ra-1ra-1p-4CorneliusRapoportSzendeFränkelWundt    
 
ELIESER FRÄNKEL
Abstrakta und Abstraktion
[DISSERTATION]
[2/2]

Wenn ich einen sehr lauten Ton höre, so habe ich gewiß dessen Lautstärke beobachtet. Aber weit entfernt dieselbe zu abstrahieren und als gesonderten Gegenstand ins Auge zu fassen, werde ich vielmehr zunächst nur an den konkreten Ton selbst denken. Er wird mir bloß durch seine Tonintensität ausgezeichnet erscheinen, aber nicht in eine Mehrheit von verschiedenen Gegenständen auseinanderfallen. Eine Abstraktion tritt erst dann ein, wenn ich mir außer dem Ton selbst noch dessen Lautheit als eigenen Gegenstand gegenüberstelle. Das Beachten ist Sache der Aufmerksamkeit, während die hier in Frage kommende Abstraktion bereits eine gedankliche Bearbeitung des Beachteten darstellt.

III. Kapitel
Die unselbständigen Gegenstände
und ihre Abstraktion


§ 1. Zur Charakteristik der
unselbständigen Gegenstände

Die zweite Klasse der Abstrakta bilden die unselbständigen Gegenstände. Darunter verstehen wir solche Gegenstände, die kein eigenes, ursprüngliches Wesen haben, sondern nur als Eigenschaften oder Sachverhalte aus dem Wesen anderer Gegenstände folgen und nur durch dasselbe gedacht werden können. Es sind also dieselben Gegenstände, welche die mittelalterlichen Philosophen meist als Akzidenzien bezeichneten und sie dahin bestimmten, daß sie nicht für sich, sondern nur aufgrund eines anderen bestehen können (1)

Es gehören hierher erstens sämtliche Sachverhalte, sofern sie selbst als Gegenstände in Betracht kommen. Sie sind als solche unselbständig, da sie nur mit Rücksicht auf den ursprünglichen Gegenstand, von dem sie gelten, etwas bedeuten können. Ein Beispiel für die unselbständigen Gegenstände dieser Art wären die Kategorien, sofern darunter nicht bestimmte Begriffe (2), sondern bestimmte kategoriale Eigenschaften der Gegenstände verstanden werden. So ist die Identität eines Gegenstandes nichts anderes als der Sachverhalt oder die Tatsache,  daß er  mit sich  identisch ist  und als solcher beurteilt werden muß. Andere Beispiele wären die Unendlichkeit des Raumes, worunter nur  die Tatsache, daß  der Raum grenzenlos ist, ferner die Bewegung eines Gegenstandes, worunter zunächst nur  die Tatsache, daß  er im Raum seinen Ort verändert, verstanden wird. (3) All diese und ähnliche Gegenstände sind eigentlich Sachverhalte, die nur nach der Art von Gegenständen gedacht werden und grammatikalisch oft, wie in den erwähnten Beispielen, in der Form eines Substantivs zum Ausdruck gebracht werden.

Eine zweite Art von unselbständigen Gegenständen sind all diejenigen Gegenstände, die zwar auch kein eigenes, ursprüngliches Wesen haben und erkenntnistheoretisch nur als Eigenschaften anderer Gegenstände gelten können, die aber andererseits doch das Wesen dieser Gegenstände zwar nicht ausmachen, aber doch  mit ausmachen. Sie sind daher konstitutive Momente der ursprünglichen Gegenstände, zwar nicht in dem Sinne, daß sie schon für sich etwas wären und zusammen das Wesen der ursprünglichen Gegenstände konstituieren, aber doch in dem Sinne, daß sie,  nachdem jenes  absolut einheitliche  Wesen  des Gegenstandes  einmal besteht,  als Momente oder Seiten an ihm unterscheidbar sind. Es ist eben beachtenswert, daß es auch Gegenstände gibt, deren Wesen eine Mehrheit verschiedener  innerer  Momente oder Seiten aufweisen kann, obgleich diese, abgesehen vom Wesen selbst, nicht nur die Bedeutung, die sie in ihm haben, verlieren, sondern  völlig bedeutungslos  werden. Beispiele für unselbständige Gegenstände dieser Art wären Höhe und Intensität eines Tones, das Denken, Fühlen und Wollen des Geistes oder Farbenton und Helligkeit einer Farbe. Es ist widersinnig, von einer Tonhöhe, abgesehen vom Ton selbst, oder von einem Denken, abgesehen vom lebendigen Geist, welcher denkt, zu sprechen. Gleichwohl sind Tonhöhe und Denken deutlich unterscheidbare Momente am Wesen der fraglichen Gegenstände. Als konstitutive Momente desselben können sie nicht nur in der Form von vergegenständlichten Sachverhalten, sondern ganz in derselben gedanklichen Fassung wie die ursprünglichen Gegenstände selbst als Objekte gedacht werden. Sie werden daher auch von manchen als unselbständige  Teil gegenstände bezeichnet. Doch darf das nicht dahin mißverstanden werden, als ob diese Momente wirkliche Teile des ursprünglichen Gegenstandes wären. Sie sind das in gar keinem Sinn. Denn für sich genommen, abgesehen vom Gegenstand selbst, sind sie nicht; das Wesen des Gegenstandes selbst andererseits ist, obgleicht es eine Mehrheit verschiedener Seiten aufweist, durchaus einheitlich und absolut unteilbar. Die Mehrheit jener Seiten oder Momente geht, logisch betrachtet, nicht dem Wesen voraus, sondern folgt aus ihm. Das Wesen in seiner Gesamtheit macht die einzelnen Momente oder Seiten erst denkbar. Nicht ihre objektive Beschaffenheit ist es, weswegen sie als  Teil gegenstände bezeichnet werden dürfen, sondern weil sie von uns ganz nach Art der ursprünglichen konkreten Gegenstände gedanklich als Gegenstände gefaßt werden können. Objektiv betrachtet, sind sie, das will ich noch einmal hervorheben, nichts als Eigenschaften. Wegen des objektiven Lebensverhältnisses, in welchem sämtliche unselbständige Gegenstände zu den zugehörigen selbständigen Gegenständen stehen, werden sie auch tatsächlich weder vom naiven Bewußtsein, noch vom Erkenntnistheoretiker und Metaphysiker, dessen Augenmerk auf das Wesen der Dinge gerichtet ist, als Gegenstände aufgefaßt. Solange die ursprünglichen, selbständigen Gegenstände im Bewußtsein als Gegenstände fungieren, können gar nicht ihre Eigenschaften und Sachverhalte es gleichfalls tun, sondern sie werden dann als dasjenige gedacht, was sie auch objektiv sind, als Eigenschaften und Sachverhalte. Nur auf dem Weg einer Abstraktion, einer Entlehnung, in der wir das Wesen der bezüglichen ursprünglichen Gegenstände nur soweit ins Auge fassen, als es für die betreffenden Eigenschaften oder Sachverhalte in Betracht kommt, können auch diese zu eigenen Gegenständen des Bewußtseins werden. Wie und wann dies geschieht, werden wir später noch ausführlicher darlegen. Weil aber die unselbständigen Gegenstände, selbst in Gestalt von Gegenständen, ihre Herkunft nie verleugnen können, sondern als entlehnte stets dadurch sich erweisen, daß sie im Denken stets über sich selbst auf die ursprünglichen Gegenstände, denen sie entlehnt sind, hinausweisen, werden sie auch  Abstrakta,  "entlehnte", genannt.

