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Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff
Mit den folgenden Bemerkungen möchte ich den Versuch machen, ein unter den Historikern heute nach meinem Eindruck ziemlich verbreitetes Leiden, wenn nicht zu heilen, so doch zu lindern, das ich, etwas übertreibend, "methodlogischen Masochismus" nennen möchte. Es gibt freilich Historiker, die sich um Fragen der Methodologie überhaupt nicht kümmern und dergleichen Probleme gern den Philosophen und Wissenschaftstheoretikern überlassen. Sie halten jede Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit historischer Forschung und Wahrheitsermittlung für nutzlos oder sogar schädlich und berufen sich dabei gern auf die Geschichte vom Tausendfüßler, der erst in dem Augenblick wie angewurzelt stehenblieb und nicht mehr laufen konnte, als er darüber nachzudenken begann, wie er es eigentlich anstellte, seine Füße so regelmäßig voreinander zu setzen. Diese Abneigung gegen Grundlagenfragen wird auch durch das Beispiel derjenigen Historiker anscheinend gerechtfertigt, die beim Nachdenken über Methodenprobleme schnell in einen hypochondrischen Trübsinn verfallen, obwohl sie, sozusagen werktags, solide historische Arbeit leisten können. ![]() Dieser zweiten Gruppe von Historikern, an die ich mich vor allem wenden möchte, scheint bei näherer Prüfung alles ins Wanken zu geraten, worauf sich der Anspruch der Historie, Wissenschaft zu sein, gründen könnte. Wissenschaftliche Objektivität als Sachgerechtigkeit und intersubjektive Verbindlichkeit scheint sich, je mehr man über die Sache nachdenkt, als ein unerreichbares Ziel, ja als eine Jllusion zu erweisen. Auf jeder Stufe der wissenschaftlichen Arbeit des Historikers mischt sich ja unaufhebbar Subjektives ein: schon die Auswahl des Forschungsgegenstandes ist von vorgegebenen Auffassungen über seine mögliche Bedeutung und Relevanz abhängig. Die Daten, mit denen der Historiker arbeitet, vor allem die Quellen und Dokumente, sind schon von Vorurteilen, Parteimeinungen und Interessen der jeweiligen Autoren geprägt. Erst recht muß beim Versuch der "Erklärung" von historischen Ereignissen eine Bewertung von Faktoren nach ihrem relativen Gewicht vorgenommen werden; die Kriterien eines solchen Gewichtung können aber kaum zwingend und allgemeingültig begründet werden. Moralische Bewertung von Handlungen und Entwicklungen läßt sich schon deshalb nicht vermeiden, weil der Historiker sich einer natürlichen Sprache, nämlich der der Gesellschaft, der er angehört und für die vor allem er schreibt, bedient; die Ausdrucksmittel, die solche Sprachen für historische Vorgänge bereitstellen, sind stets mehr oder weniger wertgeladen. Nimmt man die überall nachweisbaren Prägungen, Vorurteile, Befangenheiten hinzu, in denen sich die Zugehörigkeit zu einer Nation, einem Kulturkreis, einer sozialen Schicht oder Klasse niederschlägt, so erscheint es fast aussichtslos, einen Standard wissenschaftlicher Objektivität auch in der Geschichtsschreibung zu erreichen, der (jedenfalls dem Historiker) in den Naturwissenschaften selbstverständlich zu sein scheint. Auch die von vielen Autoren als Gegenmittel empfohlene ständige und redliche Reflexion auf die jeweils eigenen kollektiven und individuellen Vorurteile kann nicht hinreichende Zuversicht auf ihre Wirksamkeit wecken. Wir wissen aus Beispielen der Vergangenheit genug, daß zu den stärksten Verformungen der Weltansicht nicht so sehr die bewußt eingenommenen Standpunkte beitragen, sondern daß hier gerade die vorbewußten Auffassungsbeschränkungen, ja Wahrnehmungsblindheiten wirksam zu werden pflegen, die sich auch der angestrengtesten Reflexion des erkennenden