p-4 Zur Theorie der AbstraktionDie AbstraktionsleiterMauthner - Abstraktion    
 
HANS SCHMIDKUNZ
Über die Abstraktion
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"Im Verneinten, Weggelassenen liegt nirgends etwas, was ansich diese Ignorierung verlangte; etwa weil es uns als solches unangenehm wäre. Dagegen hindert es uns allerdings in anderem. Erst wenn wir uns z. B. mit dem Rot selbst näher beschäftigen wollen, wird uns die übrige Beschaffenheit der roten Substanz störend; erst wenn wir die Zahl der Ecken eines Vielecks betrachten wollen, sind wir gezwungen, auf eine Beschäftigung mit den Seitenlängen usw. zu verzichten. Wir negieren als immer irgendeiner Position halber."

Einleitung

Der Gegensatz der Begriffe  abstrakt  und  konkret  greift in das ganze menschliche Denken so tief ein, daß er auch über die wissenschaftliche Forschung hinaus Streit erregt hat. Auf der einen Seite stehen die angeblichen Vorrechte der höchsten geistigen Leistungen des Menschen, auf der anderen die Anforderungen eines mannigfachen Realismus, der im Verlassen der konkreten Wirklichkeit nur Verirrungen sieht.

Es ist nicht etwa die Philosophie allein, gegen die sich dieser Widerstand kehrt; es hatten nicht nur die anderen Wissenschaften seinen Einfluß zu erfahren: sondern auch die Künste mußten seine Stimme hören. Indem nun aber dieser Gegensatz eine Angelegenheit der philosophischen Forschung ist - in der Hauptsache sowohl eine der Psychologie und zwar wieder besonders jenes ihrer Teile, welcher die theoretische, analytische Grundlegung der Logik ausmacht, als auch der eigentlichen (praktischen, synthetischen Logik - so kann im Rahmen der Philosophie die Bedeutung unserer Frage wohl auch für andere Gebiete geklärt werden.

ARISTOTELES setzte der Forschung nach Abstraktion die Erfahrung (empeirias] entgegen (Nikomachische Ethik VI, 9, 1142a 18f) und betonte die Bedeutung dieses Gegensatzes sogar in Rücksicht auf verschiedene Lebensalter. Heute kehrt dieser Unterschied in einer Weise wieder, welche die Philosophen immer mehr entzweit; nämlich als der Unterschied zwischen der Philosophie von oben und der von unten, Ausdrücke, die zumeist FECHNER gebrauchte. Die erstere soll, kurz gesagt, vom Abstrakten zum konkreten herab-, die letztere vom Konkreten zum Abstrakten hinaufsteigen. Jene gipfelte in HEGEL, diese in FECHNER.

In der Geschichte der Philosophie waren nun manche so weit gegangen, nicht nur die Berechtigung eines abstrakten Denkens (WILHELM von OCKHAM), sondern auch die Tatsache eines solchen selbst zu leugnen. Inbesondere war es BERKELEY, der darauf seine weiteren Ansichten baute: in der Einleitung zu seinem Hauptwerk bestreitet er abstrakte Ideen überhaupt. Dies gilt heute wohl allgemein als ein überwundener Standpunkt. Das Bestehen eines abstrakten Denkens wird kaum mehr bezweifelt; wir können es leicht durch seine nähere Beschreibung nachweisen und in diesem Nachweis zugleich auch das logische Recht jener psychologischen Tatsache finden. Nur die Frage mag Schwierigkeiten veranlassen, worin das abstrakte Denken besteht und wie weit es reicht.

Führen wir uns nun die Weise vor, in der man gewöhnlich jene Tätigkeit der Abstraktion faßt, welche die fraglichen Geisteserzeugnisse schafft.




