tb-1p-4J. EisenmeierC. GüttlerC. GöringG. HeymansA. Kastil    
 
LEONARD NELSON
Die kritische Methode
und das Verhältnis der
Psychologie zur Philosophie

[ 4 / 7 ]

    I. Die regressive Methode
II. Über die Begründung der Urteile
III. Theorie der Deduktion
IV. Über das Verhältnis der Kritik zum System
V. Über das konstitutive Prinzip der Metaphysik
- Anhang: Über das Verhältnis des sog. Neukantianismus

"Schon Fries hat diese im Begriff des Transzendentalen enthaltene Vermengung psychologischer und philosophischer Prinzipien, die er  das Vorurteil des Transzendentalen  nannte, als den Grundfehler des gesamten Nachkantischen Dogmatismus aufgewiesen und diesen Fehler durch Aufklärung des Unterschiedes von Beweis und Deduktion verbessert."

IV.
Über das Verhältnis der Kritik zum System.
Das Vorurteil des Transzendentalen.

22. Der Kritizismus ist in dem hier dargestellten Sinn mit voller Schärfe zuerst von FRIES gefordert und durchgeführt worden. Seinem allgemeinsten Begriff nach gehört er aber schon der griechischen Philosophie an. Schon SOKRATES erhebt die Forderung, die Regel der Wahrheit in den  ungeschriebenen Gesetzen  der eigenen Vernunft zu suchen; in gleichem Gegensatz zu denen, die sie anderswoher schon zu besitzen wähnen, wie zu denen, die eine solche Regel überhaupt nicht gelten lasssen. Aber erst in neuerer Zeit gelang es, diese Methode mit Erfolg einzuführen und durch sie der Philosophie ihre feste wissenschaftliche Grundgestalt zu verleihen. Und dies infolge der Erfindung der Erfahrungsmethoden durch unsere Naturwissenschaften. Auch die Induktion forscht nach dem Allgemeinen, das sie aus dem Besonderen der Beobachtung abzuleiten sucht, aber nur aufgrund der Voraussetzung eines noch höheren Allgemeinen: der obersten aller Erfahrung zugrunde liegende Naturgesetze, die selbst als höchste Obersätze aller Schlüsse nicht mehr induktorisch und überhaupt durch kein Beweisverfahren mehr abgeleitet werden können. Sobald daher die Erfahrungsmethode mit Klarheit durchgeführt wurde, mußte die Frage nach diesen obersten Leitsätzen aller Induktionen notwendig hervortreten und die Spekulation auf die allgemeine Frage nach den notwendigen Wahrheiten der ungeschriebenen Gesetze zurückführen. Mit anderen Worten: Die Induktion erfordert selbst zu ihrer Möglichkeit die Spekulation. Die dadurch gestellte Aufgabe löste KANT durch seine Kritik der Vernunft.

23. Gegen die Kantische Methode, dem System der Metaphysik eine Kritik der Vernunft vorhergehen zu lassen, sind schon früh viele Einwendungen gemacht worden, die zum Teil darauf beruhen, daß KANT selbst noch nicht zu voller Klarheit über das Verhältnis der Kritik zur Metaphysik gelangt war, weil er noch Deduktion und Beweis verwechselte. So meinte HERBART KANT zu widerlegen mit der Frage, ob es denn leichter sei, die Vernunft zu erkennen, als andere Dinge. Es fragt sich nur, was man unter den anderen Dingen versteht. Versteht man darunter mit KANT die Gegenstände der Metaphysik, so ist es allerdings leichter, die Vernunft zu erkennen, eben weil das Sache innerer Beobachtung, jenes aber Sache abstrakten Denkens ist. So machte HEGEL den oft wiederholten Einwand, die Kritik sei ein Versuch zu schwimmen, ehe man ins Wasser geht. Allerdings werde ich auch zur inneren Erfahrung schon gewisse Prinzipien anwenden müssen, die ich doch erst deduzieren will. Aber deduzieren ist eben nicht beweisen und was bei einem Beweis ein Zirkel wäre, braucht es darum nicht bei der Deduktion zu sein.