Subjekts entziehen. Und was sich in der Vergangenheit regelmäßig als Störfaktor erwiesen hat, das müssen wir auch für unsere eigene wissenschaftliche Erkenntnistätigkeit stets in Rechnung stellen. ![]() Es ist nun meine Absicht, dieses düstere Bild etwas aufzuhellen, vor allem der Tendenz entgegenzuwirken, das Kind, dessen Lebenschancen man nicht hoch einschätzt, dann auch gleich mit dem Bad auszuschütten. Auch die Naturwissenschaften, an deren Objektivität man im Vergleich zu den Geisteswissenschaften wenig zweifelt, sind in den letzten Jahren im Zusammenhang der Diskussion zwischen KARL POPPER, THOMAS KUHN und IMRE LAKATOS in ihrer ganzen Komplexität, was das Problem der Objektivität angeht, sichtbarer geworden. Auch die Naturwissenschaften vollziehen sich nicht in einem keimfreien Klima eindeutiger Tatsachenbefunde (Beobachtungen) und ebenso klarer Kriterien im Hinblick auf die Bewertung von Hypothesen. Vormeinungen und Interpretationen gehen schon in die Beobachtungen der Naturwissenschaftler ein. Ein Paradigmenwechsel innerhalb einer Wissenschaft kann auch die methodologischen Grundsätze ändern, die bislang als Objektivitätsstandards akzeptiert waren. Statt einer strikten wissenschaftlichen Objektivität, repräsentiert durch die Naturwissenschaften auf der einen Seite und einer unaufhebbaren Subjektivität auf der Seite der Geisteswissesschaften, speziell der Historie, haben wir vielmehr eine Gemengelage und ein Spektrum wechselnder Anteile an subjektiven und objektivitätserhaltenden Faktoren in beiden Wissenschaftsgebieten vor uns. Wissenschaftlichkeit ist nicht an den Besitz eines uneingeschränkten Objektivitätsgrades gebunden, sondern hängt mit dem Bestehen methodischer Standards zusammen, deren Respektierung und Anwendung eine Verbesserung des Objektivitätsgrades sicherstellt. An die Stelle der Frage: Ist die Geschichtswissenschaft objektiv? muß vielmehr die vernünftigere Frage treten: Was trägt, ceteris paribus [bei sonst gleichen Umständen - wp], zur höheren Objektivität der Ergebnisse historischer Untersuchungen bei? Selbst der Historiker, der seine fundamentalen Zweifel hinsichtlich der "Objektivität der Historie" (pauschal genommen) keineswegs verhehlen würde, dürfte wohl keinerlei Bedenken haben, eine solide historische Arbeit "objektiver" zu nennen als eine Geschichtsklitterung, die hauptsächlich Propagandazwecken dienen soll, oder eine Arbeit, die dogmatische Grundsätze ungeprüft übernimmt, wie das bei christlicher oder marxistischer Geschichtsmetaphysik der Fall zu sein pflegt. ![]() Bei einer solchen Untersuchung dürfte auch der Begriff der "Tatsache" eine wichtige Rolle spielen. Auch dieser Begriff ist im Zeichen der Methodenhypochondrie unter den Historikern unverdient in Mißkredit geraten. Zwischen dem Begriff der Tatsache und dem Begriff der Wahrheit besteht nun eine innere Verknüpfung, weil eine Tatsache nicht anders definiert werden kann als das, was vorliegen muß, wenn der Satz, der diese Tatsache behauptet, wahr sein soll. Der Sachverhalt, der von einem Satz behauptet wird, ist eine Tatsache genau dann, wenn dieser Satz wahr ist. Deshalb ist es gut verständlich, daß auch der Wahrheitsbegriff zum Gegenstand kritischer Erörterungen gemacht worden ist, mit der Tendenz, den aristotelischen Korrespondenzbegriff der Wahrheit, dem man heute als seine exaktere Fassung den "semantischen Wahrheitsbegriff" an die Seite stellt, als unzulässig, weil naiv auszuweisen und seine Verwendung in wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen abzulehnen. Mit einigen solchen exemplarischen Fehlinterpretationen des Tatsachen- und Wahrheitsbegriffs wollen wir uns im Folgenden näher beschäftigen. Derlei