cr-2BahnsenBaumannHerzVaihingerHarmsHeman    
 
JULIUS JACOBSON
Über die Auffindung des Apriori
[Rede gehalten am 12. Februar zur Feier von Kants Sterbetag
in der Aula der Königlichen Albertus-Universität zu Königsberg]


"Die Vorstellung des Raumes und der Zeit sind deshalb notwendige Vorstellungen, weil sie die Grenze meines Abstraktionsvermögens von der Sinnlichkeit bezeichnen, weil sie dasjenige sind, was selbst meinen angestrengtesten Versuchen, mich alles Subjektiven an der sinnlichen Vorstellung zu entledigen, nicht weicht."

"Der Satz A = A ist deshalb ein notwendiger Satz, weil ich nur mit der Aufhebung meines eigenen Denkens zugleich das Gegenteil desselben begreifen könnte, weil das charakteristische meines Denkens eben darin besteht, sein Gegenteil nicht denken zu können."

Die Metaphysik befindet sich neuerdings in einem Übergangsstadium, das sie schon zu wiederholten Malen immer in gleicher Weise durchzumachen gehabt hat, und in welches mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit eingehen zu müssen, das Geschick der philosophierenden Menschheit überhaupt, sowie jedes einzelnen philosophierenden Individuums zu sein scheint. Durch ihre eigenen Ausschreitungen von aller Wirklichkeit entfernt, in das Reich unkontrollierbarer Spekulationen, gehaltloser Träumereien verloren sah sie sich bei ihrem Erwachen aller vermeintlichen Errungenschaften beraubt; die Eroberungen, welche sie im Reich des Absoluten gemacht zu haben wähnte, erwiesen sich als ebenso viele Niederlagen im Gebiet des Wirklichen; was sie an wahren Gütern besessen haben, hatte sie mit Bewußtsein von sich gewiesen, mit Bewußtsein den ihr angewiesenen Weg, welcher allein zur Erwerbung wahrer Erkenntnisse führen konnte, verlassen - und so bot sie um die Mitte dieses Jahrhunderts ein bejammerungswürdiges und durch ihre eigene Verschuldung verächtliches Schauspiel dar. Das Bündnis, welches sie aus dem Gefühl eigener Unselbständigkeit heraus in jener Zeit mit der Naturwissenschaft einging, wurde von den Besonnenen aus beiden Wissenschaften als für beide Teile unheilvoll erkannt und verschmäht, und als seine unvermeidlichen Folgen Verflachung und Verirrung auf beiden Seiten vorausgesagt. Die warnenden Stimmen wurden nicht gehört, der gesunde Menschenverstand, dieser Erzfeind philosophischer Forschung, sah seit langem wieder zum ersten Mal die Pforten der Philosophie geöffnet, der Gedanke des Bündnisses fiel in eine in jeder Hinsicht unternehmungslustige Zeit, eine neue Ära wurde dem menschlichen Geist verheißen, es war des Jubels kein Ende. Die Entnüchterung ist nicht ausgeblieben. Die Philosophie, welche sich der Naturforschung einseitig zuwendet, kann dem geistigen Bedürfnis nicht dauernd genügen, sie ist zudem dem Skeptizismus widerstandslos unterworfen, welcher am Wechsel und der Unsicherheit der sinnlichen Erscheinung stets das fruchtbarste Feld seiner Zerstörung gefunden hat, und die Philosophie hat so von Neuem den platonischen Satz bewahrheitet, daß sie aus der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften nur unklarer, aber nie gefördert werden kann.

So steht dann die Metaphysik heutzutage wieder zwischen den beiden drohenden Gespenstern des Dogmatismus und des Skeptizismus; ihre spekulativen Ausschreitungen haben sie die Gefahren des ersteren, ihre Verirrungen auf den Boden der Empirie diejenigen des letzteren kennen gelehrt; der Zustand ist demjenigen ähnlich, in welchem sie sich befand, als das Erscheinen der "Kritik der reinen Vernunft" wie das eines verheissenen Sterns plötzlich die Geister erhellte. Es erklärt sich daraus, warum sich die Blicke Aller jetzt wieder auf KANT zurückwenden, warum man bei ihm zu finden hofft, was man vergebens bei allen Anderen gesucht hat, bei ihm, der sich zum ersten Mal klar und bestimmt und mit sittlichem Ernst die Aufgabe stellte, auf deren Lösung es wieder allein ankommt, die Aufgabe, das Schiff Metaphysik zwischen den Klippen des Dogmatismus und Skeptizismus ungefährdet hindurchzuführen - und so feiern wir heute an KANTs Sterbetag zugleich das Auferstehungsfest seines Geistes in der modernen Philosophie. -

Ob und inwieweit es KANT wirklich gelungen ist, die Philosophie vor der drohenden Gefahr des beständigen Zurückfallens in eine der beiden Ausschreitungen zu bewahren, ob er in der Kr. d. r. V. in der Tat ein Forum eingesetzt hat, vor dem, wie er meinte, alle Streitigkeiten der Philosophen geschlichtet, alle ungerechten Ansprüche nach ewigen, unveränderlichen Gesetzen zurückgewiesen werden könnten; ob es also einen Pol im menschlichen Geist gibt, der selbst unverrückbar feststeht, wie sich auch die innere und äußere Erscheinung in beständiger Flucht um ihn dreht - das sind die Fragen, an welche sich die Zeit von Neuem zu machen hat, vor deren Lösung sie nicht hoffen darf, einen dauernden Fortschritt in der Philosophie zu verzeichnen, Fragen, an deren Beantwortung sie aber nie mit der Aussicht auch nur auf den mindesten Erfolg wird gehen können, ehe nicht eine Vorfrage endgültig beantwortet ist, die Vorfrage: gibt es etwas Notwendiges, gibt es etwas Allgemeingültiges? wie kommen wir zu den Begriffen der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit? woher stammen sie? gibt uns die Art, in der wir sie erkennen, die Bürgschaft ihrer Unverletzlichkeit? die Vorfrage also: gibt es ein Aprior und was ist es?

Unter einer notwendigen Vorstellung versteht KANT eine solche, deren Gegenteil nicht zu denken ist, oder eine solche, von der nicht abstrahiert werden kann. Die Vorstellung des Raumes und der Zeit sind deshalb notwendige Vorstellungen, weil sie die Grenze meines Abstraktionsvermögens von der Sinnlichkeit bezeichnen, weil sie dasjenige sind, was selbst meinen angestrengtesten Versuchen, mich alles Subjektiven an der sinnlichen Vorstellung zu entledigen, nicht weicht. Der Satz A = A ist deshalb ein notwendiger Satz, weil ich nur mit der Aufhebung meines eigenen Denkens zugleich das Gegenteil desselben begreifen könnte, weil das charakteristische meines Denkens eben darin besteht, sein Gegenteil nicht denken zu können.