24. Hält man die kritische Deduktion für eine Art des Beweises, d. h. hält man das Verhältnis der Kritik zum System der Philosophie für ein Verhältnis des logischen Grundes zu seiner Folge, so kommt man infolge des Widerspruchs, der in dieser Voraussetzung liegt, zu zwei entgegengesetzten Ansichten; je nachdem, ob man von der Folge auf den Grund oder vom Grund auf die Folge schließt. (1) Entweder nämlich kann man schließen:
    Die Philosophie ist eine rationale Wissenschaft. Eine rationale Wissenschaft kann aber nicht aus empirischen Gründen abgeleitet werden. Also kann die Kritik nicht empirisch-psychologisch, sondern nur rational sein.
Oder aber man schließt:
    Die Kritik ist Wissenschaft aus innerer Erfahrung, d. h. empirische Psychologie. Aus empirisch-psychologischen Gründen lassen sich aber nie andere als wieder empirisch-psychologische Folgen ableiten. Folglich gibt es keine Philosophie als rationale Wissenschaft, sondern nur als empirische Psychologie.
Das erste ist der Standpunkt der Vertreter der  Wissenschaftslehre,  das zweite der des  Psychologismus.  Beide entgegengesetzte Ansichten aber gelten nur unter der gemeinsamen - bewußten oder unbewußten - Voraussetzung, daß das Verhältnis der Kritik zum System der Philosophie das logische Verhältnis des Grundes zur Folge sei. Dieses logische Vorurteil führt notwendig zu der Verwechslung der psychologischen Prinzipien der Kritik mit den obersten philosophischen Prinzipien des Systems der Wissenschaft. Aufgrund dieser Voraussetzung ist der Widerspruch dieser beiden Parteien schlechterdings unvermeidlich und unauflöslich. Haben wir aber einmal das Irrige ihres gemeinsamen Vorurteils eingesehen, so haben wir damit auch den Grund ihres Streites beseitigt. Beide Teile verkennen das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie; der erste hält für philosophisch, was in der Tat nur psychologisch ist, der andere hält für psychologisch, was in der Tat philosophisch ist.

25. KANT selbst hat sich zur genauen Bestimmung dieses Verhältnisses nicht hindurchfinden können und die logische Form seiner "transzendentalen" Erkenntnis nicht mit Klarheit festzustellen vermocht; mit wie ausgezeichneter Meisterschaft er sie auch in der Anwendung zu handhaben verstand. Diese Unbestimmtheit liegt in seinem Begriff der Transzendentalphilosophie. So wurde die Zweideutigkeit dieses Schlagwortes für alle die, welche ohne  methodologische  Schulung nur nach den neuen  Resultaten  griffen, Anlaß, den kaum überwundenen Dogmatismus zu erneuern und, mit wechselnder Vorliebe, bald zu LEIBNIZ' logischem Dogmatismus, bald zum induktorischen Vorurteil der Engländer zurückzukehren und so alle Philosophie wieder bald in Logik, bald in Erfahrung zu verwandeln und untergehen zu lassen.

Das läßt sich historisch sehr bestimmt nachweisen.

Transzendental  nannte KANT die Untersuchung des Grundes der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Der Gegenstand der transzendentalen Untersuchung, die den Inhalt der Kritik bildet, sind also Erkenntnisse a priori. Erkenntnisse aber erkennen wir überhaupt nur durch innere Erfahrung. Die transzendentale Erkenntnis der Kritik ist also offenbar Erkenntnis aus innerer Erfahrung. Hat also gleich transzendentale Kritik Erkenntnisse a priori zum Gegenstand, so ist sie doch selbst eine empirische Wissenschaft. Wer nun nicht hinreichend genau Gegenstand und Inhalt der transzendentalen Kritik unterscheidet, wer die transzendentale Erkenntnis, den Inhalt der Kritik, mit ihrem Gegenstand, der philosophischen Erkenntnis verwechselt, der wird leicht die Ungleichartigkeit beider übersehen, der wird leicht die psychologische Natur der ersteren verkennen und sie selbst für philosophisch, also für eine Art der Erkenntnis a priori halten. (2)

