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Die Schwäche der Seele
Walther Rathenau

Die heutige Gemeinschaft gleich einer ungeheuren Produktivgenossenschaft; denn Ernährung und Beschäftigung zehnfach verdichteter Volksmassen ist ihr auferlegt; Güterproduktion ist der Inbegriff der Weltarbeit, und in der Stimmung jedes Einzelnen spiegelt sich das Gesamtbild in der Gestalt seines Verhältnisses zum Besitz und zur Macht. Tausend übereinander gelagerte Netzwerke zweckmäßiger Organisationen durchdringen den lebendigen Körper der Zivilisation und schaffen ihn zu einem selbsttätigen und zwangsläufigen Mechanismus, aus dessen Verstrickung nur entrinnt, wer nach Tibet oder Feuerland flüchtet. Die künstlich begrünte und durchfurchte Oberfläche trägt die Spuren des Geisterbaus. Gewebe aus Stein und Metall, die von den Kräften des Feuers und Wassers erzittern.

Alle Mächte des Denkens und Fühlens sind in den Dienst des Gesamtorganismus eingespannt. Mittelbar und unmittelbar geschieht fast jede Regung der belebten Elemente im Dienst materieller Produktion. Selbst wo die freiesten Künste abseitig ihr Wesen treiben, dringt in die Werkstatt Lärm und Atem des Marktes, und es entstehen eilige, halbfertige Dinge, vom Augenblick für den Augenblick erzeugt, belastet von der Überfülle der Eindrücke und Vorbilder, bestimmt, im Massenhaften zu versinken. Der Gedanke, geschult in der versteinerten Methodik wissenschaftlicher Forschung, triumphiert, wenn er benachbarte Tatbestände durch die dogmatischen Mittel der Analogie, der Rechnung und der Entwicklung verketten kann und stutzt vor jeder Bewertung und transzendenten Umfassung; er verliert den Boden, sobald das Joch handgreiflicher Nützlichkeit ihn nicht mehr niederdrückt.

Die Zeit wagt nicht mehr, über sich selbst nachzudenken. Sie fürchtet, die Antwort auf die Fragen: warum? wohin? wozu? könnte sie vernichten. Denn im Innersten fühlt sie die Zwecklosigkeit ihrer Zwecke, die Torheit ihres Glücks, die Irrealität ihres Handelns, die Selbstvernichtung ihres Wissens, die Unnotwendigkeit ihrer Kunst, die Willkür ihrer herkömmlichen Lebensformen und Sitten. Hielte das Bestehende sich nicht durch die Trägheitsgewalt der schwingenden Massen, so wäre die Welt jedem Umsturz preisgegeben; denn es gibt keinen in der Tiefe transzendenter Überzeugung gelagerten Ruhepunkt, in welchem das System der Kräfte sich verankern könnte.

Vergeblich trachtet der verjagte Glaube sein Netz an scheinbar gefestigte Stützen anzuspinnen; mag er die Wissenschaft, die Heimat, die Kunst oder den Mythos wählen: es bricht der Faden, denn die Pfosten schwanken. Das höchste Gemeingut, die Überzeugung vom Ewigen, ist dem Geschmack, der Persönlichkeit der Mode und der Willkür ausgeliefert.

Täglich wächst die rotierende Kraft; zerschmettert wird, wer in die Speichen greift, und alles praktische Handeln besteht darin, gutwillig der Bewegung zu folgen, die den am stärksten schüttelt, der sich stemmt. Von trüber Komik ist es, wie wohlgesinnte Menschen, des Glaubens, sie hätten sich ins Historische, ins Absolute geflüchtet, mit alterümlichen Gebärden, unentschlossen und verlegen im Maschinenritt ihres Zeitalters einhertraben. Und doch steht es jedem frei, den Schalthebel zu ergreifen, der die innerste Triebkraft des Systems zerschneidet. Nicht die Einzelglieder der Mechanisierung sind angreifbar, denn sie sind mit eisernen Klammern objektiver Logik verschränkt; aber im tiefsten Innern birgt sich der widerstandslose, vom Hauch des Gedankens bewegbare Punkt: die Schwäche der Seele.


LITERATUR, Walther Rathenau, Zur Mechanik des Geistes, Berlin 1918