Weniger einfach ist die Bestimmung des Begriffs "allgemeingültig". Daß darunter nicht jene Allgemeingültigkeit verstanden sein kan, welche einzig und allein aus einer reichen, ja nur aus einer Alles umfassenden Induktion fließen kann, ist an und für sich klar, wenn man sich den Widerspruch vergegenwärtigt, in welchem die Annahme der Apriorität dieser Art von Allgemeingültigkeit notwendig verwickeln muß. Nur durch eine beständig zu bereichernde Erfahrung soll ich auf der einen Seite den Begriff der Allgemeingültigkeit einer Vorstellung fassen können - denn auf welchem anderen Weg könnte ich ermitteln, daß eine Vorstellung bei Jedermann und zwar bei Jedem zu allen Zeiten immer die gleiche ist? - und doch soll diese selbe Vorstellung, die ich erst durch Erfahrung gewinnen kann, aller Erfahrung vorhergehen. Der Widersinn ist offenbar. Um einer Vorstellung den Charakter der Allgemeingültigkeit beizulegen, kommt es gar nicht darauf an, zu wissen, daß dieselbe auch bei jedem Anderen und bei mir zu allen Zeiten gefunden wird, vielmehr drückt das Prädikat "allgemeingültig" nur eine Eigentümlichkeit des Auftretens dieser Vorstellung in meinem Bewußtsein zur Zeit der jedesmaligen Reflexion aus, es besagt, daß diese Vorstellung mir zugleich das Ansinnen abgenötigt hat, daß sie bei allen Menschen und auch bei mir zu jeder Zeit ganz in derselben Weise zu finden ist, solange irgendjemand und auch ich selbst auf den Namen eines vernünftigen Wesens Anspruch erhebt; kurz: "eine Vorstellung ist allgemeingültig", sagt nichts Anderes aus und kann auch ohne offenen Widerspruch im Sinne KANTs nichts Anderes aussagen, als: dieselbe tritt in meinem reflektierenden Selbstbewußtsein mit dem Anspruch an Allgemeingültigkeit auf, ich insinuiere [unterstelle - wp] sie allen anderen gleichgearteten Wesen sowie meinem Individuum selbst in jeder kommenden Zeit, sofern ich demselben Vernunft beilege. Es kommt ferner gar nicht darauf an, daß ich diese Art der Allgemeingültigkeit an ein und derselben Vorstellung verbunden finde mit jener Allgemeingültigkeit der Induktion, ja selbst wenn ich fände, daß eine Vorstellung, welche sich bei mir mit Allgemeingültigkeit geltend macht, einer Reihe menschlicher Wesen fehlt oder bei ihnen in ihr Gegenteil verkehrt wäre, so würde sie darum den Charakter jener kantischen Allgemeingültigkeit nicht einbüßen, derselbe würde vielmehr glänzend in der Beurteilung derjenigen hervortreten, welche diese Vorstellung entbehren, indem ich dieselben nämlich nicht als zwar andersdenkende, aber mit mir vor dem Forum der Vernunft gleichberechtigte Wesen selbst bei Verandschlagung aller möglichen subjektiven Verschiedenheit betrachten könnte, sie vielmehr aus der Reihe der vernünftigen Wesen mit Notwendigkeit streichen müßte. Mit Unrecht, glaube ich, hat ÜBERWEG behauptet, das Bedenken, ob und warum die Voraussetzung gerechtfertigt ist, daß jeder Andere in sich das Gleiche erfährt, was der Kritiker in seiner eigenen Erfahrung findet, trifft auch KANT. Die Voraussetzung ist berechtigt, sofern der Kritiker jedem Anderen Vernunft beilegt, weil es eben zu seinem Begriff eines vernünftigen Wesens gehört, die notwendigen und allgemeingültigen Vorstellungen zu besitzen.

Ich lerne also damit, daß ich eine Vorstellung als notwendig und allgemeingültig erkenne, nur die Beziehung derselben zu meinem eigenen Bewußtsein kennen, ohne damit über ihr Auftreten bei anderen Wesen meiner Erscheinung auch nur das Geringste zu wissen.

Die Frage, ob es überhaupt notwendige und allgemeingültige Vorstellungen gibt, muß hier im Sinne KANTs mit "ja" beantwortet vorausgesetzt werden. Man darf wohl behaupten, daß der Streit, welcher darüber auch in den jüngsten Tagen der Philosophie nicht enden will, aus einer Unklarheit auf Seiten derjenigen entspringt, welche das Vorhandensein derartiger Vorstellungen bestreiten; und wenn es zu weit gehen heißt, wie BONA-MEYER behauptet, daß kein scharfer Denker mehr die Wirklichkeit eines apriorischen Besitzes unserer Vernunft bestreitet, ein Urteil, das in erster Reihe BENEKE und JOHN STUART MILL trifft, so darf man andererseits sagen, daß Keiner derselben imstande gewesen ist, den gewünschten Nachweis für den empirischen Ursprung der von ihm als a priori bestrittenen Elemente unserer Erkenntnis zu liefern, daß sie vielmehr Alle gerade bei dem Versuch eines solchen Nachweises in den metaphysischen Voraussetzungen, welche sie über die Möglichkeit und die Natur der Erfahrung machen, selbst Belege für die Apriorität dieser Voraussetzungen liefern. Wer z. B. das Gesetz der Kausalität aus einer Theorie der Erfahrung ableiten will, die sich selbst wieder auf das Gesetz der Assoziation der Vorstellungen stützt, die also schon von der Annahme der Einwirkung zweier Vorstellungen aufeinander ausgeht, beweist eben an sich selbst den metaphysischen Ursprung des Kausalgesetzes.

Der Boden, von dem wir ausgehen, wenn wir die Existenz notwendiger und allgemeingültiger Vorstellungen annehmen, ist also keineswegs dogmatisch, er ist gut kritisch gewählt; die eigene Reflexion liefert uns den direkten, die Unangreifbarkeit desselben den indirekten Beweis für seine Sicherheit, und so schreiten wir dann von ihm aus, zur Beantwortung der zweiten Frage, nach der Auffindung des Apriori.

Eine begriffliche Trennung ist, wie mir scheint, unerläßlich, ehe man an diese Untersuchung geht, die Trennung nämlich in "notwendig und allgemeingültig" auf der einen Seite und "a priori" auf der anderen, eine Trennung, durch deren konsequente Durchführung eine Reihe von Irrtümern hätte vermieden werden können, welche die Lehre vom Ursprung der apriorischen Erkenntnis heute verdunkeln. KANT hat allerdings die beiden Begriffe durcheinander und für einander gebraucht, wo er es tut, ist er aber durch die Natur seiner Untersuchung berechtigt, welche erst da anhebt, wo der Satz: "was den Kriterien der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit genügt, ist apriori", zugegeben ist, wo also die Frage, deren Beantwortung hier erst gesucht wird, schon als in seinem Sinne beantwortet vorausgesetzt ist. Eine einfache Betrachtung der Definitionen ergibt, daß im Kriterium der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ansich nicht der Beweis für die Apriorität der dieses Kriterium tragenden Vorstellung liegt. Zwischen der Einsicht, daß Etwas notwendig und allgemeingültig ist und der Erkenntnis, daß es deshalb auch nicht aus der Erfahrung stammen kann, liegt eine Reihe von Schlüssen, welche sicherlich nicht in dem Maße evident ist, daß sie nicht einer erneuten Prüfung bedürfen würde. Gleichviel aber wie man sich fernerhin zur Frage nach der Apriorität der notwendigen und allgemeingültigen Vorstellungen stellen mag, das ist gewiß, daß sich diese Begriffe keineswegs decken und daß es bei jeder Untersuchung über den Ursprung der notwendigen Vorstellungen die Begriffe verwirren heißt, wenn man das, was die Untersuchung erst zu ergeben hat, dadurch vorausnimmt, daß man beide Ausdrücke für den gleichen Vorstellungskreis in Anwendung bringt, weil es ja KANT, der sie einführte, selbst so gemacht hat.