REINHOLD, der das bei KANT vermißte System der Transzendentalphilosophie suchte, ließ sich durch dieses Mißverständnis des Transzendentalen zu dem Versuch verleiten, die Philosophie als "Theorie des Vorstellungsvermögens" zu bearbeiten. Diesen unglücklichen Gedanken griff FICHTE auf und wurde dadurch dazu geführt, in seiner Wissenschaftslehre vom "Ich als Prinzip der Philosophie" auszugehen; während SCHULZE, BENEKE und andere daraus die entgegengesetzte, psychologistische Konsequenz entwickelten. Seitdem beherrscht die Verwechslung psychologischer und philosophischer Prinzipen die Geschichte der Philosophie. Sie ist noch heute der fundementale Fehler bei all denen, die sich mit dem Phantom einer "reinen Erkenntnistheorie" abmühen.

Schon FRIES hat diese im Begriff des Transzendentalen enthaltene Vermengung psychologischer und philosophischer Prinzipien, die er  das Vorurteil des Transzendentalen  nannte, als den Grundfehler des gesamten Nachkantischen Dogmatismus aufgewiesen und diesen Fehler durch Aufklärung des Unterschiedes von Beweis und Deduktion verbessert.

26. Aus jener Unterscheidung von Inhalt und Gegenstand der Kritik ergibt sich von stlbst das Verhältnis der Psychologie zur Metaphysik. So gewiß es schon im Begriff der Metaphysik liegt, daß sie keine empirische Wissenschaft ist, so gewiß daher die Metaphysik  nicht  psychologisch ist, so gewiß folgt anderer seits aus dem Begriff der Kritik, daß diese nicht metaphysisch ist. Denn die Kritik soll als Propädeutik, als Untersuchung des Grundes der Möglichkeit der Metaphysik, dieser vorhergehen. Die Vernunftkritik für metaphysisch zu erklären, ist also eine contradictio in adjecto [Widerspruch insich - wp]. Was aber FISCHER und so viele andere immer wieder an diesem so einfachen und klaren Verhältnis irre macht, das ist nichts anderes, als die Verwechslung der Deduktion mit dem Beweis. Apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp] Schlußsätze können nämlich allerdings nicht aus empirischen Prämissen abgeleitet werden. Mithin würde die Kritik, wenn sie Beweis wäre, nicht empirischer, also auch nicht psychologischer Natur sein können, weil sonst die Metaphysik selbst ihre Apriorität und Apodiktizität einbüßen würde, die doch ohne Widerspruch nicht von ihr verneint werden kann. Und so erscheint von diesem Vorurteil aus die große Leistung der FRIESschen Deduktionen nichts als ein Rückfall in LOCKEs Empirismus. Indem aber dieses Vorurteil zu der Konsequenz führt, die Kritik müsse metaphysisch sein, verliert es vielmehr selbst den Grundgedanken der Vernunftkritik, hebt es eo ipso [wie selbstverständlich - wp] den Begriff des Kritizismus auf und führt unmittelbar zum Dogmatismus zurück.

27. Dieses selbe Vorurteil macht es der sogenannten Neukantischen Schule unmöglich, auf den reinen Kritizismus zurückzukommen. "Wenn man die transzendentale Deduktion als eine der Psychologie angehörige Untersuchung bezeichnen dürfte, so wäre die Disziplin der Metaphysik überhaupt in die der Psychologie aufgelöst" heißt es da. (3) Doch wohl nur für den, der die transzendentale Deduktion für einen Beweis ansieht, was ihrem Begriff als der Begründung von Grundsätzen widerspricht. Und so ist es auch heute noch das Vorurteil des Transzendentalen, das dem richtigen Verständnis und einer gesunden Fortbildung der kritischen Philosophie im Wege steht.

In der Tat lesen wir ebenda: "Wenn transzendental die Untersuchung der Erkenntnisart genannt wird, sofern die letztere a priori möglich sein soll, so wird damit das a priori selbst als nur dadurch möglich bezeichnet, daß es in einer transzendentalen Erkenntnis erkannt wird. Und so verhält es sich wirklich." (4) - Hier finden wir aus bestimmteste die Verwechslung der psychologischen Gründe der Kritik mit den logischen Gründen des Systems ausgesprochen. Die transzendentale Untersuchung des Grundes der Möglichkeit von Erkenntnisse a priori soll selbst der Grund ihrer Möglichkeit sein. Gewiß,  dann  dürfte die transzendentale Untersuchung nicht als eine der Psychologie angehörige Untersuchung bezeichnet werden; denn durch welche Mittel der Logik könnte es gelingen, aus empirischen Gründen Erkenntnisse a priori herzuleiten. Darf aber die transzendentale Untersuchung nicht empirisch sein, so muß sie Erkenntnis a priori sein. Wie kann sie aber Erkenntnis a priori sein, wenn sie die Erkenntnis a priori erst möglich machen soll?