Vorstellungen haben einen verwirrenden Einfluß ![]() ![]() ![]() Die Arbeit des Historikers ist sicherlich schon schwierig genug, auch wenn die Mühen nicht hinzutreten, die durch Auseinandersetzung mit Scheinproblemen entstehen müssen. Es lohnt sich deshalb, Überlegungen zu durchlaufen, die geeignet sein dürften, einige dieser Scheinprobleme als solche festzumachen, damit die methodologische Reflexion sich hinfort mit den wirklichen Schwierigkeiten befassen kann. Zunächst müssen wir versuchen, uns auf einen Begriff von "Objektivität" zu einigen, der für unsere Zwecke hinreichend klar bestimmt ist. Der Ausdruck ist, wie sich leicht zeigen läßt, weder durch den allgemeinen Sprachgebrauch normiert, noch wird man bei Philosophen und Wissenschaftstheoretikern eine allgemein akzeptierte Definition finden. Es scheint mir unter diesen Umständen nützlich, von den drei Bedeutungskomponenten auszugehen, die ADAM SCHAFF in seinem Buch "Geschichte und Wahrheit" unterscheidet: "Objektiv" bedeutet erstens soviel wie "vom Objekt, vom Gegenstand kommend". Zweitens die Bedeutungskomponente der Allgemeingültigkeit, nach der "objektive Erkenntnis" Erkenntnis von allgemeinem, nicht nur von individuellem Wert ist. Drittens unterscheidet SCHAFF die Bedeutungskomponente "objektiv" gleich "frei von emotionaler Färbung und damit verbundener Parteilichkeit" (1). Bei SCHAFF scheint mir eine Bedeutungskomponente nicht berücksichtigt, die doch häufig vorkommt: Objektivität wird häufig mit absoluter Wahrheit gleichgesetzt, und absolute Wahrheit auch in dem Sinne verstanden, daß eine objektive Darstellung nicht bloß in jeder Hinsicht zutreffend sein muß, sondern den jeweils dargestellten Gegenstand auch vollständig erfassen muß. In diesm sehr extremen Sinn von Objektivität kann menschliche Erkenntnis, wie man leicht sieht, nie vollkommen objektiv sein, da es nie gelingen wird, einen Gegenstand vollständig zu erfassen und seiner Erkenntnis gleichsam auszuschöpfen. ![]() Soll uns etwa jedes dieser genannten Merkmale für sich genommen schon Objektivität verbürgen, oder sollen wir annehmen, daß erst alle zusammen das ausmachen, was wir unter dem zugestandenermaßen unscharfen Prädikat "objektiv" verstehen wollen? ![]() Diese Frage ist wohl im Hinblick auf die Art von Allgemeingültigkeit am leichtesten zu beantworten, die im bloßen Konsens der Mitforschenden in einem wissenschaftlichen Gebiet besteht. ![]() ![]() Es wäre doch beispielsweise möglich, daß sich im Bereich der Astrologie, wo es vermutlich mehrere "Schulen" gibt, eine einzige Schule derartig durchsetzte, daß alle Astrologen nur noch nach den Methoden dieser Schule ihre Horoskope stellen. Daraus würde aber doch wohl noch nicht folgen, daß diejenigen, die an der Objektivität der astrologischen Hypothesen und Theorien zweifeln, diese Zweifel nun aufgeben würden. Schulstreit in einer Wissenschaft über die Methoden ist für sich genommen weder ein Grund, an der möglichen Objektivität der Ergebnisse dieser Wissenschaft zu zweifeln, noch gilt, daß die Übereinstimmung unter den Wissenschaftspraktikern einer Disziplin schon die Objektivität ihrer Ergebnisse sicherstellen könnte. Man kann höchstens sagen, daß Übereinstimmung unter den Fachleuten einer Disziplin ceteris paribus ein Indiz für Objektivität der in dieser Disziplin aktzeptierten Verfahren und Resultate sein kann. Jedoch kann ein Objektivitätsanspruch nicht aus dem Konsens der Fachleute eines Sachgebietes abgeleitet werden, und erst recht gilt nicht, daß dieser Konsensus das wäre, was eigentlich gemeint ist, wenn wir von der Objektivität einer Disziplin und ihrer Methoden und Resultate sprechen. Kommen wir nun zum zweiten Komplex: Objektivität