Wie die unselbständigen Gegenstände objektiv in den zugehörigen selbständigen gründen, so gründen sich auch notwendig die Gedanken der ersteren auf die Gedanken der letzteren. Indem wir erstere denken, berühren wir gedanklich notwendig auch letztere, obgleich wir nicht sie speziell meinen. Wenn wir auch z. B. ausschließlich an eine Tonhöhe denken und nur sie meinen, so muß doch dabei immer, wenn dies wirklich der Fall ist und wir nicht ein bloßes Wort vor Augen haben, auch der Ton selbst, zwar nicht als der gemeinte Gegenstand, aber doch als Grund der Tonhöhe, als das, was sie erst denkbar macht, uns geistig vor Augen schweben. Gewöhnlich werden wir uns dessen nicht so klar bewußt, weil die meisten unserer Gedanken sehr oberflächlich und flüchtig sind. Eine genaue beobachtung lehrt uns aber, daß es sich in der Tat so verhält.

Ob die unselbständigen Gegenstände logisch (4) betrachtet, rechtmäßige Gegenstände sind, sollte sich eigentlich leicht mit Hilfe eines von uns bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit aufgestellten Grundsatzes entscheiden lassen, nach welchem logisch alles auf den Namen "Gegenstand" Anspruch hat, von dem überhaupt irgendwelche Sachverhalte gelten, von dem sich überhaupt nur etwas aussagen läßt. Doch liegen hier die Dinge nicht so einfach. THOMAS von AQUIN sagt einmal: "accidentis non est accidens" (5), d. h. kein Akzidenz hat seinen Grund in einer anderen Akzidenz [Nichtwesentliches, sich Veränderndes, Zufälliges - wp]. Mit anderen Worten: alles, was sich überhaupt von Akzidenzien oder unselbständigen Gegenständen - beides bedeutet dasselbe - aussagen läßt, alle Sachverhalte, für deren näheres logisches Subjekt (6) sie gelten, haben ihren letzten und vollständigen Grund nicht in ihnen selbst, sondern in den bezüglichen ursprünglichen Gegenständen, in denen die fraglichen Akzidenzien oder unselbständigen Gegenstände selbst gründen. Das naive Bewußtsein denkt und urteilt auch stets in diesem Sinne und es sagt von einem Ton, er erscheine ihm fremdartig, wenn es nur die Klangfarbe desselben ist, die ihm fremdartig erscheint, oder es sagt von ihm, er stehe in einem bestimmten Verhältnis zu einem anderen Ton, obgleich es nur dessen Höhe ist, welches dieses Verhältnis bedingt. Diese Denk- und Urteilsweise ist aber berechtigt, weil Klangfarbe und Tonhöhe, für sich genommen, nichts sind, selbst im Ton gründen und infolgedessen alles, was von ihnen speziell ausgesagt wird, nicht ihnen, sondern dem konkreten Ton selbst zu verdanken ist, der vermöge  seiner  einzelnen  Eigenschaften  zu bestimmten anderen Sachverhalten den Grund liefert.

Daraus würde sich ergeben, daß, logisch betrachtet, die unselbständigen Gegenstände keine rechtmäßigen Gegenstände sind. Indessen läßt sich zweierlei für die Annahme einer eigenen Gegenständlichkeit der unselbständigen Gegenstände geltend machen. Einmal hat schon THOMAS von AQUIN bemerkt: "In ipsis accidentibus est ordo quidam", (7) d. h. das Verhältnis der einelnen Akzidenzien zueinander und zum ursprünglichen Gegenstand ist nicht immer dasselbe, sondern sie sind oft voneinander in einem ganz bestimmten Sinn abhängig. So ist es in den vorhin erwähnten Beispielen doch immer die Klangfarbe bzw. Tonhöhe, auf die es in den bezüglichen Fällen besonders ankommt. Durch ihre besondere Artung sind die betreffenden Sachverhalte schon vollständig bestimmt; alles andere mag sich dabei ändern wie immer. Kann man daher auch einen unselbständigen Gegenstand nicht als den vollständigen und letzten Grund irgendeines Sachverhaltes ansehen, so darf er doch mit vollem Recht als das nähere logische Subjekt, als der engere logische Grund bestimmter Sachverhalte gelten, derjenigen nämlich, in denen es gerade auf ihn besonders ankommt, in denen er das Bedingende und Bestimmende ausmacht.

Ferner glaube ich, daß der Satz: "accidentis non est accidens" überhaupt nur erkenntnistheoretische Bedeutung hat. Er will uns bloß eindringlich die Unselbständigkeit der Akzidenzien zum Bewußtsein bringen, indem er darauf hinweist, daß sie nur aufgrund der konkreten Gegenstände bestehen können, und infolgedessen alle Sachverhalte schließlich auf diese als letzten zureichenden Grund zurückgeführt werden können und müssen. Diese Tatsache verbietet aber nicht im geringsten, die Akzidenzien doch als Gegenstände im logischen Sinn zu bezeichnen. In Bezug darauf ist es gleichgültig, ob sie schon für sich allein etwas bedeuten und den vollen Grund für irgendwelche Tatsachen abgeben. Hier kommt es nur darauf an, daß sie überhaupt etwas bedeuten und infolgedessen überhaupt für irgendwelche Sachverhalte irgendwie bestimmend sind. Im Sinne der Logik, der Lehre von den Bedeutungen (8), ist alles Gegenstand, dem irgendeine bestimmte Bedeutung zukommt, und da die unselbständigen Gegenstände ihre eigene, von derjenigen des konkreten Gegenstandes klar und deutlich verschiedene Bedeutung haben, so sind sie auch logische Gegenstände eigener Art. Die Richtigkeit dieser Überlegung wird auch äußerlich durch den Umstand bestätigt, daß tatsächlich die Akzidenzien von jeher ohne alles Widerstreben des Intellekts, ohne allen Anstoß, in der Gestalt von Gegenständen im Denken verwendet wurden.