Sowie einmal diese Forderung einer transzendentalen Erkenntnis gestellt ist, die die Erkenntnis a priori erst möglich machen soll, muß man auf die Idee einer Wissenschaft kommen, die logisch noch über den Grundsätzen steht und diese erst aus einem "obersten Grundsatz" ableitet. Eine Wissenschaft, die freilich nicht empirische Psychologie sein dürfte, wenn man nicht die Philosophie doch wieder aus Erfahrung entspringen lassen will. So finden wir uns hier nur wieder auf das hoffnungslose Unternehmen angewiesen,  aus bloßer Logik  Metaphysik zu machen. Das heißt: wir sind damit schon bei der Idee der FICHTEschen Wissenschaftslehre. Das haben denn auch andere besser bemerkt als COHEN und so erleben wir heute auf den vor kurzem noch so lebhaften Ruf "Zurück zu Kant" den neuen "Vorwärts zu Fichte". Das ist dann wenigstens konsequent und je eher wir in diesem altgewohnten Schlendrian wieder bei HEGEL ankommen, desto eher wird sich dieses falsche Philosophem auch wieder selbst zerstören. Allerdings liegt das Mißverständnis des Transzendentalen, das Verhängnis der Nachkantischen Philosophie, im Keim schon bei KANT selbst. Aus diesem Mißverständnis, an das man sich klammerte und das bei KANT ohne bedeutende Folgen im Hintergrund seiner Untersuchungen stehen geblieben war, suchte man die Konsequenzen zu ziehen und zum System zu entwickeln. Bei KANT eschon liegt daher auch der tiefste Grund, weshalb jeder, der versucht, ihn weiterzubilden, wenn er sich nicht erst diesen Fehler verbessert, unvermeidlich wieder den alten Irrweg gehen muß, weshalb aller  Neukantianismus der dieses Vorurteil nicht im Prinzip aufgibt, nur einer groben Inkonsequenz seine ephemere Existenz verdankt. Deshalb werden wir mit aller Rückkehr zu KANT nie weiter kommen, uns vielmehr immer nur im Kreis drehen; Kritizismus bleibt ein leeres Wort und die von der Kantischen Kritik verheißene Philosophie als evidente Wissenschaft wird ein Traum bleiben, ehe wir uns nicht von diesem Vorurteil frei machen.
LITERATUR - Leonard Nelson, Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie - Ein Kapitel aus der Methodenlehre, Hessenberg/Kaiser/Nelson (Hg), Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Bd. 1, Göttingen 1906
    Anmerkungen
    1) Nach dem Prinzip: der Grund einer Erkenntnis muß mit dieser Erkenntnis selbst gleichartig sein. Dies ist ein für die Kritik der Vernunft äußerst wichtiger logischer Satz. Sein Beweis liegt eigentlich in Folgendem. Der Grund einer Erkenntnis ist jederzeit selbst Erkenntnis und zwar entweder mittelbare oder unmittelbare Erkenntnis. Ist er mittelbare Erkenntnis, so besteht er im Urteil und die Begründung geschieht durch Beweis. In diesem Falle folgt der Satz aus der logischen Natur des Schlusses als eines  analytischen  hypothetischen Urteils. Es kann nichts im Schlußsatz behauptet werden, was nicht schon in den Prämissen enthalten ist. Ist aber der Grund eine unmittelbare Erkenntnis, so ist es eben diese Erkenntnis selbst, die im Urteil ausgesprochen wird. In diesem Falle folgt der Satz aus dem Prinzip der Identität.
    2) Vgl. KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe KEHRBACH, Seite 80
    3) HERMANN COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, 2. Auflage, Seite 294
    4) HERMANN COHEN, a. a. O., Seite 134