Erster Abschnitt
Wesen der Abstraktion

Wenn wir von Abstraktion hören, so denken wir gern sofort an eine Verallgemeinerung und stellen dem Abstrakten das Konkrete als ein Besonderes entgegen. So ziehen wir z. B. den Begriff des "Tieres" als ein Allgemeines aus den Vorstellungen vieler einzelner Tiere heraus; oder wir schaffen in der Mathematik durch Abstraktion Begriffe und Sätze, die am einzelnen Beispiel gewonnen sind, aber allgemein gelten sollen.

LOCKE hatte (An essay concerning human understandige, Buch II, Kap. 11, § 9) eine solche Bestimmung des zu abstrakten Ideen führenden Verfahrens gegeben; dieselbe blieb für die Folgezeit grundlegend.

LOTZE, der sich allerdings bereits gegen landläufig Mißverständnisse dieses Verfahrens wendet, sieht aber doch im "Ersatz der weggelassenen Einzelmerkmale durch ihr Allgemeines" "die allgemeingültige Regel der Abstraktion" (Logik, 1880, § 23).

Auch bei philosophischen Forschern aus anderen Wissenschaften finden wir noch ähnliche Ansichten. So nennt LAPLACE in seinem "Philosophischen Versucht über die Wahrscheinlichkeiten" (1886, Seite 40) "alle Abstraktionen des Verstandes allgemeine Zeichen."

Soviel, um die letzte Überlieferung zu kennzeichnen. Es entsteht sofort die Frage, ob man von Abstraktion nicht noch in anderen Bedeutungen spricht. Wir fordern etwa jemanden auf, sich mit uns einem Problem näher zuzuwenden; und wenn er dasselbe verwischt, in dem der Naheliegendes mit hereinzieht, so ersuchen wir ihn, "davon zu abstrahieren". Wir sprechen z. B. über den geschichtlichen Wert eines Kunstwerks und wollen diesmal von seinem ästhetischen abstrahiert haben oder umgekehrt. Das wäre eine zweite Gelegenheit, von Abstraktion zu reden; letztere erscheint dabei als eine negierende Tätigkeit. Wir wollen uns mit dieser "Negationstheorie" später beschäftigen.

Betrachten wir vorläufig die erste Ansicht nochmals, die "Allgemeinheitstheorie". Man bringt hier gern einen solchen Fall vor, daß wir aus vielen roten Dingen durch Verallgemeinerung die Vorstellung oder den Begriff des "Rot" gewinnen. Hier ist unstreitig ein Gemeinsames: Rot als gemeinsamer Besitz der einzelnen, konkreten roten Dingen. Demnach scheint die Abstraktion ein einheitlicher Vorgang zu sein: beginnend mit der Anschauung der einzelnen Dinge, endend mit dem abstrakten Gedanken des Rot und bestehend in der Verallgemeinerung von Konkretem.

Wie ein Verallgemeinern ansich zustande kommt, brauchen wir hier nicht zu ergründen; die Frage ist nur, ob jenes "Verallgemeinern von Konkretem" bereits ausreicht, um einen lückenlos einheitlichen Prozeß zu bezeichnen.

Wir gehen von angeschauten Einzeldingen aus und kommen zu einem  allgemeinen  Rot. Wie kamen wir aber zu einem  Rot überhaupt Da mußten wir doch, sonst hätte die Abstraktion auch eine (allgemeine) Geschmackseigenschaft oder den (allgemeinen) Begriff des Dings finden können. Müssen wir nun zum allgemeinen Rot zuerst ein Rot schlechweg haben - welche psychische Tätigkeit führt uns dann zu demselben, nachdem wir vorhin doch nur von roten Dingen gesprochen haben, was ja nicht dasselbe ist?

Diese roten Dinge sind auch hart oder weich, tönend oder still, hell oder matt; das aber, was wir mit dem Rot schlechtweg meinten, ist weder das eine noch das andere, sonst müßte auch das allgemeine Rot das eine oder das andere in Verallgemeinerung sein; was derjenige wohl nicht zugibt, der uns das Beispiel vorlegt.

