instinktes (darum Induktion aus einem einzigen Falle), sondern eine nachweisbare Wahrheit zu sein."

Dann aber wieder Bd.I, S.620:
    "Die Annahme einer Wirklichkeitswelt war vielmehr ursprünglich die frechste und gewagteste Hypothese, die jemals von einem Menschengehirn ausgeheckt worden ist, wenn auch diese unerhörte Hypothese ganz sicher so alt ist, wie das Leben auf der Erde(!). Die Annahme einer Wirklichkeitswelt ist nämlich ein Induktionsschluß aus einem einzigen Falle ... Wir werden eine so bequeme Hypothese nicht ablehnen, weil sie unerwiesen ist."

    "Wenn alle Sinneswahrnehmungen und alle Raumvorstellungen schließlich analysiert würden durch das letzte Tatsächliche, durch die sogenannte Undurchdrindglichkeit der Körper, subjektiv durch das Gefühl des Widerstandes, den jeder Körper mir darbietet, so würde dieses unbekannte Gefühl des Widerstandes, milliardenfach erfahren, milliardenfach ein Experiment sein, das ein harte Wirklichkeitswelt hinter unserem luftigen Weltbilde mit dem höchsten der Grade der Wahrscheinlichkeit durch induktiven Schluß erwarten läßt" (Bd.II, S.635).
Je nach dem erkenntnistheoretischen Standpunkte, ob das  esse  mit dem  percipi  zusammenfällt, oder ob das Denken mit seinem realen Korrelat, dem Sein, in Beziehungen steht, wird die Antwort auf die Frage, inwieweit die Sprache nur eine relative Existenz hat, verschieden ausfallen.

Als in der Zeit geboren, trägt die Sprache auch das Kennzeichen der Zeitlichkeit, Relativität und Kontinuität an sich, und es bedurfte kaum der Bekämpfung dieser heute wohl von keinem Sprachforscher und von keinem Philosophen geteilten Annahme, daß Denken und Sprache je zu einem absoluten Erkennen führen können. Wenn MAUTHNER anderseits darauf aufmerksam macht, daß die Sprache abhängig ist von unseren Empfindungen, Vorstellungen, daß auch diese ihre Entwicklungsgeschichte haben, und daß diese seelischen Tätigkeiten Funktionen körperlicher Organe sind, die wieder ihre Geschichte haben, so sind diese Gedanken der neueren Sprachwissenschaft ebenfalls völlig geläufig.

Ja, er dürfte schon recht haben, daß die menschliche Sprache ihre Vorgeschichte in der Sprache der den Menschen vorangegangenen Art hat, und so weiter zurück bis zu dem ersten Laut, den ein Wasserwesen von sich gab, als es ein Landtier wurde und durch Lungen atmete. Der Gang dieser Entwicklungsgeschichte wird unf freilich für immer verschlossen bleiben (Bd.II, S.401).


C. Anschluß an bisherige Sprachforschungen über Wurzeln und Urwörter.

Viele Annahmen und Ergebnisse der gegenwärtigen Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie läßt MAUTHNER trotz seiner Skepsis bestehen. Der Ausgangspunkt: Sinneseindruck und darauffolgende Bewegung des Sprachorgans wird doch auch in den Theorien von GEIGER, LAZARUS und STEINTHAL angenommen, welche die Entstehung der Sprache auf die Reflexlaute des Staunens, des Schmerzes und der Freude begründen, was MAUTHNER eine reizvolle und fruchtbare Hypothese nennt.