In der Geschichte der philosophischen Anschauungen über das Apriori, welche dasselbe trostlose Schauspiel der Zerrissenheit darbietet, wie die Geschichte philosophischer Meinungen überhaupt, soviele Fragen, soviele Streitpunkte, soviele Philosophen, soviele Ansichten, findet sich ein höchst lehrreiches Beispiel für die Notwendigkeit einer solchen Trennung zwischen der apodiktischen Gewißheit einer Vorstellung und ihrer Apriorität. Im 5. Band seiner "Geschichte der neueren Philosophie" kommt KUNO FISCHER bei der Behandlung der FRIES'schen Philosophie auf die Frage zu sprechen, inwiefern FRIES Recht gehabt hat, als er den psychologischen Ursprung der Entdeckung des Apriori behauptete. Er verwirft die FRIES'sche Ansicht und kommt zu dem Resultat: daß es zwar zugegeben werden muß, daß unsere ursprünglichen Vernunftäußerungen, daß die Anschauungen von Raum und Zeit, Begriffe wie Kausalität und dgl. zunächst auf dem Weg der Erfahrung und Selbstbeobachtung gewonnen sind: Eines aber kann auf diesem Weg nie entdeckt werden, nämlich daß jene Vernunftäußerungen, es seien Anschauungen oder Begriffe a priori sind. Was a priori [zuvor, zuerst - wp] ist, kann nie a posteriori [im Nachhinein - wp] erkannt werden. - Es bleibt bei dieser Auseinandersetzung zunächst im Dunkeln, was FISCHER eigentlich hier für die apriorische Erkenntnis hält, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Erkenntnis, die ursprünglichen Vernunftsäußerungen sind a priori, sich zusammensetzt aus zwei Teilen, daß man zunächst zu erkennen hat, daß diese Vorstellung notwendig und zweitens daß sie deshalb a priori sind. Von welchem dieser beiden Erkenntnisse behauptet nun KUNO FISCHER, daß sie selbst wieder apriorisch ist? Eine frühere Stelle gibt Aufschluß hierüber; er sagt, die Selbstbeobachtung kann doch nur das eigene Ich erfassen, gelangt somit nie zu Resultaten, welche die Kennzeichen der apriorischen Gewißheit, Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit an sich tragen. Hiernach ist es nicht zweifelhaft, daß FISCHER der Methode der Reflexion auch die Fähigkeit abspricht, die Merkmale der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit an Vorstellungen zu erweisen; es ist aber auch zugleich nicht zweifelhaft, daß nur eine falsche Vorstellung vom Wesen derjenigen Allgemeingültigkeit, welche zum Begriff der apodiktischen Gewißheit gehört, ihn dazu geführt. Den Grund, den er angibt, daß die Selbstbeobachtung nur das eigene Ich erfassen kann, zeigt, daß er die Kriterien der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit auf einem anderen als dem Boden des eigenen Selbstbewußtseins sucht, daß er folglich das Kriterium der Allgemeingültigkeit im Sinne jener induktiven Allgemeingültigkeit verstanden hat. Er hatte Recht zu behaupten, daß diese nicht aus dem über sich selbst reflektierenden Bewußtsein gefunden werden kann; aber er hatte ebenso Unrecht, wenn er um dieser Allgemeingültigkeit willen nicht nur der Entdeckung der Vorstellung, sondern selbst irgendeiner in seinem Sinne allgemeingültigen Vorstellung den Charakter der Apriorität beilegt, um dieser Allgemeingültigkeit willen, zu deren innerstem Wesen es gehört, nur aus der Erfahrung stammen zu können.

In seinem "System der Logik und Metaphysik", 1865, zweite Auflage ist KUNO FISCHER in gleich energischer Weise gegen die FRIES'sche Auffassung der Natur der kantischen Entdeckung ins Feld gezogen. Er sagt:
    "Sind die Kategorien Objekte einer psychologischen Einsicht, so sind sie Erfahrungsobjekte, so gilt von ihnen, was von allen Erfahrungsobjekten ohne Ausnahme gilt. Kein Erfahrungsobjekt ist allgemein und notwendig: wenigstens läßt sich diese Beschaffenheit durch Erfahrung nie einsehen. Sind also die Kategorien bloß Erfahrungsobjekte, so sind sie weder allgemein noch notwendig, dürfen wenigstens als solche nicht angesehen werden, solange sie als Erfahrungsobjekte gelten: so sind sie nicht a priori, also überhaupt keine Kategorien."
Wir haben es hier mit gar keiner Widerlegung, sondern nur mit einer Verneinung zu tun; während FRIES behauptete, notwendige und allgemeingültige Vorstellungen können auch als Gegenstand einer Erfahrung und zwar der inneren Erfahrung werden, setzt FISCHER das Gegenteil dieser Behauptung bei seiner Deduktion oben an und schließt daraus, daß die Kategorien als notwendige und allgemeingültige Vorstellungen deshalb auch nicht Gegenstand einer Erfahrung sein können.

Das zuerst angeführt Argument FISCHERs hat also vor diesem jedenfalls insofern den Vorzug, als wir doch erfahren, weshalb nach seiner Ansicht die Methode der Selbstbeobachtung den Nachweis für die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit nicht liefern kann.

Wir sehen, daß es FISCHER weder gelungen ist, einen Irrtum in der FRIES'schen Annahme von der Entdeckung des Apriori zu enthüllen, noch seine Anschauung von der Apriorität dieser Entdeckung durch irgendeinen haltbaren Grund zu stützen, daß er vielmehr diese Anschauung durch die Widersprüche, in welche sie ihn verwickelt, in nicht geringem Maß verdächtig gemacht hat, und es ist gewiß, daß FISCHER zur Klarstellung unserer Frage Nichts, bei näherem Zusehen aber auch Nichts zu ihrer Verwirrung getan hat.

Dasselbe gilt von LIEBMANN, der sich in seinem Werk "Kant und die Epigonen" mit der Wiederholung von FISCHERs Worten begnügt.