als Darstellung der Sache, wie sie selbst ist, ohne Abzug und ohne Zutat, Objektivität als reine "Widerspiegelung" der Sache (wie ADAM SCHAFF das noch ausdrückt (4), also als absolute Wahrheit. Inzwischen ist es doch wohl allgemeine Ansicht, ja man kann sagen Einsicht geworden, daß als Ziel wissenschaftlicher Bemühungen nicht mehr nur die "Erkenntnis der Wahrheit" in dem Sinne gelten kann, daß Wissenschaft an der Einsammlung wahrer Sätzes, bloß als solcher, besonders interessant wäre. Es gibt viele wahre Sätze, die in keiner Wissenschaft auftauchen und von der Wissenschaft mit Recht vernachlässigt werden. Ob ich heute morgen zur Frühstück ein gekochtes Ei gegessen habe oder nicht, interessiert die Wissenschaft nicht, ebensowenig wie die Frage, wieviele Bewohner unseres Planeten Nachnamen haben, die mit dem Buchstaben "A" anfangen. Der Wissenschaft geht es um Sätze, die sich durch einen hohen Informationsgehalt auszeichnen, um Sätze mit erheblichen Folgerungsmengen, die uns Einsichten in wichtige Zusammenhänge eröffnen können, speziell um solche Sätze, die etwas zur Lösung von schon diskutierten Problemen beitragen. ![]()
Schade, daß sie leicht und leer ist. Denn ich wollte lieber Klarheit über das, was voll und schwer ist. (5) ![]() ![]() Dieser Zusammenhang zwischen Wahrheit und Bedeutsamkeit, ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() Die Gleichsetzung von Teilwahrheiten mit solchen Aussagen, die nur teilweise wahr sind, scheint hinter der oft vertretenen Ansicht zu stehen, historische Forschung könnte schon deshalb nicht volle Objektivität erreichen, weil sie immer nur Ausschnitte und Teilaspekte der Wirklichkeit, die sie erfassen soll, in den Blick nehmen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang gern von notwendig "einseitiger" Betrachtungsweise. Aber es ist natürlich wissenschaftstheoretisch betrachtet, ein entscheidender Unterschied, ob an Teilwahrheiten im Bewußtsein, daß es sich um solche handelt, vorträgt, oder ob man sich selbst und/oder dem Leser suggeriert, die vorgetragene Teilansicht sei schon die ganze Wahrheit über den jeweils behandelten Gegenstand oder historischen Prozeß. Es entspricht der Unterscheidung zwischen Teilwahrheiten und Aussagen, die nur zum Teil wahr sind, daß wir fragmentarische und perspektivische Auffassungen mit Recht objektiv nennen können. Die objektivitätsgefährdende Fehlerquelle liegt in der möglichen suggestio falsi Behauptung von Falschem als Wahres - wp] oder der suppressio veri [Unterdrückung von Tatsachen - wp], die durch einen uneingelösten Totalitätsanspruch ins Spiel kommen. Es ist in diesem Zusammenhang für die wissenschaftstheoretische Beurteilung, wenn auch vielleicht nicht für die moralische, gleichgültig, ob man nur fahrlässig, oder sogar absichtlich die semantischen oder pragmatischen Konventionen der sprachlichen Kommunikation dazu verwendet, den Teilcharakter und die Aspekthaftigkeit der jeweils vorgetragenen Ansicht zu verhüllen. Wer über einen Wettlauf von zwei Personen berichtet, der eine Teilnehmener habe den zweiten Platz erreicht, während der andere Vorletzter geworden sei, erzeugt auf der Basis eindeutig wahrer Aussagen durch die Ausnützung gewisser pragmatischer und semantischer Kommunikationskonventionen einen falschen Eindruck. Das Verschweigen der Tatsache, daß nur zwei Teilnehmer an dem Wettlauf teilgenommen haben, erweckt die Vorstellung, daß der tatsächlich Unterlegene (der einen zweiten Platz errang) besser abgeschnitten habe als der Sieger, von dem gesagt wird, er sei "Vorletzter" gewesen. Hier wird auch durch die Verwendung des Ausdrucks "Vorletzter" für den Sieger in einem Wettstreit zwischen nur zwei Partnern eine