Von den vielen Erkenntnistheoretikern (9) werden auch an der farbigen Fläche Farbe und Ausdehnung als unselbständige  Teil  gegenstände in dem vorhin genannten Sinne unterschieden. Doch, wie mir scheint, mit Unrecht. Was zunächst die Ausdehnung betrifft, so ist es allerdings wahr, daß sie nur irgendwie gefärbt von uns  vorgestellt werden  kann. Doch betrifft dies eben nur das  Vorstellen,  nicht aber das Denken. Denken können wir uns sehr gut die Ausdehnung ganz abgesehen von der Farbe; ja wir können uns sogar einen völlig leeren Raum denken und tun dies auch oft. KANT (10) behauptet bekanntlich, wir könnten uns sämtliche Dinge aus dem Raum wegdenken, nur ihn selber nicht. Und er hat, wie mir scheint, recht. Die Unvorstellbarkeit einer nicht irgendwie gefärbten Fläche ist daher nur eine psychologische, nicht aber zugleich auch eine erkenntnistheoretische oder gegenstandstheoretische Tatsache (11). Das Wesen der Ausdehnung ansich ist durchaus selbständig und liefert den vollständig zureichenden Grund für besondere, nur auf sie allein zurückführbare Sachverhalte. Die ganze Geometrie könnte hierfür als Beispiel dienen, die ihre sämtlichen Lehrsätze nur aus dem Wesen der räumlichen Ausdehnung als solcher schöpft. Die räumliche Ausdehnung steht daher  als Gegenstand  durchaus nicht in irgendeinem Lehensverhältnis zu irgendeinem anderen Gegenstand, wie es alle wirklich unselbständigen Gegenstände tun. Denn die Unselbständigkeit dieser beruth nicht auf irgendwelchen psychologischen Tatsachen, sondern auf bestimmten objektiven Verhältnissen.

Was andererseits die Farbe betrifft, so ist es in Bezug auf sie wohl richtig, daß sie, ohne ausgedehnt zu sein, nicht nur nicht vorstellbar, sondern nicht einmal denkbar ist, daß es, da sie eine sinnliche Anschauung ist, mit Notwendigkeit aus ihrem Wesen folgt, daß sie stets irgendeine Ausdehnung einnehmen muß. Allein deswegen ist doch die Ausdehung kein konstitutives Moment im Wesen der Farbe als solcher. Die Tatsache, daß jede Farbe irgendeine Ausdehnung einnehmen muß, gehört zu den unselbständigen Gegenständen der von uns zuerst genannten Art; sie drückt bloß einen Sachverhalt aus, der stets notwendig von der Farbe gilt, stellt aber nicht etwas dar, worin das Wesen der Farbe als solches besteht. Ebensowenig wie wir die Farbe deswegen als einen unselbständigen Gegenstand bezeichnen dürfen, weil stets die Identität von ihr gilt, ebensowenig dürfen wir sie unselbständig nennen, weil die Tatsache von ihr gilt, daß sie stets irgendwie ausgedehnt sein muß. Wohl ist diese Tatsache, für sich als Gegenstand genommen, unselbständig aber die Farbe selbst. Daraus, daß die Ausdehnung kein konstitutives Moment der Farbe ist, daß sie in gar keiner Weise das Wesen derelben mitkonstituiert, erklärt es sich auch, warum sich die Ausdehnung so viel wie möglich ändern kann, ohne daß damit im Geringsten auch eine Änderung der Farbe als solcher verbunden wäre (12). Die Farbe begründet eben in derselben Weise wie alle anderen selbständigen Gegenstände  die ihr eigentümlichen  Sachverhalte durchaus autonom. Indessen kann man auch Farbe und dergleichen Gegenstände in gewisser Hinsicht als unselbständig und abstrakt bezeichnen, nämlich im Hinblick auf den konkreten Gegenstand, das Ding, dem sie anhaften und als dessen Eigenschaften sie gewöhnlich angesehen werden. Man muß eben zwischen absoluten und relativen Abstrakta unterscheiden. Ein Gegenstand ist immer relativ zu einem anderen abstrakt, wenn er dessen Bestimmtheit ist, sein Wesen mitkonstituiert und gewöhnlich als dessen Eigenschaft aufgefaßt wird.

Diese Betrachtung ist auch geeignet, erst zum vollen Verständnis der eingangs dieses Kapitels gegebenen Definition von den absolut unselbständigen Gegenständen zu führen. Unselbständig ist nämlich nicht ein Gegenstand, der durch irgendwelche transzendente Eigenschaften mit dem Wesen anderer Gegenstände gesetzlich zusammenhängt und sie notwendig voraussetzt, sondern nur derjenige Gegenstand, der überhaupt kein eigenes ursprüngliches Wesen hat, sondern sich ganz auf dem Wesen anderer Gegenstände aufbaut oder aus ihm folgt, derart, daß alles, was von ihm gilt, zugleich als von einem zugehörigen ursprünglichen Gegenstand geltend angesehen werden kann.

Ferner möchte ich hier darauf aufmerksam machen, daß die selbständigen Gegenstände des Denkens ja nicht mit den selbständig existierenden Gegenständen verwechselt werden dürfen. Die Erscheinungen der Außenwelt, wie sie sich in den Empfindungen manifestieren, sind gewiß selbständige Gegenstände des Denkens. Und doch ist es nicht weniger gewiß, daß sie ihrem Wesen nach nicht selbständig, nicht in oder für sich existieren können. Existenz kann als etwas Aktuelles, Reales nur einem Subjekt, einer realen Einheit beigelegt werden. Wenn ich sage: etwas existiert, so liegt in diesem "Etwas" schon ganz von selbst die Einheit und das Subjekt darin. Nun stellen die Erscheinungen der Außenwelt infolge ihrer Ausdehnung eine ins Unendliche gehende Mannigfaltigkeit dar und sind überdies als äußere Erscheinungen ihrer Natur noch absolut subjektlos. Folglich können sie nicht für sich, sondern nur in einem andern sein. Und da sie insgesamt durch eine absolut einheitliche durchgreifende Gesetzlichkeit miteinander kontinuierlich zusammenhängen, so müssen sie in ihrer Gesamtheit auf eine einzige reale Einheit, ein absolutes Subjekt zurückgeführt werden, in welchem und durch welches sie sind. Die selbständigen Gegenstände des Denkens, von denen wir vorhin sprachen, sind also nur für das diskursive Denken, nicht ansich selbständig. Wollte man nur für sich existierende Gegenstände als Konkreta bezeichnen, dann wären gewiß sämtliche einzelnen Gegenstände der Erfahrung  Abstrakta  zu nennen.

