cr-4Humboldt - Über Denken und Sprechen    
 
SIEGFRIED J. SCHMIDT
Denken und Sprechen
bei Wilhelm von Humboldt


Die Tätigkeit des Geistes geht nach kategorialen Formen vor sich. Diese Denkformen bilden ein System logischer Bahnen zur Überschaubarmachung der Welt.

Seit der zweiten HUMBOLDT-Rezeption durch LEO WEISGERBER mzu Beginn dieses Jahrhunderts ist das Wort von der Sprache als bildendem Organ des Gedankens' zum - meist undifferenziert gebrauchten - Gemeinplatz geworden. Dennoch soll auch hier von diesem Grund-Satz ausgegangen werden, um seinen Kontext näher zu interpretieren.

"Die Sprache", sagt HUMBOLDT,
    "ist das bildende Organ des Gedanken. Die intellektuelle Tätigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich und gewissermaßen spurlos vorübergehend, wird durch den Laut der Rede äußerlich und wahrnehmbarer für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher Eins und unzertrennnlich voneinander. Sie ist aber auch in sich an die Notwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden. Die unzertrennliche Verbindung der Gedanken, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache liegt unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur."
Im Kern enthält diese Stelle alle charakteristischen Züge des HUMBOLDTschen Interpretationsschemas: Sprache und Gedanke sind eins, Sprache ist Organ des Gedankens, und zwar lebendig bildendes, artikulierendes Organ; sie leistet Vermittlung und Objektivation; die enge Beziehung von Sprache und Vernunft ist eine unableitbare Tatsache menschlicher Natur, (Alle Züge sind, wie leicht ersichtlich, bei HERDER vorgeprägt).


"Das Denken ist eine geistige Handlung"
Vorauszuschicken ist auch hier der Vorbehalt, daß die Ermittlung von Modellen nur als analytischer Versuch gelesen werden darf, Momente in der Betrachtung zu sondern, die am Beobachtungsgegenstand untrennbar sind; versucht wird hier nur eine Betrachtung nach einem  Vorausgesetzt daß... dann - Schema,  die jeweils  von hinten her,  d.h. vom fertigen Modell her zu lesen ist.

Einzig mögliche Struktur des Geistes ist für HUMBOLDT (nach dem Vorbild HERDERs) der Prozeß, die  Bewegung,  "weil sich das Dasein des Geistes überhaupt nur in Tätigkeit und als solche denken läßt". Diese Tätigkeit wird allgemein gekennzeichnet als "Reflektieren", d.h. hier Unterscheiden von Denkendem und Gedachtem. Ihr liegt zugrunde eine "Denkkraft" (HERDERs "Besonnenheit"), die sich in einem ihr angemessenen Medium als Bewegung manifestiert, sinnlich offenbar wird.
    "Das geistige Vermögen... ist das aufeinander folgende Aufflammen der Kraft in ihrer ganzen Totalität, aber nach einer einzelnen Richtung hin bestimmt." (d.h. mit HERDER: intentional artikuliert)
Wenn HUMBOLDT die HOBBESsche Definition, wonach all unser Denken als "Trennen und Verknüpfen" scheinbar wiederaufnimmt, so darf das nicht über die Komplexion hinwegtäuschen, in die diese Ordnungsbegriffe bei HUMBOLDT treten.

Die organisierende Tätigkeit des Geistes geht nach bestimmten "Gesetzen des Denkens" gemäß kategorialen Formen vor sich und führt zur Verknüpfung von (sprachlich gewonnenen) Begriffen zu Gedanken. Die Denkformen bilden ein System logischer Bahnen zur Überschaubarmachung von  Welt,  das zugleich gebunden ist und sich nach HUMBOLDT allein ausprägt in seinem Veräußerungsinstrumentarium, der Sprache. D.h. von Denken ist da zu sprechen, wo eine Vorstellung in "wirkliche Objektivität hinüberversetzt" wird, ohne dadurch dem Subjekt entzogen zu werden, durch eine "Metastasis" (HERDER) der Vorstellung in einen Begriff.