Soll also die Abstraktion zustande kommen, so muß außer oder sogar  vor  jener Verallgemeinerung eine andere Tätigkeit stattfinden, welche eben vom einzelnen roten Ding zum Rot schlechthin, zunächst also zu einem ebenso einzelnen Rot führt. Welcher Art ist dieselbe?

Wir benötigen Fälle von Rot und erhalten sie aus Fällen eines roten Dings. Das ist noch keine Verallgemeinerung. Ja, es scheint fast ein Gegensatz zu dieser zu sein. Wir unterscheiden im einzelnen Ding seine Eigenschaften, Zustände und dgl. und haben an dieser Gruppe eine Gemeinschaft, von welcher wir zum einzelnen Bestandteil gelangen, der dann erst verallgemeiner werden soll.

Also wäre eine  Besonderung  die erste Bedingung zu einer solchen Abstraktion. Und zwar bestand diese Spezialisierung in einer Weglassung gewisser Bestandteile zugunsten eines anderen, ohne daß noch für jene ein Ersatz geschaffen wurde. Wir hatten, wie es scheint, das Hart oder Weich usw. rundweg beiseite gelassen. Anders auf jener späteren Stufe; dort trat für die mehreren Einzelfälle von Rot das allgemeine Rot als ein Ersatz ein.

Sind wir zu dieser Erkenntnis gelangt, so können wir die obige Behauptung LOTZEs nicht mehr gutheißen. Zwar hatte auch er die "ersatzlose Weglassung" zugestanden, aber nur als "Sonderfall", während ihm der Ersatz des Einzelnen durch das Allgemeine die allgemeingültige Regel war. Wir fanden dagegen bisher, daß jene Weglassung eine Grundbedingung, kein Sonderfall war. Einer späteren Erörterung bleibt allerdings noch die Frage vorbehalten, ob jene "Ersatzlosigkeit" der Weglassung auch wirklich durchführbar ist.

An der Unentbehrlichkeit der Verallgemeinerung jedoch hatten wir bisher nicht zu rütteln. Suchen wir nun einen anderen Fall. Schon vor LOTZE findet sich z. B. beim Erneuerer der englischen Logik, dem Erzbischof WHATELY (Logik, 1855, Seite 20 und25), die Behauptung: es sei bereits eine Abstraktion, wenn ich von "König KARL" schlechthin rede. Denn derselbe sei doch entweder gehend oder reitend oder sitzen; die Vorstellung dieses Mannes als solchen könne ich nur gewinnen, indem ich von den erwähnten Zuständen, deren einen er doch immer an sich hat, absehe, abstrahiere.

Prüfen wir, ob hier mit Recht ein abstrakter Begriff (oder eine abstrakte Vorstellung) zu finden ist. Wo liegt sein Korrelatbegriff, der konkrete?

Man kann einerseits trotz WHATELY sagen: im "König KARL" habe man den konkreten Begriff, dagegen einen abstrakten erst im allgemeinen "König"; wie im "einzelnen Rot" (oder dem "roten Ding") den konkreten, im "allgemeinen Rot" den abstrakten Begriff. Es müßte also diejenige Geistestätigkeit, welche vom "König KARL" oder vom "Einzelrot" zum "König" oder zum "Rot" gelangt, eine wesentlich andere sein als diejenige, welche sich vom gehenden, reitenden, sitzenden König KARL zum König KARL schlechthin erhebt.

Man kann aber auch andererseits, nämlich mit WHATELY, sagen: im "König KARL" habe man schon den abstrakten Begriff, dagegen einen konkreten nur beim gehenden, reitenden, sitzenden König KARL; wie im "einzelnen Rot" den abstrakten und wiederum beim harten, weichen, tönenden usw. Einzelrot den konkreten Begriff.

Sonach liegen zwei Tätigkeit vor.

Die eine leitet sowohl vom König KARL zum König ansich, als auch vom Einzelrot zum Rot ansich.