Schließlich sei hier noch, um allen Mißverständnissen vorzubeugen, der Unterschied zwischen Wesen und Wesenheit ausdrücklich erwähnt. Unter Wesenheit ist immer irgendeine Essenz zu verstehen, also der Inhalt irgendeines Begriffs. Die Wesenheiten sind immer ideale Gegenstände. Dagegen bedeutet Wesen jederzeit etwas Reales, eine realisierte Wesenheit.


§ 2. Die Abstraktion der
unselbständigen Gegenstände

Die Abstraktion der unselbständigen Gegenstände hat zunächst ebensowenig wie die ursprüngliche Abstraktion der Begriffe mit irgendeinem Absehen zu tun. Daß in Bezug auf sie so viel von einem Absehen gesprochen wurde, kommt, wie mir scheint, wieder daher, daß man die beiden Bedeutungen des Wortes  Abstraktion,  "Absehen" und "Entlehnen", miteinander vermengte und da ein Absehen herauszufinden suchte, wo in Wahrheit nur von einem bloßen Entlehnen ursprünglich die Rede sein kann. Die unselbständigen Gegenstände werden den zugehörigen selbständigen Gegenständen, deren Bestimmtheiten Sachverhalte oder Eigenschaften sie sind, einfach als neue Gegenstände entlehnt und darin besteht ihre Abstraktion. Die Art und Weise dieser Entlehnung werden wir bald kennen lernen. Wir müssen aber vorerst noch ausdrücklich hervorheben, daß diese Abstraktion mit einem bloßen Beachten der unselbständigen Gegenstände noch nicht erledigt ist. Wenn ich einen unselbständigen Gegenstand nur irgendwie beachtet habe, so ist er damit noch nicht abstrahiert, noch nicht zu einem besonderen Gegenstand des Bewußtseins gemacht. Wenn ich einen sehr lauten Ton höre, so habe ich gewiß dessen Lautstärke beobachtet. Aber weit entfernt dieselbe zu abstrahieren und als gesonderten Gegenstand ins Auge zu fassen, werde ich vielmehr zunächst nur an den konkreten Ton selbst denken. Er wird mir bloß durch seine Tonintensität ausgezeichnet erscheinen, aber nicht in eine Mehrheit von verschiedenen Gegenständen auseinanderfallen. Eine Abstraktion tritt erst dann ein, wenn ich mir außer dem Ton selbst noch dessen Lautheit als eigenen Gegenstand gegenüberstelle. Das Beachten ist Sache der Aufmerksamkeit, während die hier in Frage kommende Abstraktion bereits eine gedankliche Bearbeitung des Beachteten darstellt. Nach meinem Dafürhalten darf überhaupt kein Beachten in Welt, auch nicht das Beachten bestimmter Teilinhalte an einem komplexen Ganzen, (13) als Abstraktion bezeichnet werden. Da im letzteren Fall die übrigen Teile überhaupt nicht beachtet worden sind, so sehe ich gar nicht ein, in welchem Sinn das Wort  Abstraktion  hier anwendbar sein könnte. Das Bewußtsein hat hier nicht die beachteten Teile von den unbeachteten "abgezogen", sondern nur jene beachtet und diese nicht beachtet. Es handelt sich hier ausschließlich um bestimmte Tatsachen der Aufmerksamkeitsfähigkeit, die darauf beruhen, daß dasjenige, welches mehr psychische Energie (14), mehr Interesse für uns besitzt, leichter von uns apperzipiert wird als etwas anderes. Was aber die Abstraktion der unselbständigen Gegenstände betrifft, so verhält es sich mit ihr ähnlich wie es sich nach unseren obigen Ausführungen im ersten Kapitel dieser Arbeit mit dem schlichten Denkakt verhält. Wie wir im schlichten Denkakt den gegebenen konkreten Gegenstand objektivieren, d. h. als Gegenstand uns gegenüberstellen, um die von ihm geltenden Sachverhalte auf ihn beziehen zu können, so abstrahieren wir die unselbständigen Gegenstände umd die Sachverhalte, deren nächster, engerer Grund nur sie sind, auf sie als logisches Subjekt beziehen zu können. Und wie der schlichte Denkakt eben durch die Urteilsmotive, welche jenen Sachverhalten entsprechen, veranlaßt wird (15), ebenso wird die Abstraktion der unselbständigen Gegenstände herbeigeführt durch die Erkenntnis, daß die von ihnen geltenden Sachverhalte eben auf sie zu beziehen sind, daß sie in diesen Sachverhalten das Ausschlaggebende, das Bedingende, das, worauf es eigentlich ankommt, sind. Indem ich dies erkenne, fasse ich gedanklich die unselbständigen Gegenstände ganz von selbst als ein besonderes Etwas, als Gegenstände für sich auf und abstrahiere sie damit.

Bei den unselbständigen Gegenständen, welche deutlich solche Sachverhalte darstellen, die nur im ursprünglichen Gegenstand gründen, nicht aber mit zu seinem Wesen gehören, kommt nun die Erkenntnis dessen, was in engerem Sinne nur von ihnen gilt, ohne besondere Umstände ganz glatt zustande. Hier ist es ganz deutlich, was auf den ursprünglichen Gegenstand und was auf sie als nächstes logisches Subjekt zurückzuführen ist. Wenn z. B. der Raum in Bezug auf seine Unendlichkeit der Zahlenreihe ähnlich ist, so ist es ganz deutlich, daß nur in Bezug darauf Ähnlichkeit besteht, oder daß es nur die Unendlichkeit des Raumes ist, welche der Zahlenreihe ähnlich ist, nicht der Raum überhaupt. Oder, um ein einfacheres Beispiel zu geben, wenn jemand mich durch seinen Besuch erfreut, so ist es ganz klar, daß es nur sein Besuch ist, welcher der eigentliche Grund der Freude ist, nicht er überhaupt. Darum sind auch alle Sprachen schon in ihren Anfängen reich an Substantiven, welche derartige unselbständige Gegenstände bezeichnen. Anders verhält es sich mit den unselbständigen  Teil gegenständen, den eigentlichen Bestimmtheiten der konkreten Gegenstände. Da diese mit zum Wesen der bezüglichen selbständigen Gegenstände gehören, so ist hier die Erkenntnis dessen, was speziell von ihnen gilt, und damit auch ihre Abstraktion etwas erschwert. Hier sind wir von vornherein geneigt, auch da, wo nur der Teilgegenstand der nähere Grund eines bestimmten Sachverhaltes ist, nicht ihn selbst, sondern den zugehörigen konkreten Gegenstand dafür verantwortlich zu machen, indem wir jenen nur als dessen Eigenschaft betrachten. Hier müssen daher noch besondere Umstände eintreten, um die eigene Gegenständlichkeit der unselbständigen Teilgegenstände dem Bewußtsein nahezulegen und ihre Abstraktion herbeizuführen, um die Aufmerksamkeit nicht bloß auf die von ihnen geltende Sachverhalte hinzulenken, sondern zugleich das Bewußtsein wachzurufen, daß diese ausschließlich auf sie und nicht auf die anderen notwendig mit ihnen verbundenen Teilgegenstände zurückzuführen sind. Diese Umstände können aber vor allem von zweierlei Art sein (16). Entweder es variiert der ursprüngliche Gegenstand in all seinen sonstigen Teilgegenständen mit Ausnahme des  einen  eben fraglichen oder er bleibt sich in allen anderen gleich mit Ausnahme des  einen  eben fraglichen. In beiden Fällen wird der fragliche Teilgegenstand dem Bewußtsein isoliert als Grund eines bestimmten Sachverhaltes dargeboten, nämlich eines Sachverhaltes der Gleichheit oder Ungleichheit, und das Bewußtsein wird auf diese Weise auf dessen eigene Gegenständlichkeit aufmerksam gemacht. Es ist aber nicht zu übersehen, daß es sich hier um ein auf den fraglichen Sachverhalt als logisches Subjekt bezügliches Urteil handelt und nicht um ein bloßes Beachtet- oder Apperzipiertwerden desselben. Dies allein würde, wie bereits ausgeführt, noch keine Abstraktion ergeben.