Als Verfechter der Lehre von der metaphysischen Natur der Entdeckung des Apriori ist schon vor FISCHER ULRICI in seinem "Grundprinzip der Philosophie" mit einer anderen Argumentation aufgetreten. Er sagt:
    "Locke rechnet die Erkenntnis der Tatsachen des Bewußtseins zur inneren Erfahrung. Wollte Kant jene Tatsachen ebenfalls auf diese innere Erfahrung stützen, so würden sie nach seiner eigenen Begriffsbestimmung daraus ohne alle Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, folglich ohne alle philosophische Berechtigung sein. Nach Kants eigenen Behauptungen können folglich jene Tatsachen, auf denen seine ganze Philosophie ruht, als Tatsachen nicht a priori, als a priori nicht Tatsachen sein."
Unter dem Wort "Tatsachen der inneren Erfahrung" verbirgt sich hier ein Doppelsinn; es fragt sich ober darunter das Vorhandensein der einzelnen Vorstelung überhaupt oder das Vorhandensein derselben als notwendigen und allgemeingültigen Vorstellung zu verstehen ist. Im ersteren Sinn spricht selbst KUNO FISCHER von der Möglichkeit einer Erkenntnis der notwendigen Vorstellungen durch innere Erfahrung, und muß eine solche Möglichkeit nicht nur, sondern selbst die Wirklichkeit einer derartigen Erkenntnis auch von allen denjenigen zugegeben werden, welche die psychologische Natur der Auffindung des Apriori bestreiten. Es handelt sich also wohl um die letztere Deutung des Ausdrucks. -

Wenn KANT angenommen hätte, daß notwendige und allgemeingültige Vorstellungen als solche durch innere Erfahrung erkannt werden können, so wäre die Konsequenz für ihn wie für Alle, welche die anthropologische Grundlage seiner Entdeckung behaupten, die gewesen, daß zwar notwendige und allgemeingültige Vorstellungen in meinem inneren Sinn zu erweisen sind, daß der Nachweis des Vorhandenseins derselben sich aber nicht mit Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit führen läß, und sofern ULRICI diese Konsequenz gezogen hat, hat er zweifellos Recht. Ich sehe aber nicht, wie durch diese Folgerung an und für sich die FRIES'sche Anschauung ad absurdum geführt sein soll, sie ist von ihm und allen seinen Anhängern mit Bewußtsein gezogen worden, und wenn ULRICI ohne Weiteres fortfährt:
    "folglich können nach Kants eigenen Behauptungen jene Tatsachen nie apriori, als a priori nicht Tatsachen sein",
so liegt zu diesem "folglich" eben nicht der mindeste Grund vor.

Der Nachweis, daß die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit gewisser Vorstellungen sich nicht als Tatsachen der inneren Erfahrung darstellen können, kann nicht durch die Konsequenzen der anthropologischen, ebensowenig wie der Nachweis des Gegenteils durch die Konsequenzen der metaphysischen Auffassung geliefert werden, es bedarf dazu vielmehr, wie ich später zu zeigen versuchen werden, eines neuen Aktes der Reflexion im reflektierenden Bewußtsein. -

Dieser von KUNO FISCHER, LIEBMANN und ULRICI vertretenen Anschauung, daß was a priori ist auch nur a priori gefunden werden kann, steht die schon mehrfach erwähnte, von FRIES begründete gegenüber, daß das Apriorische sich nur als Tatsache der inneren Erfahrung, folglich nur a posteriori in dem über sich selbst reflektierenden Verstand nachweisen läßt. Dieser Ansicht haben sich FRIES' Schüler MIRBT und APELT, ferner SCHOPENHAUER, BONA-MEYER, A. F. LANGE angeschlossen und ÜBERWEG hat dieselbe, ohne sich geradezu zu ihr zu bekennen, mit Recht gegen den Vorwurf, daß sie einen Widersinn in sich enthält, verteidigt.

Wenn wir fanden, daß die metaphysische Auffassung der Entdeckung des Apriori von denen, welche sie bisher vertraten durch kein haltbares Argument als richtig erwiesen ist, und zugleich sahen, daß die Einwürfe, welche von dieser Seite gegen die psychologische Anschauung gemacht wurden, nicht imstande waren, diese zu erschüttern, so kommen wir hier bei der Betrachtung der FRIES'schen Lehre zu keinem viel befriedigenderen Resultat. Der oberste Grundsatz derselben, daß nämlich was notwendig und allgemeingültig ist, sich nur a posteriori erfassen läßt, ist ebensowenig begründet, wie die Behauptung seines Gegenteils. FRIES warf KANT vor, er habe diesen Grundsatz, wiewohl er ihn selbst angewandt hat, durch das Vorurteil des Transzendentalen verblendet verkannt, wie man aber dazu kommen kann, ihn als für die Erklärung der Entdeckung des Apriori allein anzunehmenden zu erkennen, wie sich die Notwendigkeit seiner Annahme einsehen läßt, hat FRIES nicht angegeben, wie alle seine Anhänger hat er ihn als fundamentalen Satz ohne Rechtfertigung zugrunde gelegt, wie es scheint, als ein durch sich selbst klares Prinzip betrachtet.

Die Konsequenzen desselben hat schon FRIES in seiner neuen Kritik der Vernunft sehr scharf gezogen, wenn er sagt:
    "Unsere Untersuchung beginnt auf dem vorsichtig zu wählenden Standpunkt der empirischen Psychologie oder der inneren Selbstbeobachtung, wo wir uns hüten müssen, mit idealen, metaphysischen Voraussetzungen die reine Tatsache gleich anfangs zu trüben, wo wir aber doch nicht bei dem nur beschreibenden der Erfahrungsseelenlehre für diese und jene Klasse von Geistesvermögen und ihren vorkommenden Varietäten stehen bleiben, sondern wo wir diese reine Tatsache nur als Grund brauchen, von welchem eine vernünftige Induktion nach gut gewählten heuristischen Maximen ausgeht, um sich zu den allgemeinen Gesetzen des inneren Lebens, und somit zu einer physikalischen Theorie dieses Lebens rein nach seinen geistigen Verhältnissen zu erheben."
Auch LANGE ist in seiner "Geschichte des Materialismus" vor dieser Folge der FRIES'schen Anschauung nicht zurückgeschreckt, auch er sagt, daß die Methode der Entdeckung des Apriori in Wirklichkeit keine andere sein kann als die Methode der Induktion, er folgert daraus mit Konsequenz, daß die Untersuchung, welche bestimmten Vorstellungen dem Kriterium der apodiktischen Gewißheit genügen, stets nur unvollständig sein kann, oder daß wenigstens der Nachweis ihrer Vollständigkeit nicht zu liefern ist, ja, daß es selbst zweifelhaft bleibt, ob irgendeine der von uns als notwendig und allgemeingültig erkannten Vorstellungen diesen Kriterien in der Tat genügt, kurz: die Entdeckung der apriorischen Vorstellungen, sowie der Nachweis ihrer Existenz überhaupt, bleibt allen berechtigten Zweifeln unterworfen, welche die Erfahrung überhaupt treffen, dem Skeptizismus ist Tür und Tor geöffnet.