Die andere führt uns sowohl vom gehenden usw. König KARL zum König KARL schlechthin als auch vom harten usw. roten Ding zum Einzelrot (roten Ding schlechthin).

In der ersteren Tätigkeit hatten wir eine Verallgemeinerung gefunden, die ein ersetzendes Weglassen war; in der letzteren Tätigkeit hingegen finden wir eine Spezialisierung, die als ein ersatzloses Weglassen erscheint, haben aber keine Generalisierung, denn wir bleiben immer wieder beim Individuellen.

Es scheinen also beide Tätigkeiten wesentlich verschieden und ein gemeinsamer engerer Name für beide unzulässig zu sein. Wenn nun doch ein solcher gebraucht wird, so ist er entweder im einen oder in beiden Fällen falsch oder wir haben seinen Begriff unrichtig bestimmt. Wenn letzteres, dann hätten beide Tätigkeiten vielleicht doch ein Gemeinsames und wir müßten dasselbe neu aufsuchen.

Prüfen wir diesen dritten Fall, der im Hinblick auf den geschichtlichen Sprachgebrauch der wahrscheinlichste ist.

Wir werden das Gemeinsame der zwei erwähnten Tätigkeiten am sichersten finden, wenn wir noch andere Beispiele hinzuziehn. So war eingangs in zweiter Reihe das Abstrahieren von der einen Seite eines Gegenstandes um einer anderen Seite willen erwähnt worden.

Diese Färbung des Begriffs, mit welcher wir in der Negationstheorie stehen, findet sich schon bei ARISTOTELES. Hier heißt das Abstrakte  ta en aphairesei  [Abziehung, Reduzierung - wp] oder  ta en aphairesei legomena  [Reduktion auf Wortformen - wp], ist also auf den Begriff der Wegnahme gegründet. Es wurde, wie TRENDELENBURG zu de anima III, 4, § 8 erklärt, "vom Stoff der Dinge, welcher entweder durch Schneiden oder durch Meisseln nach dem Ermessen der Kunst gestaltet wird ... auf diejenigen Begriffe übertragen, welche durch die Schärfe des Geistes, unter Weglassung der zufälligen Merkmale der Dinge, auf beständige und notwendige Formen (Wesenheiten) zurückgeführt werden; " und zwar seien danach die mathematischen Begriffe die abstracta  kat exochen  [ansich - wp].

Diese  en aphairesei legomena  besitzen nun zumeist eine derartige Allgemeinheit - und zwar, als "notwendig", in so qualifiziertem Sinn (nach den Anführungen bei TRENDELENBURG) -, daß die Verallgemeinerungslehre unserer Logik es nicht besser finden könnte. Und doch sehen wir ARISTOTELES kein Gewicht darauf legen; der Begriff des Weglassens ist ihm die Hauptsache und die Berufung auf die bildende Kunst zeigt, daß sich die fragliche Tätigkeit nach ARISTOTELES theoretisch schon an einem einzigen Fall erklären lassen kann. Auch DUNS SCOTUSDUNS SCOTUS Analytica posteriora  und öfters.

Im Einzelnen läßt sich an mathematischen Gebilden zeigen, daß sie, wenn auch noch so abstrakt und allgemeingültig, nicht von der Verallgemeinerung abhängen. So dürfte es bereits als ausgemacht gelten, daß mathematische Begriffe wie Sätze nicht durch ein Hinaufsteigen von vielen einzelnen Fällen zu einer sie umfassenden Allgemeinheit gewonnen werden, sondern durch eine Tätigkeit, die wesentlich innerhalb  eines  beliebigen Sonderfalles beschlossen ist. Gerade BERKELEY kann hier als Zeuge gelten (Einleitung zur "Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis", besonders § 13 und 16).