Schließlich müssen wir auch noch in Bezug auf die unselbständigen Gegenstände, die nur Sachverhalte aber keine wesentlichen Momente oder Seiten des ursprünglichen Gegenstandes darstellen, zweierlei Abstraktionen unterscheiden. Einmal können sie, wie in den oben erwähnten Beispielen, in der Weise abstrahiert werden, daß sie die urteilende Setzung, die mit jedem Sachverhalt gegeben ist, in die nominale Fassung mit hinübernehmen, derart, daß die bezüglichen Urteile da implizit enthalten sind und daraus abgeleitet werden können. Es können aber auch die genannten unselbständigen Gegenstände in der Weise abstrahiert werden, daß man bei ihrer nominalen Fassung von jeder urteilenden Setzung Abstand nimmt und sie bloß ihrem prädikativen Inhalt nach zu Gegenständen erhebt, ganz unbekümmert darum, daß sie in Wahrheit nur Sachverhalte sind.

Die substantivierten Infinitive wären passende Beispiele für Abstraktionen dieser Art. In den Ausdrücken: Das Gehen, das Sprechen, das Lernen ist keine Spur von irgendwelchen voraufgegangenen Urteilen zu entdecken auf die sie sich gründen würden. Die Abstraktionen dieser Art kann man vielleicht folgendermaßen begreiflich machen. Die Ausdrücke: das Gehen, das Sprechen und dgl. sind Ausdrücke für Allgemeinbegriffe bestimmter Verbalprädikate. Diese werden aber als Begriffe im Akt des Bemerkens abstrahiert. Wie wir bereits dargelegt haben, muß bei der Gelegenheit eines jeden Urteils das Prädikat desselben zunächst bloß seinem Inhalt nach, ohne jede urteilsmäßige Setzung aufgefaßt worden sein, ehe das eigentliche Urteil vollzogen werden kann. Dieser im Bemerken apperzipierte, behauptungslose Inhalt des Prädikats kommt nun im Infinitiv (17) zum Ausdruck, dessen Gedanke sich allmählich durch die wiederholte Wahrnehmung eines bestimmten Sachverhaltes im Bewußtsein bildet, wobei zugleich von einem bestimmten Subjekt, dem jedes Prädikat, um überhaupt etwas zu bedeuten, jederzeit zukommen muß, ganz von selbst abgesehen oder abstrahiert wird. Sind aber die Infinitive einmal gebildet, dann genügt schon die leiseste Reflexion auf ihre Bedeutung und auf die von ihnen geltenden Sachverhalte, um sie zu eigenen Gegenständen des Bewußtseins zu machen, und sie ergeben dann die oben erwähnte Fassung des unselbständigen Gegenstandes.


§ 3. Objektive und subjektive Abstrakta

Wir haben es oben abgelehnt, Ausdehnung und Farbe als unselbständige Gegenstände gelten zu lassen und nachzuweisen versucht, daß sie als Objekte des Denkens ein eigenes, ursprüngliches Wesen besitzen und sich in keinem Lebensverhältnis zu anderen Gegenständen befinden. Dieser Nachweis könnte in demselben Sinn und in derselben Weise auch für die Zeit und die kategorialen Formen des Denkens geführt werden. Auch diese sind als Objekte des Denkens durchaus selbständig, denn was von ihnen speziell gilt, ist auf nichts weiter sonst als auf sie allein zurückzuführen. Gleichzeitig können wir ihr eigenartiges Wesen aus der zeitlichen bzw. kategorialen Anschauung klar und deutlich erkennen. Indessen müssen wir aber doch jetzt, nachdem wir die unselbständigen Gegenstände erledigt haben, zum vorhin Gesagten noch eine Ergänzung hinzufügen. Raum, Zeit und Kategorien dürfen nämlich zwar nicht als unselbständige Gegenstände, aber doch ganz gewiß als Abstrakta bezeichnet werden. Die bereits oben erwähnte Tatsache, daß sie ungeachtet ihrer objektiven Selbständigkeit ihrer Natur nach nicht für sich allein wahrgenommen werden können, macht sie für uns zu Gegenständen eigener Art. Wenn wir sie uns anschaulich gegenüberstellen und zugleich unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf sie richten wollen, dann müssen wir sie jederzeit gedanklich von den in der Wahrnehmung stets notwendig mit ihnen verbundenen anderen Gegenständen "abziehen" und von diesen absehen. Schon wenn wir die Kinder in die Geometrie einführen, sagen wir zu ihnen, ihr müßt euch alles andere aus dem Raum wegdenken und nur ihn selbst, die räumliche Ausdehnung zurückbehalten. Dasselbe gilt von der Zeit, die wir nur aufgrund eines Geschehens, und von den Kategorien als allgemeinen Formen des Denkens, die wir nur aufgrund irgendwelcher Dinge, auf die sie anwendbar sind, anschauen können (18). Es besteht eben die Tatsache, daß wir uns Raum, Zeit und Kategorien ihrer Natur nach nicht für sich allein anschaulich, in wahrnehmbarer Weise als Gegenstände gegenüberstellen können. Weil aber diese Tatsache nur eine Beziehung dieser Gegenstände zum Bewußtsein, nicht sie an und für sich betrifft, so wollen wir sie im Gegensatz zu den unselbständigen Gegenständen, den objektiven Abstrakta, als subjektive Abstrakta bezeichnen. Sie verdienen nur mit Rücksicht auf das Bewußtsein, auf das denkende Subjekt, als abstrakt bezeichnet zu werden, nicht ansich.