Es ist gewiß, daß die strenge Durchführung dieses Standpunktes dem wissenschaftlichen Ernst seiner Vertreter Ehre macht, nur mögen diejenigen, welche sich dieser Anschauung anschließen, bedenken, daß sie damit selbst die Möglichkeit eigentlich so zu nennender Erkenntnis, auch wenn wir dieselbe in ihrem spekulativen Teil nur nach der Schätzung der Kritik der reinen Vernunft bemessen wollten, gar zu wohlfeil [billig - wp] verhandelt haben, denn die Überlegung, auf welcher diese blinde Unterwerfung unter die vernichtende Macht des Skeptizismus ruht, ist nicht etwa das Ergebnis einer kritischen Untersuchung, es ist nicht Folge eines nicht anders zu denkenden Satzes, es ist die Konsequenz des dogmatischen Festhaltens eines unverbürgten Prinzips, des Prinzips, daß was apriori ist nur a posteriori erkannt werden kann.

Sehr zu Ungunsten der Klarheit in dieser Frage hat BONA-MEYER in seinem Buch "Kants Psychologie" eine Art vermittelnden Standpunkt eingenommen. Auf der einen Seite behauptet auch er, daß der FRIES'sche Grundsatz unbestreitbar ist, wie alle Anderen auch ohne nur den Versuch einer Rechtfertigung desselben zu machen, andererseits will er aber die Konsequenz desselben, daß die Methode der Auffindung des Apriori dann die der Induktion ist, nicht wahr haben, und als der deus ex machina [Bühnentrick mit (Gottes-)Hilfe einer eingebauten, unsichtbaren Maschine - wp] welcher aus dieser Verlegenheit hilft, erscheint hier ein eigentümliches seelisches Vermögen von etwas zweifelhaftem Ursprung, die psychologische Selbstbesinnung. Sie ist kein Vermögen apriorischer Wahrheiten, sie ist aber auch keine Quelle rein empirischer Tatsachen, denn sonst würde sie mir nur einzelne Fakta liefern, aus denen erst eine tüchtige Induktion ein einigermaßen gesichertes Ganzes machen könnte. Hören wir BONA-MEYER selbst! Er sagt:
    "Ganz anders verhält es sich mit der Entdeckung, daß die Raumanschauung eine ursprüngliche Zutat unseres Geistes zur Erfahrung ist. Wir brauchen dazu gar keine Summe von Beobachtungen, von inneren Wahrnehmungen, es genügt die einfache Selbstbesinnung, uns zu vergegenwärtigen, daß wir den Raum gar nicht wegdenken können, weil er die Form unserer Anschauung selber ist";
und weiter unten:
    "Die Selbstbesinnung, welche zum Apriorischen führt, ist also offenbar unterschieden von der Beobachtung seelischer Erfahrungstatsachen, aus der wir allgemeine Gesetze unseres Seelenlebens ableiten. Bei der ersteren nehmen wir geleitet von den festen Kriterien der Allgemeinheit und Notwendigkeit nur Abstraktion und Reflexion zu Hilfe, bei der zweiten gehen wir ohne festen Leitstern den Weg der Induktion."
Der Unterschied der beiden Methoden liegt hier in dem "mit" und "ohne festen Leitstern", aber nicht in der Art der Forschung; Abstraktion und Reflexion auf der einen Seite und Induktion auf der anderen schließen sich nicht aus; ich kann abstrahierend und reflektierend den Weg der Induktion, wie den notwendiger Deduktion gehen, und es bleibt also auch hier nur die bestimmte Wahl: die reflektierende und abstrahierende Selbstbesinnung ist entweder ein Vermögen a priorischer Einsichten, und dann muß BONA-MEYER das FRIES'sche Prinzip fallen lassen, oder sie ist eine Quelle von Erfahrungen, und dann kann sie ohne Induktion nie auch nur zum mindesten Grad von Gewißheit führen. Wie wäre auch ein Mittelweg da denkbar, wo die Frage lautet: Erfahrung oder nicht?

SCHOPENHAUER hat in seiner Kritik der kantischen Philosophie sich im bewußten Widerspruch gegen KANT der Ansicht angeschlossen, daß die Apriorität von Raum und Zeit sich durch Selbstbeobachtung erweisen läßt, hat aber die Konsequenzen dieser Anschauung für die Gewißheit seiner eigenen Philosophie mit keinem Wort erwähnt, so daß es zweifelhaft bleibt, ob er dieselben überhaupt überblickt hat.

ÜBERWEG endlich hat in seiner "Geschichte der Philosophie" einen durchaus neutralen Standpunkt eingenommen. Er wies diejenige Ansicht, welche in dem FRIES'schen Grundsatz an und für sich einen Widerspruch zu erkennen meinte, energisch zurück, vertrat die logische Möglichkeit dieses Grundsatzes mit durchaus zutreffenden Gründen, ohne aber einerseits die Notwendigkeit seiner Annahme noch andererseits die Notwendigkeit einer Verwerfung der KUNO FISCHER'schen Ansicht zu behaupten, und es ist nicht zweifelhaft, daß er, indem er erkannte, daß sich von vornherein mit Gewißheit Nichts über die Gültigkeit eines dieser beiden Grundsätze aussagen läßt, ein tieferes Verständnis der Frage und einen kritischeren Sinn bekundet hat, als irgendeiner derjenigen, welche in der Untersuchung über die Entdeckung des Apriori bisher Partei ergriffen haben. -

Die beiden Auffassungen der Auffindung notwendiger und allgemeingültiger Vorstellungen, welche in den Grundsätzen von FISCHER und FRIES ihren Ausdruck finden, die metaphysische einerseits, die anthropologische oder psychologische andererseits unterscheiden sich zwar in nicht zu verkennender Weise einmal durch ihren Ausgangspunkt und zum Zweiten durch ihre Konsequenzen; in einem Punkt aber sind sie durchaus nicht unterschieden, darin nämlich, daß sie beiden den Charakter dogmatisher, nicht kritischer Philosophie tragen. Auf beiden Seiten ein angeblich durch sich selbst klares Prinzip ohne den Versuch einer Rechtfertigung aufgestellt, auf beiden Seiten mit gleicher Starrheit behauptet, auf beiden Seiten bis in die äußersten Konsequenzen unbeirrt um die abweichenden Anschauungen verfolgt, auf beiden Seiten gleiche Verurteilung der gegnerischen Ansicht. Daß auf diese Art die Frage nach der Entdeckung des Apriori nie wird zum Austrag gebracht werden können, ist klar; wohl kann die eine Anschauung mit der Zeit die größere Anzahl von Vertretern erwerben als die andere, sie kann vielleicht zu irgendeiner Zeit, je nachdem sich dieselbe der Empirie oder der abstrakten Philosophie zuwendet, die herrschende werden, sie wird aber damit den dogmatischen Charakter nicht verlieren, bis sie nicht durch eine kritische Untersuchung gestützt auftreten kann, ausgehend von der kantischen Überzeugung, daß es in derlei Fragen wie die hier vorliegende nicht erlaubt ist zu meinen, sondern immer nur zu wissen.