Mehr läßt sich über das künstlich isolierte Denkmodell kaum sagen, nimmt man nicht sofort die Sprache ganz dazu. Ehe die beiden Momente in ihrem Zusammenwirken aber dargestellt werden sollen, wir auch von der Sprache ein solches Modell entworfen.

Das Modell der Sprache
Sprachbildung und Reflexion sind für HUMBOLDT wie für HERDER unzertrennlich; mit dem ersten Akt der Reflexion beginnt auch die Sprache.

Das Wort darf nach HUMBOLDT nicht als Abdruck des Gegenstandes aufgefaßt werden, es ist vielmehr der Abdruck des vom Gegenstand in der Seele erzeugten Bildes, so wie es der Mensch auf Grund der kategorialen Geformtheit seiner Sinne bildet. Das Wort bezeichnet folglich stets einen Begriff, wobei dieser Vorgang aber nicht nach einem Additionsschema (Begriff + Name) vorzustellen ist, sondern so, daß Begriffsbildung und Sprachbezeichnung dialektisch funktionial aufeinander bezogen sind.

Die Begrenzung der Bedeutung des Begriffs vollzieht sich erst im "Ganzen der Rede", geht aus dem Satzzusammenhang hervor. Primär ist der Satz, verstanden als Rede; d.h. aber sowohl vom Aspekt der Genese wie von dem des Gebrauchs her sind Begriffen nicht von den Worten im syntaktischen Zusammenhang zu lösen; denn das Wort teilt als Name nicht einen sprachfrei ausgebildeten Begriff mit feststehender Bedeutung mit, sondern bestimmt allererst den Menschen, diesen Begriff "mit selbständiger Kraft, nur auf bestimmte Weise zu bilden".

Allgemein charakterisiert HUMBOLDT Sprache als "Organismus", als "Organ des inneren Seins", in der Doppelheit ihrer Betrachtungsmöglichkeiten als "Ergon" und "Energeia".

Sprache wird gesehen als Einheit der Momente Stoff und Form, wobei unter Stoff sowohl der Laut (Schallmaterial) als auch die Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke und selbsttätigen Geistesbewegungen, die der Begriffsbildung voraufgehen, verstanden wird.  Form  meint sowohl die grammatische Geformtheit als auch das Beständige und Gleichförmige in der Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Gedankenausdruck zu erheben.

Sprache erfüllt nach HUMBOLDT einen dreifachen Zweck:
  • Empfindungsweckung und -ausdruck (wozu sie Stärke, Zartheit und Geschmeidigkeit benötigt);
  • Verständnisvermittlung (wozu sie Bestimmtheit und Klarheit braucht);
  • Gedankenanregung
HUMBOLDT unterscheidet an der Sprache klar zwischen Nennelementen und Formelementen, wobei die "Wortinhalte als Interpretamente der Welt", die "Sprachformen als Interpretamente der Relationen in der Welt" aufzufassen sind.

Damit sind die beiden Grundfunktionen der Sprache: Nennung und Formung, prinzipiell fixiert. Der Nennvorgang enthält nun aber schon die gesamte Kompliziertheit des Sprachbildungs- und Sprachgebrauchsprozesses; denn das Wort wird nicht als Maske dem separat wahrgenommenen Gegenstand zugeordnet (sei es nun  phýsei  oder  thései,  so daß im Sprechvorgang das Zeichen den Gegenstand vertritt (wie bei LOCKE); vielmehr stellt die Sprache "niemals die Gegenstände, sondern immer nur die durch den Geist in der Spracherzeugung selbsttätig von ihnen gebildeten Begriffe dar"; denn bei der Benennung sinnlicher Gegenstände "ist das Wort nicht das Äquivalent des den Sinnen vorschwebenden Gegenstandes, sondern der Auffassung desselben durch die Spracherzeugung."