semantische Konvention verletzt, die darin besteht, daß man den Ausdruck "Vorletzter" nur für jemanden verwendet, der in einem größeren Feld die zweitletzte Stelle eingenommen hat. ![]() Der illegitime Weg von den wahren Aussagen zu der Wahrheit im Ganzen, von Einzelheiten zu dem übergreifenden Zusammenhang, in dem die Einzelheiten ihren Platz haben, wird besonders von den Autoren eingeschlagen, die sich mit dem Gedanken nicht befreunden können, daß die Wissenschaften, auch die historischen Wissenschaften, es jedenfalls auch mit einzelnen, wohlbestimmten Tatsachen zu tun haben, und daß die Objektivität von Wissenschaften dort jedenfalls am wenigsten problematisch sein dürfte, wo sie sich auf solche ("harten") Tatsachen stützen kann. besonders charakteristisch für ein solches Verfahren ist beispielsweise die Argumentation des amerikanischen Historikers CARL BECKER (1873 -1945) in seinem erst posthum veröffentlichten Aufsatz "What are Historical Facts?" (9) BECKERs Thesen sind die folgenden: Die "einfachen" Tatsachen, mit denen der Historiker rechnet, sind in Wirklichkeit außerordentlich kompliziert, in Wirklichkeit handelt es sich um "Verallgemeinerungen" von vielen tausend Einzeltatsachen, die vom Historiker als "eine" Tatsache aufgefaßt werden. ![]() ![]() ![]() ![]() Aus dieser BECKER'schen Kategorienverwechslung folgt dann auch, daß die historischen Tatsachen sich im Kopf der Historiker befinden, da sie ihrer Natur nach Gedanken sind oder Behauptungen, die jemand aufstellt, und solche Behauptungen nur im "Geiste" oder im Kopf von Individuen auftreten können. Hier fehlt BECKER die Einsicht, daß Gedanken und Inhalte von Sätzen zeitlose Entitäten sind, die auch nirgends lokalisiert werden können. Der Satz des PYTHAGORAS hat weder einen Ort noch eine Zeitstelle, und ebenso hat die Tatsache, daß CÄSAR im Jahre 49 den Rubikon überschritten hat, keine zeitlich-räumliche Fixierung. Das Ereignis, auf das sich die Tatsache bezieht, ist zeitlich und räumlich lokalisierbar. Ebenso handelt es sich um ein raumzeitliches Ereignis, wenn jemand die Behauptung aufstellt, die der Tatsache entspricht. Aber die Tatsache, daß CÄSAR im Jahre 49 vor CHRISTUS den Rubikon überschritten hat, braucht ebensowenig eine raum-zeitliche Fixierung, wie die Tatsache, daß zwei mal zwei vier ist. ![]() Hat man sich einmal auf den gefährlichen Gedanken eingelassen, ein Ereignis oder ein Vorgang könnten nur wahrheitsgemäß oder objektiv erfaßt sein, wenn sie vollständig, allseitig oder erschöpfend dargestellt wären, so würde man einer schlichten Auffassung wissenschaftlicher Wahrheit als Übereinstimmung mit den Tatsachen nicht mehr folgen können und eher einer Kohärenztheorie vertrauen, die den Wahrheitswert einzelner Aussagen daran mißt, ob sie sich in das Ganze unserer Erkenntis widerspruchsfrei einfügen lassen. Jedoch scheint klar, daß wir das nicht meinen, wenn wir einen Satz wahr nennen. ![]() Wenn der Satz "Rome had won universal empire half-reluctant, throug a series of accidents, the ever-widening claims of military security and the ambition of a few men" [Rom war halb widerwillig zu einem Weltreich geworden: durch eine Reihe von Unfällen, durch die immer größer werdenden Ansprüche an militärische Sicherheit und den Ehrgeiz von einigen Männern. - wp] (um nur einen beliebigen Satz eines Historikers herauszugreifen) (12) wahr ist, dann ist er deshalb wahr, weil es so ist, wie er sagt, ![]() Richtig ist auch, daß alle unsere Tatsachenfeststellungen von Voraussetzungen, die wir immer schon machen, abhängig sind. Auch die Ausdrücke, mit denen wir solche Sätze bilden, stehen in gewissen Sinnhorizonten, ![]() ![]() ![]() Wir kommen nun zu dem letztgenannten