Die Aufgabe, welche sich eine kritische Untersuchung hier zunächst zu stellen hat, ist die, nachzusehen, ob die Frage: kann was a priori ist, nur a priori oder nur a posteriori entdeckt werden? sich überhaupt mit Gewißheit beantworten lassen oder nicht, folglich dasjenige, wovon beide streitenden Parteien als in dem einen oder anderen Sinn entschieden ausgehen, die Grundsätze selbst zum Gegenstand der Erörterung zu machen. Eine solche Nachforschung kann zu einem doppelten, aber in beiden Fällen kritisch gestützten Resultat führen: entweder es läßt sic hder eine der beiden Grundsätze als faktisch richtig, d. h. als Ausdruck eines in Wirklichkeit bestehenden Gesetzes erweisen, und die Streitfrage ist dann ein für alle Mal in dem einen oder anderen Sinn abgetan, oder aber es läßt sich Nichts über ihre Realität ausmachen, sie bleiben beide als nur mögliche Anschauungen nebeneinander bestehen, und man hat dann bei der Entscheidung, welcher der beiden Ansichten der Vorzug zu geben ist, einen anderen, bisher gleichfalls nicht vertretenen Gesichtspunkt einzunehmen. Man hat dann nur zu fragen, welcher der beiden Grundsätze sich zur Erklärung der inneren Erscheinung tauglicher erweist, welcher derselben das Material unserer inneren Erfahrung in einfacherer und vollständigerer Weise aus sich ableiten läßt, bei welcher Art der Erklärung sich die Summe der übrig bleibenden Schwierigkeiten geringer herausstellt - denn daß beide Auffassungen in eine Reihe von Schwierigkeiten verwickeln, ist zu offenbar, als daß sich selbst die energischsten Vertreter derselben darüber täuschen könnten. Der Standpunkt, welchen man dann den beiden Anschauungen gegenüber einzunehmen hätte, ist derjenige, welchen die theoretische Naturforschung einnimmt, wo es sich um den Wettstreit zweier Theorien zur Erklärung der Naturerscheinung, z. B. der Emanations- und Undulationstheorie des Lichts zur Erklärung der Lichtphänomene handelt; und der Unterschied, welcher zwischen dem so gewählten Grundsatz und einer physikalischen Theorie besteht, liegt nur darin, daß wir auf dem Gebiet, auf welchem der erstere anzuwenden ist, keine Bereicherung der Erfahrung zu erwarten haben, folglich auch der Möglichkeit entgegensehen, daß der zu einer Zeit als brauchbar erkannte Grundsatz zu einer anderen Zeit einem andere wird weichen müssen, denn das zu erklärende Faktum, auf das es hier allein ankommt, ist von Allen, welche sich die Frage überhaupt stellen, in gleichem Sinn anerkannt, es ist das Faktum der Entdeckung notwendiger und allgemeingültiger Vorstellungen ein einem reflektierenden Selbstbewußtsein.

Ein solches Resultat würde allerdings im Sinne KANTs das ganze Gebäude einstürzen machen, das er gebaut hat, eine Metaphysik, die auf Fundamenten ruht, deren Sicherheit unverbürgt ist und bleiben muß, würde eben aufhören in seinem Sinn Metaphysik zu sein, aber der Vorzug, den selbst eine solche Entscheidung, die sich mit Bewußtsein von ihm entfernt, vor dem ganz unbegründeten Dogmatismus hat, welcher sich wohl in seinen Konsequenzen, aber nie in seinem Prinzip in Übereinstimmung mit KANT setzen kann, ist offenbar.

Für alle diejenigen nun, welche mit KANT überzeugt sind, daß in diesen Erkenntnissen, welche über die Sinnenwelt hinausgehen, die Nachforschungen unserer Vernunft liegen, die der Wichtigkeit nach weit vorzüglicher sind, und deren Endabsicht viel erhabener ist als Alles, was der Verstand im Feld der Erscheinungen lernen kann, stellt sich die Frage mit unabweislicher Dringlichkeit, deren Verneinung erst zu dem angedeuteten Äußersten, welches ein Aufgeben der Metaphysik heißt, führen würde, die Frage: läßt sich über die Art der Erkenntnis des Apriori etwas Gewisses ermitteln oder nicht?

Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Bedeutung des Wortes Apriori. Die Definition, welche KANT davon gegeben hat, daß dasjenige a priori ist, was unabhängig von aller Erfahrung in unserem Geist liegt, was aller Erfahrung vorhergeht, erweist sich als nicht treffend, sobald wir nur auf der anderen Seite seine Erklärung der Erfahrung betrachten als der Verbindung bewußter Empfindungen durch apriorische Element. Da ist das Apriori durch die Erfahrung, die Erfahrung durch das Apriori erklärt. Die transzendentale Deduktion, durch welche KANT zeigt, daß die notwendigen und allgemeingültigen Vorstellungen deshalb der Erfahrung vorausgehen, weil sie dieselbe allererst möglich machen, ist gewiß insofern zwingend, als das schon aus dem Begriff der Erfahrung mit Notwendigkeit folgt, sie ist folglich keine psychologische Rechtfertigung, wie BONA-MEYER behauptet, sie hat vielmehr durchaus apodiktische Gewißheit, sie ist aber, wie mir scheint, nicht imstande die Apriorität der Vorstellungen im strengen Sinn dieses Wortes zu erweisen. Wenn apriorische Elemente und Empfindungen zusammen erst die Erfahrung konstituieren, so müssen beide, sowohl die apriorischen Elemente wie auch die Empfindungen der Erfahrung vorausgrehen, beide unabhängig von ihr zunächst in unserem Geist existieren, es würde also nach dieser Stellung des Begriffs die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, daß apriorische Elemente und Empfindungen aus ein und derselben Quelle stammen könnten, ja daß die ersteren selbst Empfindungen sind. Eine solche Möglichkeit hat keineswegs im Sinne KANTs gelegen. Wir kommen dem, was er unter a priori verstanden wissen will, schon näher, wenn wir sagen, es sei dasjenige, was nicht aus der Empfindung stammt, und wir können diesen Begriff noch präziser fassen, wenn wir sagen, es sei dasjenige, was uns nicht von außen gegeben wird; während es eben das charakteristische Kennzeichen der Empfindung ist, daß dieselbe stets eine Beziehung zwischen dem Ich und einem Nicht-Ich ausdrückt, liegt in der apriorischen Vorstellung nicht das Mindeste einer solchen Beziehung. -

Alles, was wir weiterhin in den Begriff des Apriori hineintragen, muß notwendig hypothetisch, muß unkontrollierbar sein, Alles, was wir Positives über den Ursprung der notwendigen und allgemeingültigen Vorstellungen, über ihre Entstehung in uns aussagen, muß sich notwendig jeder wissenschaftlichen Beurteilung entziehen. Allein jene negative Bestimmung, welche wir an den Begriff des Apriorischen geknüpft haben, daß es nicht selbst Empfindung ist und auch nicht aus der Empfindung stammt, darf als aus streng kritischem Gesichtspunkt mit voller Gewißheit auszumachen betrachtet werden, und in diesem Sinne hat BONA-MEYER Recht zu behaupten, wenn er sagt, daß kein scharfer Denker Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit als Kriterien eines apriorischen Besitzes bestreitet. Unsere, nur negative Bestimmung ruht nämlich auf der einfachen Überlegung: weil im Begriff einer Empfindung als solcher als der Modifikation meines Subjekts durch irgendein Außen Nichts von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit liegt, ja auch aus ihr nicht folgen kann, da dieselbe nur den zeitlichen Zustand einer einzelnen Rezeptivität angibt, weil ferner die Empfindung die einzige denkbare Art der Einwirkung eines Außen auf mein Ich ist, so können die notwendigen und allgemeingültigen Vorstellungen nicht von außen gegeben sein.