Das Gesetz der Sprache liegt darin, "daß Alles, was in" dieselbe "hinübergezogen wird, seine ursprüngliche Form ablegende, die der Sprache annehme. Nur so gelingt die Verwandlung der Welt in Sprache, und vollendet sich das Symbolisieren der Sprache auch vermittelst ihres grammatischen Baues."

D.h. die Sprache wirkt schon bei der Auffassung des Gegenstandes konstitutiv mit, genauer gesagt: sie be-wirkt die Wahrnehmung eines Dinges, "schafft" es, "indem sie bezeichnet". (Es gibt für HUMBOLDT weder Wahrnehmung noch Handlung außer (neben, über) der Sprache;  Welt  - wie auch immer das zu bestimmen ist, was damit gesagt sein soll - hat der Mensch nur  in  (seiner) Sprache.

Sprache wird damit interpretiert als "Auffassungsweise", als "Weltansicht", als Anweisung zur Logisierung von  Welt,  wobei  logisieren  hier besagen soll: kategoriegerechte Einordnung des Wahrgenommenen unter Ordnungsbegriffe (Gruppen, Klassen), mit Hilfe derer man sich der Realität gegenüber zurechtfindet und über sie mit anderen Sprechenden reden kann.

So gesehen fungiert Sprache als  logische Zwischenwelt,  "welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen muss". So, "wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen den Menschen "und die innerlich und äusserlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten".

Besondere Bedeutung mißt HUMBOLDT dementsprechend grammatischen Formen zu, die er als Indikatoren des sich in der Sprache regenden Geistes mit den Denkformen direkt in Beziehung setzt. Grammatische Formen, z.B. besonders die sog. Wortarten, stellen für ihn Formbahnen der logischen Ordnungsprozesse der Sprachbenutzer dar; d.h. mit ihnen wird nicht nur die Behandelbarkeit des Wortes im Satz geregelt, sondern auch die Zugehörigkeit des im Wort Gefaßten zu den (logischen) Einteilungsklassen der sprachlichen Weltinterpretation ausgedrückt.

Das wird schon rein äußerlich daran ablesbar, daß grammatische Formmittel nicht prädikativ funktionieren, nichts Inhaltliches nennen, sondern "unmittelbar das Subjekt zum Ausgangs- oder Endpunkt ihrer Bedeutung haben", ohne deswegen subjektivistisch zu sein, da das Einzelsubjekt als sprachhabendes stets in eine Gemeinschaft eingebunden ist und - HEGELisch gesagt - ein konkret Allgemeines in der kategorialen Gliederung seiner geistigen Tätigkeit verwirklicht.
    "Die grammatische Formung entspringt aus den Gesetzen des Denkens durch Sprache und beruht auf der Kongruenz der Lautformen mit denselben."
Wortbildung in grammatischen Klassen faßt HUMBOLDT auf als die "Anwendung gewisser logischer Kategorien des Wirkens, des Gewirkten, der Substanz, der Eigenschaft usw. auf die Wurzeln und Grundwörter".

Grammatische Formen sind demnach beschrieben
  • formal als Zustandskennzeichnung am Wort, die die satztechnischen und logischen Bestimmungen des Worts in der Rede anzeigen;
  • semantisch als Hinweise auf die Einordnung, bzw. Zugehörigkeit zu den "Kategorien des Denkens und Redens". (Nomen als Substrathaftes, Verb als Tathaftes).

Die dialektische Korrespondenz von Sprache und Gedanke
HUMBOLDT setzt eine (im HEGELschen Sinne gedachte) dialektische Einheit von Denken und Sprechen an, die sich stützt auf eine Parallelität von Laut- (Artikulations-) und Bewußtseinsvorgängen.

Er geht davon aus, daß die Geistes- bzw. Denkkraft ein Medium für ihre Tätigkeit braucht, d.h. einen ihr gemäßen und doch von ihr verschiedenen  Stoff,  Dieser Stoff muß sowohl von seiner Erscheinungsweise her geeignet sein, den Vollzug des Gedankens prompt zu veräußern, als auch von seinem Bau her fähig sein, die systematisch sich zu/in Formulierungen strukturierende Funktionsweise des Geistes mitzuvollziehen, d.h. er muß  artikuliert  und  formfähig  sein.