Die eben angestellte Überlegung kann uns auch zu einem tieferen Verständnis der Abstrakta, die wir in den Begriffen oder Wesenheiten haben, führen. Auch diese besitzen nämlich als Objekte des Denkens durchaus einen selbständigen Charakter und liefern selbst den vollständigen Grund für die auf sie bezüglichen Urteile. Die Wahrheit, daß Gelb im Farbenkontinuum zwischen Rot und Grün zu liegen kommt, besteht nicht unabhängig davon, ob diese Farben je real existieren oder nicht. (19) Folglich können auch die realen Farben als solche nicht der Grund jener Wahrheit sein. Und doch können wir uns die Wesenheiten nur aufgrund irgendwelcher realer Gegenstände, seien diese nun Phantasmen oder auch äußerlich real, anschaulich als Gegenstände gegenüberstellen. Mit anderen Worten, auch die Abstraktheit der Wesenheiten ist ebenso wie die von Raum, Zeit und Kategorien nur eine subjektive. Wir hätten also im Hinblick auf die Abstrakta Raum, Zeit, Kategorien und Wesenheiten auf der einen, und die unselbständigen Gegenstände auf der anderen Seite.


IV. Kapitel
Die Abstraktion als ein bestimmter
eigenartiger Akt des Bewußtseins

Schon im Vorhergehenden sind uns zwei durchaus verschiedene Bedeutungen des Wortes  Abstraktion  entgegengetreten. In Bezug auf die Entstehung der Begriffe und die Annahme des Gegenstandscharakters der unselbständigen Gegenstände bedeutete es etwas von etwas anderem entlehnen, es daraus entnehmen oder ableiten. Als Gegensatz zur Determination und auch sonst zuweilen bedeutete es aber etwas derart denken, daß dabei zugleich von etwas anderem, welches mit dem Gedachten in einem Zusammenhang steht, mit ihm verbunden ist oder zu ihm gehört, abgesehen wird. Die Abstraktion in der Bedeutung von Absehen kann sich aber, wie THOMAS von AQUIN lehrte (20), auf zweierlei Weise vollziehen. Erstens "per modum simplicitatis, sicut cum intellegimus unum, nihil sonsiderando de alio" Zweitens "per modum compositionis et divisionis, sicut cum intelligimus aliquid non esse in alio, vel esse separatam at eo." Die  abstractio per modum simplicitatis  läuft darauf hinaus, daß wir einen Gegenstand nur nach einer bestimmten Seite hin speziell denken, daß wir nur ein bestimmtes Moment an ihm speziell meinen, wodurch alles andere, das auch bekannt und schon einmal irgendwie beachtet worden ist, ganz von selbst vom speziellen Meinen ausgeschlossen und unberücksichtigt bleibt. Infolge einer solchen Abstraktion werden z. B. sehr oft Gegenstände nur ihrem allgemeinen Wesen nach gedacht, wodurch von ihren speziellen Besonderheiten von selbst abgesehen wird. Diese Art der Abstraktion ist wichtig und interessant wegen dessen, was in ihr geschieht. Psychologisch betrachtet, stellt sie keine besondere eigenartige Bewußtseinstatsache dar, sondern gehört zu den bekannten Tatsachen des Meinens, das sich vermöge seiner unendlichen Elastizität mühelos auf alles Denkbare einstellen und von vornherein auf ganz bestimmte Momente der gedachten Gegenstände mit Ausschluß aller übrigen richten kann.

In der  abstractio per modum compositionis et divisionis  hingegen kommt eine durchaus neue, eigenartige Tätigkeit des Bewußtseins an den gedachten Objekten zur Geltung. Die Möglichkeit dieser Tätigkeit beruth auf der eigentümlichen Freiheit des Geistes seinen jeweiligen Objekten gegenüber und seiner gedanklichen Herrschaft über dieselben. Vermöge dieser Freiheit und Herrschaft ist er imstande, die zusammengedachten Gegenstände nach Belieben voneinander zu scheiden, sie nach Belieben zu wenden, die einen willkürlich näher ins Auge zu fassen und von den anderen ebenso willkürlich abzusehen. In diesem willkürlichen Herausheben bestimmter Gegenstände aus dem Zusammenhang mit anderen gleichzeitig mit ihnen mitgegebenen besteht aber die  abstractio per modum compositionis et divisionis (21). Doch besteht die Abstraktionsfähigkeit nicht darin, daß wir einfach die Aufmerksamkeit von bestimmten Gegenständen ab- und anderen Gegenständen zuwenden. Denn das bewußte und willkürliche Übergehen von einem Gegenstand zu einem andern, ist noch keine Abstraktion. Vielmehr besteht die Abstraktionsfähigkeit darin, daß wir einen bestimmten Gegenstand in Bezug auf sein Gemeint- oder Apperzipiertwerden gegen andere mit ihm gleichzeitig gegebene Gegenstände gedanklich bewußt abgrenzen und nur ihn allein apperzipierend festhalten und näher in Betracht ziehen. Auch die Gegenstände, von denen abstrahiert wurde, können dann noch mehr Aufmerksamkeit vorschweben, aber sie sind nicht mehr die gemeinten und eigentlich apperzipierten. Die Abstraktion hat jedoch meist eine Abwendung der Aufmerksamkeit von den Gegenständen, von denen abstrahiert wird, zur Folge. Doch ist sie nur eine Folge der bereits vollzogenen Abstraktionstätigkeit, nicht mir ihr selbst identisch.

Die "compositio" von THOMAS spricht, gehört eigentlich nicht zur Abstraktionstätigkeit selbst, sondern sie bezeichnet nur die Art, wie die Gegenstände dem Bewußtsein entgegenstehen,  ehe  die Abstraktion vollzogen wird. Soll nämlich eine Abstraktion erforderlich und möglich sein, dann muß es sich um solche Gegenstände handeln, die, durch enge Beziehungen miteinander verknüpft, in einem komplexartigen Zusammenhang auf einmal gedacht werden und in diesem Zusammendenken besteht die "compositio". Die Abstraktion vollzieht sich nur  per modum compositionis,  aber die "compositio" kann zuweilen derart sein, daß sie durch eine darauffolgende Abstraktion nur schwer, unsicher oder fast gar nicht gelöst werden kann. Dies ist z. B., wie LIPPS (22) bemerkt, unter anderem dann der Fall, "wenn das zu Abstrahierende und das, wovon abstrahiert werden soll, ein und demselben qualitativen Kontinuum angehört und demgemäß das Gemeinsame dieses Kontinuums in sich schließt." Es ist deswegen auch schwer, an einem gleich hellen Rot und Gelb die gemeinsame Helligkeit zu abstrahieren. (23)