Es ist für die Sicherung der kantischen Errungenschaften von höchster Wichtigkeit, den Begriff des Apriori so zu fassen, daß die Apriorität der nowendigen und allgemeingültigen Vorstellungen danach ohne Weiteres zugestanden werden muß und daß nichts Hypothetisches an der Annahme der Apriorität bleiben kann, denn nicht der Nachweis des Vorhandenseins notwendiger und allgemeingültiger Vorstellungen war der Zweck der kantischen Untersuchung, wie wir schon daraus entnehmen können, daß er demselben wenig Sorgfalt zugewandt hat, sondern er war nur das Mittel zur Führung jenes anderen Nachweises eines apriorischen Besitzes unserer Vernunft. Wenn wir nun aber das Apriori in diesem Sinn fassen, wird zugleich klar, daß man sich bei der Art und Weise, wie man bisher die Frage nach der Auffindung desselben gestellt hat, niemals einem Resultat wird nähern können, daß von vornherein darüber gar Nichts ausgemacht werden kann, ob was a priori ist wiederum a priori gefunden werden kann oder nicht, weil alle Annahmen, welche man dazu machen müßte über eine mögliche Beziehung zwischen Apriorischem und Empfindung etwas Fremdes, Unkontrollierbares in den Begriff des Apriori hineintragen müßten, weil aus dem Begriff des Apriori an und für sich gar Nichts über ein mögliches Verhältnis zur (Erfahrung) Empfindung folgern läßt, es wird klar, daß die Annahme nur in einer Verbindung mit der Empfindung lasse sich das Apriori erkennen, nicht weniger unbeweisbar ist als diejenige, welche die Möglichkeit der Erkenntnis aus einer solchen Verbindung leugnet.

Dagegen eröffnet sich eine Aussicht auf eine mögliche Beantwortung der Frage, wenn wir sie aus demselben Gesichtspunkt auffassen, aus dem die Frage nach der Apriorität einer einzelnen Vorstellung von allen denjenigen gefaßt ist, welche die apriorischen Elemente unserer Erkenntnis aufzusuchen bemüht gewesen sind. Niemals hat Jemand durch Reflexion über den Begriff des a priori ermitteln wollen, welche Vorstellungen apriorisch sind, welche nicht, immer hat man an die zu prüfende Vorstellung die Kriterien der Apriorität, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit angelegt und sich gefragt, ob die betreffende Vorstellung diesen Kriterien genügt. Warum scheut man sich, diesen selben Weg da einzuschlagen, wo es sich um die Frage handelt: ob eine gewisse Vorstellungsreihe apriorisch ist, während man ihn doch überall da anwendet, wo man nach der Apriorität einer einzelnen Vorstellung fragt, und um was Anderes handelt es sich denn als um dieselbe Frage nur in etwas weiterer Ausdehnung? Ich meine man müsse in der Frage, ob etwas a priori ist, a priori gefunden wird oder nicht, aufhören durch Spekulationen über den Begriff des Apriori etwas ausmachen zu wollen, ein Weg, auf dem man keinen Schritt weiter kommen kann, sondern man soll, wie ja KANT uns gelehrt hat, ehe man fragt, ob dieser Nachweis a priori geschieht, fragen, ob er notwendig und allgemeingültig ist, man solle die Frage, ob etwas a priori ist auch a priori gefunden wird, zunächst einmal vertauschen mit der anderen, ob was a priori ist, mit Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit als solches erkannt wird, und erst wenn diese Frage beantwortet ist, darf man hoffen mit Erfolg an die dann allerdings einfache Beantwortung jener erstgestellten zu gehen.

Bei dieser Art der Fragestellung kann aber, glaube ich, das Resultat nicht zweifelhaft sein und lautet dahin, daß die Erkenntnis, daß Vorstellungen als notwendige in mir sind, sich mit derselben Notwendigkeit geltend macht, wie diese Vorstellung selbst, daß alle die psychischen Prozesse, welche sich zur Bildung dieser Erkenntnis in mir vollziehen, den Charakter streng logischer Schlüsse tragen, ja daß ich eben durch meine Einsicht der Notwendigkeit von Vorstellungen selbst einen Beweis für dieselbe liefere, indem die Akte, welche sich in meinem Denken zur Herstellung dieser Einsicht vollziehen, selbst anhand solcher um ihrer Notwendigkeit willen als a priori angenommener Vorstellungen fortlaufen.

Es ist höchst verkehrt, hiergegen für die empirische Natur der Auffindung des Apriori geltend zu machen, daß man möglicherweise mit einem Akt der Reflexion irren kann, daß es notwendig werden könnte, einen zweiten, einen dritten, ja eine häufige Wiederholung dieses Aktes vorzunehmen, daß die Feststellung, welche bestimmten Vorstellungen apriorisch sind, sich doch als mit großen möglichen Fehlern behaftet darstellt, wenn man bedenkt, daß KANT selbst gesucht und gesucht hat, bis er die Kriterien und durch sie die betreffenden Vorstellungen gefunden hat, wenn man bedenkt, daß bis zum heutigen Tag der Streit über die Anzahl und die Art der notwendigen Vorstelungen nicht beendet ist, wenn man endlich an jene von MILL sogenannten "Irrtümer a priori" denkt. Es ist dies eine Argumentation, welche von BONA-MEYER und F. A. LANGE gegen die apriorische Natur der Auffindung des Apriori beigebracht ist, und welche sich in den einfachen Satz zusammenzieht, daß was a priori geschlossen wird, nie falsch geschlossen werden kann. Für die Irrigkeit dieser Behauptung bietet die Erfahrung in der reinen Mathematik so vielfältige Belege, daß sie keines tieferen theoretischen Nachweises bedarf. Allen denjenigen, welche überhaupt das Vorhandensein aprioorischer Vorstellungen annehmen, gilt die Schlußreihe, welche zwischen einem mathematischen Satz und eine daraus gezogenen Resultat z. B. in der Arithmetik liegt, als eine Kette apriorischer Schlüsse. Für die Irrtümer, welche auf einem solchen Weg möglich sind, bieten die falschgerechneten Aufgaben, die Rechenfehler kleiner und großer Leute tausendfache Belege, es fehlt sogar nicht an Schlußreihen in der Mathematik, die der eine für zwingend erachtet, der andere nicht, und um dessentwillen den Weg mathematischen Fortschreitens für den Weg der Selbstbeobachtung, die möglichen Fehler als Beobachtungsfehler deuten zu wollen, zeigt, daß der moderne forschende Geist in höchst einseitiger Weise auf den Wegen der Empirie wandelt und darüber vergessen hat, daß es auch noch andere Wege unter der Sonne gibt.

