![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
||||
Sind wir Psychologisten?
Natürlich ist aber die Frage, ob unter den Inhalt der Begriffe Psychologismus und Psychologisten diese oder jene Denker gehören, durchaus sekundär, wie jede Frage des Umfangs gegenüber der des Inhalts. Primär dagegen ist die gar nicht persönliche, sondern rein sachliche Frage, ob oder in welche genau zu umgrenzenden Sinn die Psychologie die Basis für alle philosophischen Wissenschaften bilden kann, oder soll, oder muß - namentlich auch für die Logik und Erkenntnislehre. Und auf diese rein sachliche Frage kann ich nun freilich zunächst wieder nur meine persönliche Überzeugung aussprechen, diese aber in der Hoffnung und zu dem Zweck, daß unser Kongreß als der augenblicklich höchste Areopag [Tagungsort des obersten Rats im antiken Griechenland - wp] in psychologischen Dingen, sowie die durch den Kongreß angeregte und befruchtete Literatur, eine möglichst unpersönliche, sozusagen unpsychologische Antwort auf unsere Frage finde. Mein Credo ist: Ja, die Psychologie ist zwar nicht "die" einzige, aber doch eine unentbehrliche Basis für alle philosophischen Wissenschaften. Sie ist und bleibt dies auch, trotzdem jüngst der Psychologie als einer philosophischen Disziplin eine zweite, die "Gegenstandstheorie", ausdrücklich und auch schon äußerlich koordiniert worden ist. Ich meine "äußerlich" im Titel des Buches Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie" (1904, 634 Seiten). In diesem Buch sind elf Abhandlungen vereinigt, deren erste (3) von ALEXIUS MEINONG, "Über Gegenstandstheorie", die grundlegenden Bestimmungen darüber gibt, warum "Gegenstandstheorie als eigene Wissenschaft" (§ 9) unentbehrlich ist, nachdem vorher gezeigt worden war, daß sich Gegenstandstheorie weder mit Erkenntnistheorie (§ 8), noch mit reiner Logik (§ 7), noch mit Psychologie (§ 5) deckt, oder sich in diesen herkömmlichen Disziplinen auch nur restlos unterbringen läßt. Was also ist dann "Gegenstandstheorie"? Da ich natürlich die an dieser Stelle kostbaren Minuten nicht zur Berichterstattung über ein einzelnes Buch verwenden darf, so teile ich nur noch mit, daß sich Begriff und Name der "Gegenstandstheorie" zuerst in EBBINGHAUS' "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane", Bd. 33, 1903, Seite 4 finden, in MEINONGs "Bemerkungen über den Farbenkörper und das Mischungsgesetz". - An dieses Beispiel von Farben knüpft MEINONG auch wieder in dem angeführten § 5 des neuesten Werkes an, wo er zeigt, daß und warum die Psychologie des Farbenkörpers (als des Inbegriffs der wirklichen, der wirklich empfundenen Farben) etwas ganz anderes ist als die Gegenstandstheorie des Farbenraums als des Inbegriffs der möglichen, den denkbaren Farben; vgl. auch den Titel § 2 "Farbengeometrie und Farbenpsychologie" (ebd. Seite 3). - Vielleicht darf ich hier eine Erinnerung daran erwecken, wie es mir beim Niederschreiben meiner Psychologie ergangen ist, als ich an der Spitze des speziellen Teils, § 22, "Die allgemeinen Aufgaben der psychologischen Empfindungslehre" sagte:
Dazu kommt aber, daß es außerhalb der Grenzen der Psychologie nicht nur jene Wissenschaften von physisch Wirklichem gibt, sondern auch noch die Mathematik, die, wie wir seit LEIBNIZ und HUME wissen, "jenseits von Wirklich und Nichtwirklich" liegt und daher umsomehr jenseits der Teilung in Physisches und Psychisches. Denn diese Zweiteilung geht unmittelbar selbst nur auf Wirkliches im Sinne von "Phänomenalem" (im Gegensatz zum "Metaphänomenalen", zu welchem u. a. auch die Relationen und Komplexionen gehören; vgl. meine Abhandlung "Zur gegenwärtigen Naturphilosophie", Berlin 1904, Seite 95 und 131). In jener Zweiteilung der Phänomene selbst gründe dann auch der über jeden Zweifel, wenn auch nicht über jedes Mißverständnis erhabene "phänomenale Dualismus" (vgl. meine "Psychologie", 1897, § 2, Ende). In der Tat ist es dann auch die "Mathematik", die von nun an unter den Oberbegriff gegenstandstheoretischer Gegenstände, Aufgaben und Methoden fällt. Auch der einseitigste Psychologist wird aber nicht erwarten, daß einstmal Geometrie und Arithmetik innerhalb der psychologischen Wissenschaft restlos abgehandelt werden, sollte man sich die Psychologie auch noch so sehr ausgedehnt oder ausgebildet denken. HUSSERL erzählt im Vorwort zu seinen "Logischen Untersuchungen", daß er gerade durch die von ihm versuchte psychologische Grundlegung zur Arithmetik vom Psychologismus abgekommen ist und nun in der reinen Logik eine quantitätlose Mathematik sucht. Aber auch wenn wir einstweilen noch bei der Mathematik in dem gewohnten Sinn einer von Größen und Größenbeziehungen handelnden Wissenschaft bleiben, wie sie noch KANT verstanden hatte, so darf mit nicht weniger Recht, als KANT die Mathematik seinen "formidablen Bundesgenossen" genannt hatte, sie auch MEINONG so nennen. Und sollte die Zeit kommen, wo man auch dieser neuen Erkenntnistheorie wieder ein historisch-philologisches Interesse zuwendet, so werden wohl eher die Ähnlichkeiten als die Unterschiede beider Systeme ins Auge fallen. Schon daß MEINONGs Umgrenzung des Gegenstandstheoretischen sich mit dem Apriorischen deckt, mag für solche, deren Unterschiedsschwelle in erkenntnistheoretischen Dingen etwas hoch liegt, zur Diagnose auf Kantianismus hinreichen. - Schon vor 23 Jahren hat MEINONG in seiner Relationstheorie die ebenso einfache wie überzeugende Erklärung für die Möglichkeit und Wirklichkeit apriorischer Urteile unter Ablehnung aller apriorischen Vorstellungen gegeben. Es hat gar keinen Sinn, daß wir eine Vorstellung von Rot, von Gelb, von Grün a priori haben sollten (4); und (gegen KANT) ebensowenig einen Sinn, daß wir eine Vorstellung a priori von Raum und Zeit oder davon haben sollten, worin das eigentlich Räumliche sich etwa spezifisch unterscheidet von jenen Quasi-Raumelementen A B C abc α β γ, wie sie HILBERT in seinen "Grundlagen der Geometrie" (1904) zwar noch "Elemente der Geometrie", ja sogar "Punkte", "Gerade", "Ebenen" nennt, aber in einem der spezifisch räumlichen Anschaulichkeit von einer unräumlichen Geometrie einer künftigen Erkenntnistheori stellen, wird sich auf die Frage zuspitzen, ob die Relationsurteile der Mathematik überhaupt Relationen (r) zwischen Räumlichen (R) oder nur Relationen (ρ) zwischen Relationen (r) zum Gegenstand haben. Von solchen Relationen (ρ) möchte sich dann freilich herausstellen, daß sie teilweise unabhängig davon sind, ob sie zwischen Relationen (r) oder ob sie zwischen Räumlichkeiten (R) bestehen. Gibt es ja auch z. B. nur einerlei Relation der Gleichheit, gleichviel, ob sie zwischen zwei Farben oder zwei Raumstrecken, oder ob sie zwischen zwei Verschiedenheiten besteht. - Mit jener Leugnung aller apriorischen Vorstellungen vom Raum so gut wie von den Farben verträgt es sich aber sehr wohl, daß wir für die Erkenntnis, Rot sei von Gelb verschieden, außer der Erfahrung, die uns diese Vorstellungen gegeben hat, nicht noch eine Erfahrung brauchen (ja nicht einmal brauchen können), die uns zu jenem Urteil verhilft, das eben deshalb und in diesem Sinne ein "apriorisches" ist. So darf dann MEINONG (Über Gegenstandstheorie, Seite 40) sagen:
Wollen wir nun aber neben den Ähnlichkeiten der gegenstandstheoretischen Philosophie mit der kantischen auch ihre Unterschiede charakterisieren, so gäbe das eine Digression [Abweichung - wp], die für einen Psychologenkongreß viel zu weit geht. Nur so viel: Die relationstheoretische, allgemeiner: gegenstandstheoretische Begründung bedarf zur Fundierung ihrer apriorischen Urteile nichts anderes als das, worüber geurteilt wird; KANT bedurfte für seine synthetischen Urteile a priori eines "X, auf das sich der Verstand stützt". Und der fand es in "Anschauungen" und "Kategorien", die wir nicht gut anders, denn als psychologische (5) Hypothesen bezeichnen können. So bedürfte es also vielleicht nur noch eines weiteren Schritts der Digression, um zu zeigen, daß sogar KANT noch ein Psychologist war im Vergleich zu einigen der Philosophen aus dem ersten Absatz des § 33 in ÜBERWEG-HEINZE, a. a. O. Immerhin aber läßt sich vom Wesentlichen in KANTs Absicht einer Transzendentalphilosophie sagen, daß auch sie als ein Stück Gegenstandstheorie gedacht war. KANTs Definition lautet zwar:
Aber ist es denn nun wahr, daß dieser jüngste Rivale der Psychologie, die Gegenstandstheorie, von Psychologie wirklich und in jedem Sinn unabhängig ist? - Das Wort "Gegenstand" weist durch die Präposition "gegen" noch ebenso deutlich auf einen Gegenstand hin, wie nach SCHOPENHAUER jedes Objekt auf ein Subjekt; und jenes Gegenglied ist und bleibt eben das Psychische (6). Und noch durch ein Zweites mahnt gerade das Wort "Gegenstand" an sein Gegenstück, das Psychische. Nur langsam hat sich in dieser jüngsten Entwicklung der Begriff des Gegenstandes losgerungen vom dem des Inhaltes, und ich darf hier wohl meine Freude darüber aussprechen, daß es meine im Jahr 1886 verfaßte, 1890 veröffentlichte "Logik" gewesen ist, die zu dieser Entwicklung den ersten Anstoß gegeben hat; wenigstens knüpft TWARDOWSKI seine ganze scharfsinnige erste Begründung des Unterschiedsan den § 5 meiner "Logik" an, wo ich zur Unterscheidung zwischen Inhalt und Objekt mich zuerst gedrängt gesehen habe (7). - Vom Gegenstand aber wissen wir (auch nach MEINONG) nur durch den Inhalt: "Inhalt" aber ist schlechterdings korrelativ zu "Akt" (so daß es wunderlich genug ist, wenn z. B. CORNELIUS zwar alle "Akte" befehdet, sich aber vom "Inhalt" nicht trennen kann). Und endlich noch eine allgemeinste Erwägung, daß die Psychologie, wenn nicht die, so doch eine Basis für alle philosophischen Wissenschaften ist und bleibt: Es wird kaum einen unter uns geben, der nicht von den Naturwissenschaften gelernt hätte, daß Tatsachen den Nährboden aller fruchtbringenden wissenschaftlichen Arbeit abgeben müssen. Und das der Philosophie eigentümliche Tatsachengebiet sind und bleiben eben die psychischen Tatsachen. Nicht jedes Jahr kann neue Tatsachen bringen, wie sie von zwanzig Jahren in Hypnose und Suggestion erschlossen wurden - wie ja auch nicht jedes Jahr ein neuer Weltteil entdeckt werden kann. Aber unaufhaltsam schreitet die Technik der sich verfeinernden psychologischen Analyse fort - wie ja auch alles längst entdeckte Land noch längst nicht so durchgepflügt ist, daß es für fleißige Hände nichts zu tun gäbe. - In einem solchen weiten und weitesten Sinn ist dann freilich die Psychologie eine Grundwissenschaft nicht nur aller Philosophie, wie aller Wissenschaft (da Wissen ein Urteilen, kein Urteilen aber ohne Gegenstand und Inhalt ist), sondern auch allen Tuns, durch das wir, wenn auch oft erst in so weiten Umwegen, wie z. B. durch planmäßige Jugendbildung, nicht nur unserem Wissen, sondern unserem ganzen Dasein nützlich sein wollen. ![]()
1) An hervorragender Stelle findet sich das Wort bei Husserl in den "Logischen Untersuchungen", erster Teil: Prolegomena zur reinen Logik, 1900, Seite 50, wo das dritte Kapitel überschrieben ist: "Der Psychologismus, seine Argumente und seine Stellungnahme zu den üblichen Gegenargumenten". 2) Keineswegs auch im Namen des ebenfalls dort genannten Brentano, der über unsere ketzerische Selbständigkeit längst (ausdrücklich seit dem Erscheinen der unter Meinongs Mitwirkung von mir verfaßten Logik 1890) den großen Bann verhängt hat. 3) Die übrigen zehn von Meinongs Schülern, Ameseder, Mally, Frankl, Benussi, Wilhelmine Liel, Saxinger. 