HUMBOLDT geht mit KANT davon aus, daß keine Art von Erfahrung bloß rezeptives Schauen von etwas Vorgegebenem sein kann, sondern stets schon kategorial gesteuerte  Gegenstandskonstitution  ist. "...kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders als mit Hilfe der allgemeinen Formen unserer Sinnlichkeit geschehen".

Die Arbeit des Geistes besteht darin, Abschnitte in seinen Prozessen zu machen, die er dann zu Einheiten zusammenfaßt. Um aber die Momente seiner subjektiven Akte als objektive Einheiten behandeln zu können, muß er sie aus sich herausstellen, sie sich und anderen objektivierend vermitteln, was ohne Sprache unmöglich wäre. HUMBOLDT beschreibt diesen Vorgan in einer an HEGEL gemahnenden Art nach folgendem Schema:

Die anschauende Tätigkeit der Sinne (subjektive Tätigkeit) bildet im Denken ein Objekt. Die Sinnentätigkeit muß sich aber mit der "inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden". Aus dieser Verbindung "reisst sich die Vorstellung los" mit Hilfe des Sprachlautes und wird durch diesen subjektiv ergriffenen Laut, der aber zugleich als objektives Ergon der Sprachgemeinschaft vorgegeben ist, "in wirkliche Objektivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjektivität entzogen zu werden".

D.h. die subjektive Vorstellung wird zum Objekt, indem sie in ihrer laut-gewordenen Gestalt (als Entfremdungsprodukt einer artikulierenden Charakterisierung) vom Subjekt überschaubar wahrgenommen werden kann, vor-gestellt wird, und so als nunmehr manipulierbares Element in die Verfügbarkeit des Subjekts zurückkehren kann. Damit ist nach HUMBOLDT der dialektische Vorgang der Begriffsbildung vollzogen, und die Denktätigkeit kann - nunmehr  objektiv  verbindend und trennend - Objektiviertes verbindlich be-handeln.

Damit ist im Prinzip die Leistung der Sprache als "ewige Vermittlerin zwischen dem Geiste und der Natur" umrissen und klargelegt, daß "ohne diese ... Versetzung in zum Objekt zurückkehrende Objektivität ... die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken unmöglich" ist, mithin Sprache die "notwendige Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit" ist, da sie den Geist zu artikulierter, zu "gesetzmäßiger Tätigkeit" bestimmt.

Dieses Schema läßt sich im einzelnen noch weitgehend ausfüllen.
    "Der Mensch lebt auch hauptsächlich mit den Gegenständen, so wie sie ihm die Sprache zuführt, und da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängt, sogar ausschließlich so."
Schon von der Wahrnehmung an geht der Mensch beim Erkennen mit  logisierter Welt  um; denn nicht die Gegenstände treten in seinem Denken oder seiner Rede auf, sondern die sprachlich vermittelten, durch Merkmale unterschiedenen Gegenstandsbegriffe. Die apriorische Geformtheit der Wahrnehmung, Vorstellung und Vernunft wird bei HUMBOLDT parallel zu der Formung der Sprache gesehen; ihre Gesetze stimmen überein und wirken zusammen mit den Gesetzen des Anschauens, Fühlens und Denkens.

Im Raum der Sprache wird das sachlich Vorgegebene als Gegenstand konturiert und erhält damit eine Stelle im sprachlich artikulierten Bewußtsein. Mittels einer Verwandlung in sprachfähige (artikulierte) Einheiten schafft sich das Denken distinkte, überschaubare und relationierbare Inhalte; ein Prozeß, der dem "unbestimmten Denken" "Gestalt und Gepräge" verleiht.
LITERATUR - Siegfried J. Schmidt, Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein, Den Haag 1968