Störfaktor möglicher Objektivität, nämlich Objektivität als Freiheit von Emotionen, von Parteilichkeit, von der Leitung durch Sonderinteressen. Hierfür kann man einen Ausspruch von JOHN DEWEY anführen, der in dem Artikel von CHRISTOPHER BLAKE "Can History be Objective?" zitiert wird. "To be intellectually objective is to discount an eliminate merely personal factors in the operations by which a conclusion is reached." [Wer intellektuell "objektiv" sein will, muß die überwiegend persönlichen Faktoren unberücksichtigt lassen, bzw. eleminieren in den Operationen die zu einer Schlußfolgerung führen. -wp]. (15) Man darf inzwischen wohl als allgemein akzeptiert ansehen, daß die Verfahren, mit denen wir wissenschaftliche Hypothesen gewinnen, grundsätzlich zu unterscheiden sind von den Verfahren, mit denen wir die Tragfähigkeit solcher Hypothesen überprüfen (context of discovery und context of justification). Für die Gewinnung von Hypothesen kann uns sozusagen alles willkommen sein, was den Prozeß fördert; es ist von vielen Autoren schon mit Recht darauf hingewiesen worden, daß beispielsweise ohne leidenschaftliche Beteiligung an einer wissenschaftlichen Diskussion oder emotionales Interesse an den Gegenständen der Forschung kaum Anstrengungen gemacht werden dürften, die von der Größenordnung sind, die für die Gewinnung bedeutender neuer Einsichten nun einmal vorausgesetzt werden muß. "The operation, by which a conclusion is reached" - schon dieser Ausdruck erinnert uns daran, daß die Einsicht noch relativ jung ist, nach der die Logik nicht den Gang des wissenschaftlichen Denkens regeln kann, und erst recht nicht den Gang des wissenschaftlichen Denkens beschreiben soll. Vielmehr gibt die Logik uns Regeln an die Hand, nach denen wir über den wissenschaftlichen Wert der Argumente entscheiden können, die für die wie auch immer erreichten Resultate des Nachdenkens und Forschens vorgebracht werden können. ![]() Besondere persönliche Zuneigung zu einer historischen Person mag den einen Historiker zu seiner Arbeit inspirieren. Ein anderer mag durch Empörung über die unerträgliche Ausbeutung der Arbeiter im Frühkapitalismus zu seinen Untersuchungen veranlaßt werden. Parteienhaß und nationalistische Emotionen können den Blick schärfen, so daß man bekannte Dinge in neuem Licht sieht. Für die Objektivität der erreichten Ergebnisse kommt es darauf nicht an, aus welchen emotionalen Quellen die wissenschaftliche Anstrengungen, die zu ihrer Erreichung nötig waren, gespeist werden. Freilich können solche Motive auch nicht an die Stelle von Argumenten treten, ![]() Jedenfalls hat die Ansicht etwas Weltfremdes, man müsse ein umso besserer Historiker sein, je weniger man für leidenschaftliches Engagement und Emotionen anfällig ist. Man kann sich kaum vorstellen, daß jemand etwa die Geschichte der STALIN'schen Schauprozesse oder der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik gegenüber den Juden oder die ständigen Wortbrüche HITLERs im Hinblick auf seine "letzten" territorialen Anforderungen in der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf eine angemessene Weise wissenschaftlich darstellen könnte, der nicht dabei Empörung über die Menschenverachtung, die Brutalität und Niedertracht, die sich in solchen Verhaltens weisen darstellt, empfindet. Angesichts solcher Tatsachen nichts zu empfinden, und eine solche moralische Beurteilung auch nicht in die Art der Darstellung einfließen zu lassen, würde man nicht "objektiv", sondern wohl bloß "gefühllos" nennen. Es gibt Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge, zu deren "objektiver" Erfassung eben auch eine moralische Reaktion gehört. Objektiv in diesem Sinne