Sein Kampf gegen die Wurzeln als die  Urwörter  und sein Grundprinzip  im Anfang war der Satz  führt auf WUNDT und andere Sprachforscher zurück:
    "Satz und Wort sind ... gleichwesentliche Formen des Denkens, und der Satz ist sogar der ursprünglichere von beiden, da der Gedanke zunächst als Ganzes gegeben ist und dann erst in seine Bestandteile zergliedert wird." (3)

D. Schwankende Stellung zur Frage, ob Sprache und Denken identisch sind.

Auf die Bedeutung der Metapher in der Sprachentwicklung hat HERMANN PAUL (4) bereits ausführlich hingewiesen. Dagegen ist MAUTHNER in der Identifikation von Begriff und Wort extrem terministisch, obschon er es auch hier nicht ganz ernst mit der Gleichsetzung nimmt. Ich habe vorhin die Stelle exzerpiert, worin er von einem wesentlichen Unterschied beider spricht. Und ebenso wenig will er die Identität von Sprechen und Denken bis zur letzten Konsequenz durchführen.
    "Unbeirrt wiederhole ich bei jeder Gelegenheit, daß Denken und Sprechen ein und dieselbe Geistestätigkeit bezeichnen, und doch weiß ich, daß die beiden Begriffe nicht ganz gleich sind" (Bd.I, S.198).

    "Da Empfindungen und Wahrnehmungen uns leicht zu verständigem Handeln veranlassen, was ungenau auch auf Denken zurückgeführt werden kann, so gibt es da so etwas wie Denken ohne Sprechen. Verstehen wir jedoch unter Denken nur diejenigen Prozesse in unserem Gehirn, bei denen sich Empfindungen oder Wahrnehmungen mit Vorstellungen assoziieren oder Vorstellungen untereinander, so kann von einem Denken ohne Sprechen nicht die Rede sein" (Bd.I, S.212).

    "Aber die Gleichstellung von Sprechen und Denken ist doch wieder nur eine kriegerische Behauptung, eine vorübergehende Wahrheit, gut im Kampf gegen den Aberglauben der Vernunft, aber doch selbst wieder eine Äußerung des versteckten Wortaberglaubens, da die Erscheinungsgruppe  Denken  schließlich dieselbe Sache von zwei nicht ganz identischen Standpunkten ist, wie die beiden Photographien eines Stereoskopbildes nicht ganz genau dasselbe zeigen" (Bd.II, S.676).

E. Sprechen und Denken der Tiere

Die Sprache der Tiere schätzt MAUTHNER höher ein, als es bisher geschehen ist. Sie haben nicht nur eine Sprache, sonder auch eine artikulierte Sprache. Sie bilden nicht nur Wahrnehmungsurteile und ziehen daraus Schlüsse, wie schon ARISTOTELES und CHRYSIPPUS hervorheben, sie bilden auch Begriffe, insbesondere Artbegriffe.
    "Die Hunde unterscheiden oft deutlich zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Bourgeois und armen Teufeln, zwischen Weißen und Schwarzen; dann aber je nach ihrer Abrichtung kennen sie Hasen, Hirsche, Rebhühner, Enten" (Bd.II, S.364).
Ob sich bei höheren Tierarten der Anfang der Begriffsbildung findet, wird schwer zu entscheiden sein. Die Beantwortung der Frage hängt wohl von der Stellung zu der weiter zurückliegenden psychologischen Frage ab: wie entwickelt sich der Einzelbegriff aus der Einzelvorstellung? Daß aber Tiere auch Art- und Gattungsbegriffe formieren und sich einer artikulierten Sprache bedienen, scheint mir aus den bisherigen Beobachtungen nicht hervorzugehen, und MAUTHNER bleibt mit diser Behauptung wohl so ziemlich allein. Sie steht aber im Einklang mit seiner Auffassung des Begriffs als eines Erinnerungsbildes, worin sich eine große Anzahl ähnlicher aber nicht gleicher Eindrücke verbunden haben (Bd.I, S.188). (5)

F. Die stetige Entwicklung des Sprachprozesses

Die allgemeinsten Gattungsbegriffe sind, wie wir gesehen, nur leere Hülsen - also auch der Begriffd es Aktual-Unendlichen. Daß nur Potential-Unendliches anzunehmen ist, sagt MAUTHNER zwar nicht ausdrücklich, aber es ergibt sich das aus den Gründsätzen der Kritik ohne weiteres. Überdies ist unendlich ein "theologisches Wort" (Bd.II, S.635), und die Pfaffen kann er nicht leiden. "Götter sind Worte - Worte sind Götter" (Bd.I, S.152).