Die engen Beziehungen der zusammengedachten Gegenstände, die ihr Zusammenleben veranlassen und eine Abstraktion erforderlich machen, können verschiedener Art sein. Bei den abstrakten Gegenständen sind es die elementaren und innigen Beziehungen, welche den abstrakten Gegenstand eben zu einem Abstraktum machen und ihn in einem Komplex mit verschiedenen anderen mit ihm verbundenen Abstrakta einschließen. Aufgabe der Abstraktionsfähigkeit ist es hier, die einzelnen Abstrakta sowohl aus ihrem konkreten Untergrund als auch aus der Umschlingung mit den anderen mit ihnen jederzeit zugleich gegebenen abstrakten Gegenständen herauszulösen und sie gesondert zu apperzipieren. Auf diese Weise wird es gelingen, sie nicht nur, wie es bei ihrer ursprünglichen Entlehnung meist der Fall sein mag, als Gegenstände überhaupt nur zu denken und als das, was sie sind, zu verstehen, sondern sie sich zugleich anschaulich in einer gesonderten Apperzeptoin klar und deutlich gegenüberzuhalten und sie damit auch in der Anschauung zwar nicht  ansich  aber doch  für uns  zu besondern (24).

Doch ist die Abstraktionstätigkeit nicht nur und nicht in erster Linie für die Abstrakta von Bedeutung. Ja, die Abstraktionsfähigkeit in Bezug auf die Abstrakta ist sogar, wie mir scheint, mehr Sache des Gelehrten und kommt in der Praxis des Lebens nur selten vor. Da begnügt man sich meist damit, sich etwas Bestimmtes unter ihnen zu denken, zu wissen, was man mit ihnen meint, ohne sich viel um die eigentliche und volle Bedeutung des Gedachten, um seine Anschaulichkeit, Klarheit und Deutlichkeit zu kümmern. Indessen gibt es noch sehr viele andere Fälle, wo eine Abstraktionstätigkeit anzuwenden ist und tatsächlich Anwendung findet. Denn die Beziehungen, in welchen die einzelnen Gegenstände, sei es abstrakte oder konkrete, zueinander stehen, und welche unaufhörlich zu einem gehäuften, ungeschiedenen und verworrenen Zusammendenken vieler Gegenstände auf einmal führen, sind so zahlreich und mannigfaltig, daß die Anwendung einer Abstraktion in dem soeben besprochenen Sinn immer wieder geboten erscheint. Man kann diese Abstraktion überhaupt sehr passend als der Gegenteil der "Mitapperzeption" bezeichnen.

Unter Mitapperzeption ist ein derartiges Zusammenapperzipieren oder Zusammendenken verschiedener Gegenstände auf einmal zu verstehen, daß dabei  ein  Gegenstand hauptsächlich gemeint wird, auf ihn das Hauptgewicht der Apperzeption fällt, die anderen aber nur unwillkürlich so nebenbei mitapperzipiert und mitgedacht werden. Wenn man z. B. an einen reichen Menschen denkt, so sind die Gedanken wohl hauptsächlich auf die Person selbst gerichtet. Aber man denkt dabei unwillkürlich meist auch zugleich an dessen Reichtum. Es ist nun merkwürdig, daß die Mitapperzeption sehr oft zu einer Quelle zahlreicher und schwerwiegender Irrtümer und Täuschungen werden kann, indem man dasjenige, was nur von einem mitapperzipierten Gegenstand gilt, auch demjenigen Gegenstand zuerkennt, auf den der Schwerpunkt der gesamten Apperzeption fälllt (25). So schätz man gewöhnlich den reichen Menschen nur deswegen so hoch ein, weil man unwillkürlich die Wertschätzung, die hier in Wahrheit nur dem Reichtum, der Sache allein zukommt, auch auf die Person, die in der bestimmten Beziehung des Besitzes, des über ihn Verfügenkönnens, zu ihm steht, überträgt. Die Zahl der Irrtümer und Täuschungen, die infolge der Mitapperzeption entstehen, ist wohl weit größer, als man vielleicht glaubt. Auch das Bestrickende und Gefährliche vieler Halbwahrheiten ist die Folge einer Mitapperzeption, die bei ihrer Auffassung meist mit im Spiel ist. Ferner sind viele geometrisch-optische Täuschungen auf den Einfluß nur mitapperzipierender Momente zurückzuführen. All diese Täuschungen können aber am besten und sichersten durch die Abstraktion, das Gegenteil der Mitapperzeption, welche die einzelnen in Frage kommenden Gegenstände für die jeweilige Betrachtung isoliert, verhütet oder aufgehoben werden. Mittels der Abstraktionstätigkeit können wir den fraglichen Gegenstand reinlich für sich allein aus seiner gedanklichen Umgebung herausheben, und sich dann, unbehelligt durch die Einflüsterungen der nur mitapperzipierten Gegenstände, imstande, klar und deutlich zu erkennen, was in Wahrheit von ihm gilt und was nicht, und so jede gegenständliche Forderung auf ihren eigentlichen Ursprung zurückzuführen.

Aber nicht nur im Hinblick auf das Irreführende der Mitapperzeption ist die Abstraktionstätigkeit von Wichtigkeit, sondern auch, wie schon DESCARTES hervorhob (26), als methodisches Mittel bei der Behandlung eines jeden schwierigen und verwickelten Problems. Man kann in ein solches nur dadurch eindringen und es bewältigen, daß man die einzelnen Punkte, die da in Frage kommen und innigst miteinander zusammenhängen, zunächst klar voneinander sondert und jeden derselben für sich allein unter bewußter und entschiedener Abstraktion von allen übrigen vollkommen und gründlich bewältigt. Ohne geschickte Abstraktionen zu vollziehen, die alles, was nicht zur eigentlichen Frage gehört, bestimmt und entschieden aus der Betrachtung ausschalten, ist ein erfolgreiches Studium überhaupt unmöglich. Um aber gehörig abstrahieren zu können, ist ein gewisser Scharfsinn notwendig, der die einzelnen sich aufdrängenden Momente oder Gegenstände bestimmt und sicher zu erfassen und voneinander zu unterscheiden vermag. Eine gute Abstraktionsfähigkeit ist darum nur eine Folge des Scharfsinns im allgemeinen.


THESEN:
A. Zu Kapitel I und II

I. Die Begriffe sind Sonnen zu vergleichen, die sich selbst und alles andere beleuchten, und  in allem Denken herrscht, was die Begriffe betrifft, stets notwendig eine Einheit von Subjekt und Objekt. 