Sollte sich ferner der Begriff einer Zahl auf das Gemeinsame vieler besonderer Fälle gründen, ein Auszug aus dem sein, was z. B. drei Steinen, drei Büchern, drei Worten usw. gemeinsam ist oder nicht vielmehr schon auf der einzelnen Erscheinung der drei bestimmten Dinge beruhn? Selbst wenn wir von STUART MILLs Empirismus soviel annehmen, daß der Mensch in seiner tatsächlichen Entwicklung erst durch den Vergleich mehrerer Fälle die bestimmte Zahl erfaßt (psychologisch), so muß noch inner nicht (logisch) die fertige Zahlvorstellung von einer Mehrheit einzelner Fälle abhängig sein. Wir können irgendein Individuelles durch den Blick auf etwas anderes erst recht würdigen, ohne daß doch darin ein Verallgemeinern läge. Ebensowenig scheint es gestattet zu sein, die unbenannten Zahlen, welche auch abstrakte heißen können, den benannten als Ergebnisse einer Verallgemeiner entgegenzusetzen.

Ähnlich zeigt es sich bei logischen Bildungen. Wenn uns in der Lehre von der Wahrscheinlichkeit mehrere Ereignisse gleich möglich scheinen, so bestimmt doch der Naturlauf mit Notwendigkeit  eines;  wir aber kennen diesen Kausalzusammenhang nicht und müssen darum für unsere Voraussicht von ihm abstrahieren. Beispielsweise erklärt F. A. LANGE in seiner "Geschichte des Materialismus II", Seite 282, "daß die ganze Wahrscheinlichkeitslehre eine Abstraktion von den wirkenden Ursachen ist, die wir eben nicht kennen, während uns gewisse allgemeine Bedingungen bekannt sind, die wir unserer Rechnung zugrunde legen. Wenn der Würfel seinen Stoß erhalten hat und in der Luft schwebt, so ist es schon durch die Gesetze der Mechanik bestimmt, welche Seite schließlich oben bleiben wird, während für unser Urteil a priori noch die Wahrscheinlichkeit für diese Seite, wie für jede andere gleich ein Sechstel ist."

Begründet nun diese Abstraktion eine Verallgemeinerung?

Nein, sondern nur eine Beschränkung auf allgemeine Bedingungen, die in ihrer Allgemeinheit bereits vorlagen, bevor wir auf die besonderen wirkenden Ursachen verzichteten.

Aus unzähligen Fällen, in denen man von Abstraktion spricht, sei etwa die Vorstellung eines "Volksgeistes" hervorgehoben. In Korrelation zu diesem Abstraktum mögen als Konkreta vielleicht die einzelnen Glieder, Tätigkeiten, Werke usw. eines Volkes stehen. Wenn ich von diesen zur obigen Vorstellung fortschreite, so geschiht eine Zusammenfassung oder sonst ein ähnlicher Vorgang (z. B. eine "Verdichtung"), aber keine Verallgemeinerung; denn schon eine einzige jener konkreten Erscheinungen kann mir den Volksgeist verraten. Selbst wenn ich von diesem oder jenem individuellen "Volksgeist" zum Begriff des "Volksgeistes überhaupt" aufsteige, kann es noch, wie in allen derartigen Fällen, ungewiß sein, ob ich dazu einer solchen bedarf.

Wir fragen nun: was haben all die angeführten Fälle von Abstraktion, die den Umfang derselben, wenn nicht erschöpfen, so doch bezeichnen, miteinander gemein? Eine Verallgemeinerung nicht, kaum einige von ihnen; allerdings auch nicht etwas, das derselben entgegengesetzt wäre. Es scheint ihnen aber allen etwas Negatives gemeinsam zu sein und dieses Negative erweist sich in der Etymologie des griechischen wie lateinischen Wortes (aphairesis, abstractio) als klar bestimmt: ein Wegnehmen, Weglassen, Übersehen gewisser Bestandteile irgendwelcher Erscheinungen. Somit hätten wir die Verallgemeinerungstheorie gegen die Negationstheorie vertauscht.
    1. Wenn wir aus dem roten Ding das Rot ansich abstrahieren, so werfen wir das Harte oder Weiche und andere Akzidenzien beiseite.