Dagegen macht er sehr feine Bemerkungen über die Anwendung des Differentialbegriffs auf qualitative Vorgänge. Die der Wirklichkeit zugrundeliegenden Verhältnisse sind immer Verhältnisse veränderlicher Größen. Alles fließt. Der Begriff der Differenzialänderung ist ein Versuch, den Qualitäten der Wirklichkeit erkenntnistheoretisch beizukommen. Auf dem Gebiete der Mechanik und der Chemie hat es die Differentialrechnung eigentlich immer nur mit Qualitäten zu tun, und der Fortschritt unserer Ziet über das Altertum besteht eben darin, daß es zuerst in der Mechanik, dann allmählich auch in der Chemie gelungen ist, Qualitäten durch relative Quantitäten auszudrücken. Die Differentialänderung kann allein helfen, dem Entwicklungsgedanken ein eine mathematischen Unterlage zu geben (Bd.III, S.160 u. 161).

Schließlich ist es der alte Gegensatz zwischen HERAKLIT und den Eleaten, zwischen dem Werden und dem Sein, der in MAUTHNERs Kritik und Polemik wiederkehrt. Die Sprache hat ihre Existenz nur in ihrem beständigen Werden, das so vortrefflich auf den ersten Seiten des ersten Bandes geschildert wird:
    "Der alte griechische Satz, man kann nicht zweimal in denselben Fluß hinabsteigen, gilt auch für die Sprache. Ihre Worte und Formen haben sich unaufhörlich verändert. Wenn unser  Helm  von dem alten indischen  carman  herkommt und gotisch z.B.  hilms  hieß, so ist die Veränderung in unscheinbaren Abschattierungen der Laute ganz allmählich vor sich gegangen; aber je unbedeutender die Lautveränderungen von Geschlecht zu Geschlecht vor sich gehen, je sicherer jedes Geschlecht glaubt und hofft, das eroberte Wort unverfälscht weiterzugeben, desto unaufhörlicher muß der Fluß dieser Veränderungen sein, damit aus  carman  Helm werde. Auch die Mühlen der Sprache mahlen langsam, aber sicher.

    So ist - um beim Bilde vom Strome zu bleiben - jeder folgende Tropfen dem vorangegangenen so ähnlich, daß kein Mikroskop einen Unterschied herausfinden könnte; und doch ist es nicht ausgeschlossen, daß das Wasser eines Stromes im Laufe der Jahrhunderte die in ihm aufgelösten Bestandteile ändert, weil durchflossene Minerallager erschöpft worden sind oder weil irgendein Gebirge durch Abholzung rascher überflutet wird oder weil Bodenveränderungen stattgefunden haben usw.

    Was beim Strome ein wenig beachtete Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ist, das ist in der Sprache zuverlässig Wirklichkeit. Unablässig wandeln die Sprachen die Bedeutung ihrer Worte und bei dem unübersehbaren Verkehr des letzten Jahrhunderts, bei dem starken Aufwand an neuen Begriffen kann die Sprache dem Bedürfnis an Bedeutungswandel kaum nachkommen." Dies ist der eine Grundgedanke, woraus die Kritik der Sprache erwachsen ist, und dem die moderne Sprachforschung keinen Widerspruch entgegensetzen wird. Der andere: die Befreiung von der Sprache durch die Sprache formuliert der gern durch pointierte Bilder wirkende geistreiche Feuilletonist dahin: "Es war einmal ein Pope, der war Pope genug, um Wanzen in seinem Bette zu haben, und Freigeist genug, um seine Wanzen als etwas Häßliches oder doch Fremdes zu empfinden. Umsonst wandte er nacheinander hundert Mittel an, seine Wanzen zu vernichten. Eines Tages aber brachte er aus der großen Stadt, wo die Universität ist, ein Mittel mit, welches ihn untrüglich befreien sollte. Er streute es aus und legte sich hin. Am anderen Morgen waren alle Wanzen tot, aber auch der Pope war tot. Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen." Aber Wanze und Pope glauben an die Unsterblichkeit. "Auch die Sprache muß sterben können, wenn sie noch einmal lebendig werden will." (Bd.I, S.657).