4) Schopenhauer freilich spricht auch von einem a priori-Erkennen der Farben (Über das Sehen und die Farben, § 5) "Rot, Grün, Orange, Blau, Gelb, Violett ... müssen ... gewissermaßen a priori erkannt sein ... So weiß ... jeder ... anzugeben, ob ... z. B. ein empirisch gegebenes Gelb rein ist, oder ob es ins Grüne oder Orange zieht: er muß also eine Norm, ein Ideal, eine epikureische Antizipation der gelben und jeder Farbe, unabhängig von der Erfahrung, in sich tragen, mit welcher er jede wirkliche Farbe vergleicht". Wie sehr trotz solcher heute sehr fremdartig klingenden Bezeichnungen die Sache selbst, nämlich Begriff und Gegenstand der "Hauptfarben", "Grundfarben" und dgl. noch auf der Tagesordnung steht, zeigt z. B. die Darstellung G. E. Müller, "Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen" (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 10), namentlich § 12: "Von der besonderen Stellung, welche die sechs Grundfarben, insbesondere auch hinsichtlich der sprachlichen Bezeichnung, im Farbensystem einnehmen". 5) Vgl. Vaihinger, Kant-Kommentar I, Seite 324, die Unterscheidung zwischen einer empirischen Psychologie und einer "Transzendental-Psychologie"; letztere soll nach Kant nur "unwesentlich", erstere verwerflich für die Ziele der Transzendental-Philosophie sein. - Da seit langem Cohen und seine Schule ihre Aufgabe darin sehen, das Transzendentale in einen möglichst großen Abstand von aller Psychologie zu rücken, so hätte die neue Gegenstandstheorie in jener Gruppe von Neukantianer auf den ersten Blick Bundesgenossen zu vermuten. Leider scheinen sich aber in die Lieblingsformeln jener alten anti-psychologistischen Schule vom Anfang Rechenfehler eingeschlichen haben, die sich nun darin rächen, daß die Gedankenreihen immer weniger gegen die Wahrheit konvergieren wollen, vielmehr, zum Beispiel in Rickerts "Gegenstand der Erkenntnis", schon ein ganz kolossales Restglied, nämlich die gründliche Entstellung des Begriffs "Gegenstand" selbst, aufweisen (vgl. die Anzeige von B. L. V. in der Wissenschaftlichen Beilage zur Allgemeinen Zeitung , München, 25. März 1905. - Vielleicht fallen auf manche dieser Dunkelheiten, die weder im Gegenstand der Erkenntnis selbst, noch im Gegenstand des kantischen Philosophierens begründet sind, scharfe aber wohltätige Streiflichter aus den "Abhandlungen der Fries'schen Schule", Neue Folge, Göttingen, 1904-1905. 6) Eben als ich Obiges niedergeschrieben hatte, fand ich in der "Wissenschaftlichen Beilage zur Münchner Allgemeinen Zeitung" vom 28. Januar 1905, Seite 183, folgenden Bericht: In der Akademie der Wissenschaften zu Berlin las am 19. Januar Carl Stumpf über "Erscheinungen und psychische Funktionen". Die Auflösung psychischer Funktionen in Erscheinungen (Empfindungs- und Vorstellungsinhalte) hat sich in allen Fällen als undurchführbar erwiesen. Der Unterschied ist der schärfste, den wir kennen. Diese Erfahrung scheint aber auch für eine gegenseitig-unabhängige Veränderlichkeit der Funktionen und der Erscheinungen in weiten Grenzen zu sprechen. Die "Erforschung der Erscheinungen ansich und ihrer immanenten Gesetzlichkeit" gehört, prinzipiell genommen, weder der Physik noch den Geisteswissenschaften an, bildet vielmehr eine "selbständige und sehr ausgedehnte Gruppe von Untersuchungen". - Soweit es aus dem kurzen Bericht zu erkennen ist (die Abhandlung selbst war mir bisher nicht zugänglich), schließt sich also auch Stumpf, einer der ebenfalls unter den Psychologisten Genannten, der prinzipiellen Scheidung zwischen Gegenstandstheorie und Psychologie an. 7) Trotz Brentano, der nicht nur überall "Inhalt" und "intentionales Objekt" gleichbedeutend nimmt, sondern meine schon damals hiergegen geäußerten Bedenken mit den Worten: "Was sollte das für ein Unterschied sein?" ausdrücklich zurückgewiesen hat. |