Noch ein weiterer Einwurf läßt sich vielleicht gegen diese Art der Beantwortung der Frage nach der Entstehung apriorischer Vorstellungen machen, daß man durch dieses Verweisen nämlich auf eine neue Reflexion die Frage nicht löst, sondern nur verschiebt, daß sich für diesen zweiten Akt der Reflexion dieselbe Frage erneuert usw. Dieser Vorwurf trifft nicht die Lösung der Frage, er trifft die Frage selbst. Auch hier zeigen sich die unendlichen Tiefen des menschlichen Geistes gemessen an der Unzulänglichkeit desselben sie zu begreifen, die ersten Glieder der unendlichen Vorstellungskette gewahren wir noch, das Übrige verliert sich in undurchdringlichem Dunkel. Man erinnere sich, daß dies nicht die einzige Stelle in unserem Vorstellungsvermögen ist, welche den Einblick in diesen Tiefen ermöglicht, man erinnere sich, wie der Satz: "die Welt ist meine Vorstellung" durch eine Art von Selbstzersetzung die unendliche Kette der immer gleichen und doch stets in der Anwendung neuen Wahrheiten aufweist, welche in ihm ruhen.

Man hat neuerdings über KANTs Stellung zu unserer Frage gestritten. FRIES, SCHOPENHAUER, KUNO FISCHER, wie sehr sie auch in ihrer eigenen Stellung zu der Frage nach der Entdeckung des Apriori voneinander abweichen, sind einstimmung in der Beurteilung der Stellung KANTs zu dieser Frage: in seinem Sinne kann die Entdeckung der apriorischen Elemente nur metaphysischer Natur sein. BONA-MEYER hat dies neuerdings bestritten, er will nicht nur nachgewiesen haben, daß KANT den Weg psychologischer Erfahrung gegangen, sondern auch, daß er ihn mit Bewußtsein gegangen ist, er will KANT von dem Vorwurf reinigen, diesen Gang seiner Untersuchung verkannt zu haben. BONA-MEYER stützt seine Aufassung auf zwei Punkte: erstens darauf, daß KANT bei seiner kritischen Arbeit von der Einteilung der Seelenvermögen in Erkenntnis-, Gefühls- und Begehrungsvermögen ausgegangen ist, zweitens darauf, daß er während dieser Arbeit hin- und hergeschwankt, gezweifelt hat. Was den ersten Grund anlangt, so hat BONA-MEYER das Unwesentlichste des Verfahrens KANTs zum Wesentlichsten gemacht. Es ist gewiß, daß KANT von dieser Einteilung ausgegangen ist, daß er manches Psychologische vielleicht unrechterweise mit in seine Untersuchung hinübernahm, wie macht aber dieser Umstand die ganze Entdeckung sogleich zu einer psychologischen Erfahrung? Es bedarf keines tiefen Scharfsinns um einzusehen, daß man die kantische Lehre dieses empirischen Gewandes entkleiden könnte, ohne ihr auch nur irgendetwas von ihrem eigentliche Wesen zu rauben, und der empirische Ursprung dieses wahren Kernes der Lehre des Kritizismus wird doch wohl zumindst zweifelhaft bleiben müssen. Was den zweiten Grund anlangt, so habe ich bereits darauf hingewiesen, daß man lange rechnen, sich oft verrechnen kann je nach der Schwierigkeit der Aufgabe und der Angemessenheit der eigenen Kraft zu ihrer Lösung, ohne deshalb etwas anderes zu tun, als zu rechnen, und wenn man die Größe der Aufgabe bedenkt, die sich KANT gestellt hat, bedenkt, daß er notwendig nicht früher hat aufhören können zu rechnen, bis die transzendental Deduktion, die Probe aufs Exempel, das Gefundene auch gut geheißen hat, so darf die Zeit, welche er gebraucht hat, die Schwankungen, welche er durchgemacht hat nicht nur nicht Wunder zu nehmen, vielmehr muß es mit stets neuer Bewunderung erfüllen, daß ein einziger Geist das Ganz des Werks hat bewältigen können. -

Durch beide Gründe hätte aber, selbst wenn sie richtig wären, BONA-MEYER nur gezeigt, daß KANT den Weg der Beobachtung gegangen, nie, daß er ihn mit Bewußtsein gegangen ist, und das Unternehmen eines derartigen Nachweises muß schon verkehrt erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß KANT der Psychologie auf der einen Seite die Fähigkeit abspricht, "von denkenden Wesen überhaupt etwas apodiktisch zu lehren" und doch andererseits behauptet, daß es nach ihm "eigentlich gar keine Polemik der reinen Vernunft mehr geben kann."

Wenn BONA-MEYER in dieser besonderen Frage hinsichtlich seiner Ansicht über KANTs Stellung zu derselben allein steht, so steht er mit dem Bestreben, in KANT den philosophischen Empiriker nachzuweisen, in neuerer Zeit keineswegs vereinzelt da, er ist vielmehr nur ein Beispiel aus der gewaltigen, jetzt herrschenden Strömung, welche dahin geht, die moderne induktive Richtung mit KANTs Anschauungen in Einvernehmen zu versetzen, ja dieselbe daraus abzuleiten, nur daß er an Gründlichkeit und Tiefe weit über diejenigen hervorragt, von denen diese Strömung ausgeht und hauptsächlich genährt wird, ich meine die philosophierenden Naturforscher. Behaupten, daß eine Gesaltung der Philosophie, wie sie heutzutage von der Naturwissenschaft gewünscht und angebahnt wird, im Geiste KANTs liegt, heißt nicht nur die historische und wissenschaftliche Wahrheit trüben, es heißt das Andenken KANTs beflecken, da man ihn zum Begründer einer wissenschaftlichen Ära macht, welche an Oberflächlickeit und Schalheit ihres Gleichen in der Geschichte der Philosophie nicht hat. Wenn ein großer Naturforscher unserer Tage sagen darf, daß sich die Metaphysik zur Philosophie verhält wie die Astrologie zur Astronomie, wenn dadurch ermutigt kleinere Leute behaupten, daß die Metaphysik ihre Vollendung aus den Erfahrungswissenschaften zu erwarten hat, so erinnert man sich wohl des Ausspruchs von SCHOPENHAUER, daß die neue Zeit nach dem Andenken KANTs wirft, "wie Barbaren gegen ein griechisches Götterbild."
LITERATUR - Julius Jacobson, Über die Auffindung des Apriori, Berlin 1878