    2. Wenn wir von König KARL und anderen Königen abstrahierend zum "Allgemeinbegriff" König fortschreiten, so tilgt unsere Auffassung dasjenige an den einzelnen Vorstellungen, was gerade diesen oder jenen König ausmacht.

    3. Oder wir sehen vom gehenden und anderen Zuständen des Königs KARL ab, so daß wir uns nur diesen selbst schlechthin vorstellen.

    4. Ein andermal waren wir veranlaßt, von mehreren Seiten eines Dings die eine oder andere außer Acht zu lassen, um uns auf eine bestimmte andere zu beschränken.

    5. Dann hatte uns ARISTOTELES die Abstraktion und im Besonderen die in vorzüglichem Sinn abstrakten mathematischen Begriffe als Produkte derselben negativen Tätigkeit dargelegt.

    6. Endlich sahen wir noch mannigfach im Besonderen, wie mathematische, logische und andere Sätze oder Begriffe durch einen Verzicht auf dasjenige zustande kommen, was ihren Zwecken überflüssig oder unerreichbar ist.
Wir müssen nun billig zweifeln, ob ein derartiges rein negatives Kennzeichen nicht noch manche andere Tätigkeiten neben der Abstraktion bezeichnen könnte, ob es überhaupt zu einer wissenschaftlichen Feststellung ausreicht. Im Besonderen sehen wir, daß ältere Fassungen der Abstraktion auf nicht mehr als auf ein leeres Weder-Noch hinführen, daß dagegen LOTZE wie die auf ihn folgenden Logiker immer mehr darüber hinausstrebten. Wirklich ist leicht zu erkennen, wie wenig eine solche Lehre das eigentliche Wesen der Abstraktion trifft; mindestens in denjenigen Fällen, in welchen wir ein verallgemeinerndes Stadium an ihr nicht zu leugnen brauchen. Am meisten hat VOLKELT jenen Standpunkt bekämpft ("Erfahrung und Denken", 1886, Seite 342f).

Hatte uns also bisher eine "ersatzlose Weglassung" den gemeinsamen Charakter der Abstraktionstätigkeiten vertreten, so können wir uns jetzt mit ihr nicht mehr begnügen, sie vielleicht nicht mehr verteidigen.

Es muß demnach abermals nach einem und zwar positiven Gemeinsamen gesucht werden; nach einem "Ersatz" des Weggelassenen, der aber, zufolge dem Früheren, nicht für sämtliche Fälle das "Allgemeine" sein kann.

Unter welchen Umständen nehmen wir also etwas im obigen Sinn weg? Eine solche Tätigkeit scheint wohl dort am ehesten nötig zu sein, wo man einen Umfang einschränken will, um das Bleibende in irgendeiner nachdrücklicheren Weise festzuhalten. Sehen wir zu, ob vielleicht ein derartiges Streben den gesuchten gemeinsamen Bestandteil bildet.

Warum hatten wir im ersten Beispiel das Hart oder Weich usw. vernachlässigt? Weil wir zu einem Rot gelangen wollten, das eine selbständigere Bedeutung hätte als jedes einzelne neben vielen anderen Eigenschaften empfundene Rot; das uns nicht implizit wie dort, sondern explizit entgegenträte.

Dann wieder wollten wir uns bei der Vorstellung des Königs KARL oder eines andern Königs ausschließlich mit dem, was an ihnen den König ausmacht, beschäftigen und erreichten diesen Zweck dadurch, daß wir dasjenige vernachlässigten, was den einen zum KARL, den andern zu einem andern macht.

Weiter wollten wir uns den Anteil, welchen wir gerade an dem einen König KARL nahmen, möglichst unzerstreut erhalten und versuchten darum, von den einzelnen Zuständen, in deren einem wir ihn anschaulich allerdings immer vorstellen, abzusehen.