G. Einseitiges Werturteil über die Sprache

Wenn Befreiung in dem Sinne gemeint ist, daß auch von der Sprache gesagt werden kann: "Laß den Sturm des Todes doch
Deinen Lebensstaub verstreun'
Aus dem Staube wirst du noch
Hundertmal dich selbst erneun", so können sich Sprachforscher und Sprachphilosophen mit dem Sprachkritiker schon verständigen. Aber seinem Werturteil über die Sprache werden sie grundsätzlichen Widerspruch entgegensetzen.

Es ist doch ein befremdender Irrtum MAUTHNERs,  der  Gedanke sei der Wissenschaft noch kaum gekommen, daß nicht nur die hörbaren und sichtbaren Erscheinungen der unbekannten Elektrizität, daß am Ende alles, was uns umgibt, als Schall und Licht nur die stammelnde Übersetzung unserer Sinne sei, aus einer fremden, fremden Welt (Bd.III, S.649), während dieser Gedanke doch in den verschiedensten Gestaltungen und Wanderungen in der Geschichte der Philosophie und der Naturwissenschaften wiederkehrt, wofür MAUTHNER selbst geschichtliche Belege an anderen Stellen beibringt.

Ebensowenig, wie Wahrnehmen und Denken zum An-sich der Dinge führen, vermag die Sprache davon zu reden, und weil Vernunft und Wissenschaft nur relative Ergebnisse geben, kann auch die Sprache uns keine anderen vermitteln. Aber dies berechtigt keineswegs zu der geringschätzenden Kritik, die MAUTHNER unausgesetzt an ihr übt. Den berechtigten Gedankenkern der extremen Sprachkritik MAUTHNERs, daß die Sprache, wertlos für jedes höhere Streben nach Erkenntnis, ein Hauptmittel des Nichtverstehens sei, und daß wir bei den einfachsten Begriffen nicht wissen, ob wir bei einem gleichen Worte die gleiche Vorstellung haben (Bd.I, S.54 u. 84), diesen Gedankenkern hat WILHELM von HUMBOLDT bereits in maßvoller Begrenzung hervorgehoben.
    "Keiner aber denkt bei dem Worte gerade und genau das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert wie ein Kreis im Wasser durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist demnach auch zugleich ein Nichtverstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen. In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modifiziert, offenbart sich  ihrer  Macht gegenüber eine Gewalt des Menschen über sie." (6)
LITERATUR - Alfred Kühtmann, Zur Geschichte des Terminismus, Leipzig 1911
    Anmerkungen
  1. WILHELM WUNDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 4. Auflage, Seite 365
  2. HERMANN PAUL, Prinzipien der Sprachgeschichte, 1898
  3. Ich möchte in dieser Frage HERMANN PAUL, Geschichte der Sprachwissenschaft, Seite 150, beipflichten: "Wir müssen auch vielen Tieren Sprache zuschreiben. Man wird schwerlich bestreiten können, daß die Lock- und Warnrufe derselben schon etwas Traditionelles, nicht mehr etwas bloß Spontanes sind. Sie repräsentieren ein Entwicklungsstadium, welches auch die menschliche Sprache durchlaufen haben muß. Der charakteristische Unterschied zwischen Menschen- und Tiersprache liegt in der Zusammenfügung mehrerer Wörter zu einem Satze. Er dadurch wird dem Menschen die Möglichkeit gegeben, sich von der unmittelbaren Anschauung loszulösen und über etwas nicht Gegenwärtiges zu berichten."
  4. zitiert bei NOIRÉ, Der Ursprung der Sprache, Seite 74