II. Alles, was aus dem Wesen einer Sache folgt, aber mit ihr logisch nicht identisch ist, heißt Sachverhalt  (Sach-verhalt).  Das Bewußtsein sämtlicher Sachverhalte wird in der Urteilstätigkeit gewonnen. Diejenigen, welche auch die Tatsache  des Bestehens  in sich einschließen (die Sachverhalte im engeren Sinne) setzen in ihrem Gedachtwerden vollständige Urteile voraus. Diejenigen hingegen, welche die Tatsache des Bestehens nicht einschließen (die Sachverhalte im weiteren Sinne) setzen in ihrem Gedachtwerden nur das "Bemerken" voraus.


B. Zu Kapitel III

I. Alle unselbständigen Gegenstände sind Sachverhalte in dem Sinne, daß sie nichts für sich, sondern nur etwas an anderen Gegenständen sind, daß sie mit anderen Worten nur aufgrund anderer Gegenstände gedacht werden können. Sie sind keine Sachen, sondern nur Sach-verhalte.

II. Es gibt Wesen, die absolut einheitlich und teillos sind, bei denen man in gar keinem Sinne von Teilen sprechen kann und die doch eine Mehrheit verschiedener Seiten oder Momente aufweisen.

III. Raum, Zeit und Kategorien als objektive Formen des Denkens überhaupt sind keine unselbständigen Gegenstände, aber doch Abstrakta in einem ähnlichen Sinn, wie es die Wesenheiten sind.

C. Zu Kapitel IV

Die Abstraktion im Sinne eines bewußten Absehens hat ganz allgemein eine Bedeutung für das Denken von Gegenständen, die in engen Beziehungen zueinander stehen, und kommt nicht in erster Linie für die Abstrakta in Betracht.

Schema der Abstrakta
    Abstrakta
objektive
subjektive
unselbständige Gegenstände
unselbständige
Teilegenstände

Wesen-
heiten
Raum, Zeit
u.Kategorie
einer Setzung
entsprechend
nicht einer
Setzung entsprechend
absolut
unselbständig
relativ
unselbständig
   
LITERATUR - Elieser Fränkel, Abstrakta und Abstraktion, Fulda 1911
    Anmerkungen
    1) Vgl. THOMAS von AQUIN, Summa theologica I, 54, 3 ad 2 und III 77, 1 ad 2.
    2) In diesem Sinne, also als Formen des Denkens überhaupt, sind, nach meinem Dafürhalten, die Kategorien ebenso wie Raum und Zeit, zwar keine Dinge, aber doch selbständige Gegenstände des Denkens.
    3) Anders verhält es sich, wenn von der Wucht oder lebendigen Kraft eines Gegenstandes die Rede ist, worunter man sich etwas Reales am Gegenstand denkt, was, wie ich glaube, ein Abstraktum von der Art, wie wir es gleich kennenlernen werden, ist. 4) Wir müssen nach meinem Dafürhalten scharf zwischen den erkenntnistheoretisch rechtmäßigen und den logisch rechtmäßigen Gegenständen unterscheiden. Erstere sind solche, die an und für sich Gegenstände sind, die, für sich genommen, kategorial nicht anders denn als Gegenstände bestimmt werden. Von den logisch rechtmäßigen Gegenständen hingegen ist bloß zu verlangen, daß sie  auch  die Kategorie "Gegenstand" auf sich anwenden lassen, insofern sie sich als die objektiven Gründe irgendwelcher Urteil darstellen. Ob es überhaupt außer den erkenntnistheoretischen noch bloß logisch rechtmäßige Gegenstände gibt, hängt von der Lösung der Frage ab, die wir eben behandeln.
    4) Wir müssen nach meinem Dafürhalten scharf zwischen den erkenntnistheoretisch rechtmäßigen und den logisch rechtmäßigen Gegenständen unterscheiden. Erstere sind solche, die an und für sich Gegenstände sind, die, für sich genommen, kategorial nicht anders denn als Gegenstände bestimmt werden. Von den logisch rechtmäßigen Gegenständen hingegen ist bloß zu verlangen, daß sie  auch  die Kategorie "Gegenstand" auf sich anwenden lassen, insofern sie sich als die objektiven Gründe irgendwelcher Urteil darstellen. Ob es überhaupt außer den erkenntnistheoretischen noch bloß logisch rechtmäßige Gegenstände gibt, hängt von der Lösung der Frage ab, die wir eben behandeln.
    5) THOMAS von AQUIN, Summa theologica, 50, 2 ad 2.
    6) Vgl. LIPPS, Grundzüge der Logik, Seite 42 und 48.
    7) THOMAS von AQUIN, a. a. O.
    8) Vgl. HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 92
    9) Vgl. HUSSERL, a. a. O., Seite 228 und LIPPS, Leitfaden, Seite 187
    10) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 52 (nach der Ausgabe der preußischen Akademie der Wissenschaften).
    11) Allerdings eine solche, die durch die Natur der betreffenden Gegenstände selbst bedingt ist.
    12) Vgl. HUSSERL, a. a. O., Seite 229
    13) Vgl. hierzu OSWALD KÜLPE, Versuche über Abstraktion, im Bericht über experimentelle Psychologie, Seite 57f.
    14) Vgl. LIPPS, Leitfaden, Seite 87
    15) Vermöge der Korrelation, welche zwischen einem schlichten Denkakt und dem schlichten Urteil besteht (siehe oben Kapitel I, § 1)
    16) Vgl. LIPPS, Leitfaden der Psychologie, Seite 184
    17) Der Bestand der Infinitive kann übrigens auch als Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassung von der Rolle des Bemerkens im Urteil dienen.
    18) Vgl. LIPPS, Leitfaden der Psychologie, Seite 168
    19) LOTZE, Logik, Seite 507
    20) THOMAS von AQUIN, Contra gentiles II, Seite 82
    21) Vgl. LIPPS, Leitfaden, Seite 182. Nach meinem Dafürhalten dürfte es nicht ganz passend sein, die Abstraktion als das In- und Außerrechnung setzen noch zu bezeichnen, weil dies bereits auf ein Urteil hindeutet. Die Abstraktion selbst besteht nur in einem In-Betracht-ziehen und Außer-Betracht-setzen.
    22) LIPPS, Leitfaden, Seite 188
    23) Andere Beispiele für das Mißlingen der Abstraktion wegen des engen Zusammenhangs der gegebenen Gegenstände finden sich bei LIPPS a. a. O.
    24) Was die "ideirende Abstraktion" betrifft, so ist es merkwürdig, daß hier in eigentümlicher Weise eine Abstraktion im Sinne des Entlehnens und eine solche im Sinne des Absehens zusammentreffen und zusammenfallen. Die Wesenheit wird hier dem realen Gegenstand  als  eigener  Gegenstand  entlehnt und gleichzeitig wird von jenem als solchen abgesehen.
    25) Vgl. LIPPS, Leitfaden, Seite 253f.
    26) DESCARTES, Discours de la methode, sec. part.