Im nächsten Beispiel war es gerade auf unmittelbar deutliche Weise die Notwendigkeit, alle Genauigkeit der Untersuchung nach einer besonderen Seite eines Gegenstandes zu richten, was uns zu Forderung veranlaßte, von einer oder der andern zu abstrahieren.

Bei ARISTOTELES trat eine ganz eigene Rücksicht auf die eine fragliche Seite hervor: sie sollte zu etwas Beständigem und Notwendigem werden und dazu mußten die fortuitae notae [Merkmale des Zufälligen - wp] weggenommen werden.

In den verschiedenen letzten Beispielen endlich sollte dieser oder jener Teil der Wirklichkeit einer besonderen Betrachtung zuliebe in eine neue Gestalt verarbeitet werden; was dann in diesen Plan nicht hineinpaßte, mußte fallen.

Also bietet sich uns wirklich an allen diesen Beispielen, welche wohl als ebenso viele Erklärungen von "abstrakt" angesehen werden können, ein positives Gemeinsames: die Hervorhebung, Festigung, Verschärfung, Neugestaltung, sozusagen die  psychische Verstärkung  eines Bestandteils des Vorstellungsinhaltes, welchen uns irgendein Phänomen darbietet. Allein dieser Ausdruck reicht zu weit und sagt deshalb zu wenig. Es muß noch auf die logische Bedeutung dessen hingewiesen werden, was verstärkt werden soll; also können wir diesen Sonderfall einer psychischen Verstärkung wohl eher  logische Verstärkung  nennen, obwohl auch dieser Name seine Mängel hat, z. B. leicht von der einen Seite als zu eng, von der anderen wieder als zu weit getadelt werden mag.

Diese logische Verstärkung nun konnte bald mit einer Negation, bald mit einer Verallgemeinerung verbunden, bald die eine, bald die andere oder beide zugleich oder keine von beiden sein. Und auch wenn ein oder mehrere unserer Beispiele wegen unberechtigten Tragens der Bezeichnung "abstrakt" zurückgewiesen würden, so bliebe doch nach wie vor die gleiche gemeinsame Grundlage in den übrigen.

Allein man mag es möglicherweise nochmals mit einem anderen Angriff versuchen, indem man einigen unserer Belege nebst noch weiteren Beispielen die Abstraktheit gewahrt und, wenn schon ein positives Band derselben zugeben, so doch ein negatives als das wichtigere und entscheidende angesehen wissen will. Die vielen einfachen Fälle mindestens, in denen wir  von etwas  abstrahieren, nicht als  etwas  abstrahieren, seien doch unbedingt eine verneinende Aktion.

Demgegenüber drängen sich nun zwei Fragen auf: erstens  warum  begehen wir eine solche Verneinung oder Weglassung und zweitens durch  welche  Mittel?
    1. Im Verneinten, Weggelassenen liegt nirgends etwas, was ansich diese Ignorierung verlangte; etwa weil es uns als solches unangenehm wäre. Dagegen hindert es uns allerdings in anderem. Erst wenn wir uns mit dem Rot selbst näher beschäftigen wollen, wird uns die übrige Beschaffenheit der roten Substanz störend; erst wenn wir die Zahl der Ecken eines Vielecks betrachten wollen, sind wir gezwungen, auf eine Beschäftigung mit den Seitenlängen usw. zu verzichten. Wir negieren als immer irgendeiner Position halber.