heißt daher nicht frei von moralischer Beurteilung oder moralischer Bewunderung bzw. Empörung, sondern frei von unangemessenen moralischen Beurteilungen oder emotionalen Reaktionen. ![]() Ich fasse zusammen: Die vorstehend behandelten prinzipiellen Angriffe auf die Möglichkeit objektiver Ergebnisse in den historischen Wissenschaften sind nicht zwingend. Aber damit, daß man Angriffe auf die These der Möglichkeit objektiver Befunde in den historischen Wissenschaften abgewiesen hat, hat man diese Möglichkeit selbst noch nicht bewiesen. Wir fragen also abschließend: Was konstituiert das Recht, eine These aufgrund vorliegender Befunde und im Hinblick auf rationale Argumentationsverfahren aufzustellen? Und das heißt: Was macht eine historische Untersuchung oder Darstellung objektiv? ![]() Objektivität ist offenbar eine Sache des Grades. Es ist wohl zweckmäßig, eine These, eine Darstellung, eine Erklärung dann "ideal-objektiv" zu nennen, wenn sie an allgemein akzeptierte lebensweltliche Voraussetzungen jedes Verständnisses anknüpft (das wird im allgemeinen durch Formulierung in einer natürlichen Sprache erreicht), sich auf allgemein zugängliche Tatsachen stützt und aus ihnen mit logisch als korrekt anerkannten Argumentationsschritten entwickelt werden kann. Wie weit man nun die Ansprüche auf Objektivität dieser Ideal-Objektivität annähern will, und in welchem Umfang man der Schwierigkeit der Materie nachgibt und Abstriche macht, muß wohl im Einzelfall entschieden werden. Wichtig ist es vor allem, die Resignation zu vermeiden, die sich beim Wissenschaftler leicht einstellt, wenn ihm immer wieder vorgehalten wird, in seinem Arbeitsbereich sei ohnehin keine objektive Einsicht zu erlangen und deshalb könne man sich viel Arbeit sparen, wenn man sich gleich von vornherein der jeweils herrschenden Zeitströmung anpaßt. Wenn es auch keine streng objektiven Sätze und Erkenntnisse in den Geisteswissenschaften gibt, so gibt es doch ein wohlformulierbares Objektivitätsideal und die Möglichkeit, jeweils objektivere von weniger objektiven Untersuchungsverfahren, Auffassungen und Resultaten zu unterscheiden. Und das sollte für erwachsene Menschen genug sein; es ist jedenfalls genug für die tägliche wissenschaftliche Arbeit. ![]() ![]() ![]() ![]() Anmerkungen 1) ADAM SCHAFF, Geschichte und Wahrheit, Wien-Frankfurt-Zürich 1970, Seite 72f. Vgl. auch Seite 233. 2) WILLIAM HENRY WALSH, An introduction to philosophy of history, London 1951, Seite 96 3) IMMANUEL KANT, Prolegomena, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Seite 299 4) SCHAFF, Geschichte und Wahrheit, Seite 72 5) KARL R. POPPER, Objective Knowledge. An evolutionary approach. Oxford 1972, Seite 54, Anm. 22 (deutsch: Objektive Erkenntnis, 2. Auflage, Hamburg 1974) 6) ERHARD SCHEIBE, Wissenschaft und Wahrheit, Gymnasium 80, 1973. 7) ERNST TUGENDHAT, "Zum Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit" in: Colloquium Philosophicum, Studien, Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel-Stuttgart 1966 8) TUGENDHAT, a. a. O. Seite 399 9) CARL L. BECKER, What are historical facts? in The Western political quarterly, Bd. 8, 1955 10) ADAM SCHAFF, Geschichte und Wahrheit, Seite 177f 11) Vgl. GÜNTHER PATZIG, Sprache und Logik, Göttingen 1970, Kap. Satz und Tatsache, bes. Seite 59f. 12) RONALD SYME, The Roman revolution, Oxford 1939, Seite 440. 13) KARL POPPER, Conjectures and refutations, London 1962, Seite 224f; NICHOLAS RESCHER, The coherence theory of truth, Oxford 1973 14) JÖRN RÜSEN in "Philosophische Rundschau", Bd. 21, 1974, Seite 43 15) CHRISTOPHER BLAKE, Can history be objective? Mind, Nr. 64, bes. Seite 63 16) ARISTOTELES, Politik, T 16, 1287a 41-1287b 3. |