    2. Die Mittel aber, durch welche wir die Negation vornehmen, können a priori negative und positive sein. Für welche entscheidet nun die Erfahrung?
Sie zeigt z. B., was wir tun müssen:
    a) wenn wir zerstreut sind und uns vor ablenkenden Dingen schützen wollen, oder

    b) wenn wir gegen gewisse Eindrücke unempfindlich werden sollen, oder

    c) wenn eine Seele gar in denjenigen Zustand gebracht werden soll, in welchem ihr negative Halluzinationen am erfolgreichsten suggeriert werden können.
zu a) Wir wissen wohl alle, daß man sich vor einer Erscheinung, welche unsere Aufmerksamkeit unrechtmäßig ablenkt, am schlechtesten schützt, wenn man sich kurzweg nur befiehlt, diesen Eindruck zu vertilgen. Dann sind wir erst recht seine Diener geworden. Strengen wir uns an, die Uhr zu überhören, so hören wir sie erst recht. "Negative Aufmerksamkeit" scheint geradezu ein Widerspruch zu sein. Man hat z. B. auf einem Papier einen Fleck oder auf einer Buchseite einen Druckfehler längere Zeit nicht bemerkt. Nun ist man seiner ansichtig geworden und jetzt bemühe man sich nur einmal, in den vorigen Zustand des Nichtbemerkens zurückzukehren. Vergebens. Je mehr Mühe wir aufwenden, desto hartnäckiger prägt sich uns die Erscheinung ein. Erst sobald es gelingt, dem Bewußtsein eine ganz andere Wendung, der Aufmerksamkeit eine ganz neue Nahrung zu geben, erst dann wird uns jene Ablenkung vielleicht erreichbar.

Wir erzielen durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf das Nichtaufmerkensollen nur das Gegenteil und können dieser Aufgabe bloß dadurch gerecht werden, daß wir eine verstärkte Kraft der Aufmerksamkeit anderswohin wenden; dann fällt die Kette, welche gelöst werden soll, von selbst. Die Pädagogik hat von dieser Erfahrung den ausgedehntesten Gebrauch zu machen.

zu b) Ähnlich ist es mit der zweiten Bedingung: nämlich der Unempfindlichkeit gegen gewisse Eindrücke. Wir wollen unsere Schallempfindungen abschwächen und suchen uns darum z. B. in Lichtempfindungen zu vertiefen oder umgekehrt. Wir wollen einen Schmerz, der physisch nicht zu bannen ist, psychisch verringern und "verbeissen" ihn zu diesem Zweck: d. h. wir spannen uns auf irgendein anderes Gefühl, sei es des Schmerzes, sei es sonst einer Erregung (womit allerdings keine erschöpfende Erklärung dieses Phänomens gegeben sein soll, das nach dem "Häufungsprinzip" auch aus einem gewissen Verbreitungstrieb des Gefühls zu verstehen ist.) Ebenso ist allgemein bekannt, unter welchen Umständen schmerzliche Einflüsse am wenigsten bemerkt werden: nämlich in lebhafteren Aufregungen. Und zwar geschieht es nicht nur im Schlachtgetümmel, daß man in der Hitze des Kampfes unbemerkt eine Wunde empfängt, sondern auch daheim können wir von einer erregenden Beschäftigung so eingenommen sein, daß wir es ganz übersehen, wenn uns eine Körperstelle geritzt oder gestochen wird.

zu c) Endlich besteht derjenige Seelenzustand, bei welchem eine solche Unempfindlichkeit nach Belieben und in ihrem schärfsten und sichersten Maß (als negative Halluzination) erzeugt werden kann, in einer erhöhten Spannung der Aufmerksamkeit auf eine vorgeschriebene Richtung. Es ist dies die eigentlich so genannte Hypnose, obwohl auch die vorerwähnten Zustände an dieser Bezeichnung teilnehmen können: als unvollkommene, partielle Hypnosen ("hypnoide" Zustände). Je geringer die Sammlung der Aufmerksamkeit auf den verlangten Punkt, d. h. der Rapport zwischen Hypnotiseur und Hypnotiker wird, desto lebhafter kehrt auch die Empfindlichkeit für sonstige Eindrücke wieder.
LITERATUR - Hans Schmidkunz, Über die Abstraktion, Halle/Saale 1889