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ALFRED BRUNSWIG
Das Vergleichen
und die Relationserkenntnis

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"Bekanntlich gilt es einem großen Teil der neueren Philosophie und Psychologie als ausgemacht, daß alle Relationen nur Produkt der beziehehnden Tätigkeit des Geistes sind, vor dieser und ansich aber kein Dasein haben. Eine Hauptstütze dieser Ansicht bildet die verbreitete sensualistische Denkgewöhnung. Eine Relation, etwa die Beziehung der Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen, ist doch nicht etwas, das wie ein drittes Ding sinnlich zwischen ihnen liegt, oder ihnen anhängt; ist nicht etwas, das anzupacken und auf den Tisch zu legen ist; - also existiert sie überhaupt nicht objektiv, nur das Ähnlichkeitserlebnis existiert in uns; die scheinbar zwischen den Dingen bestehende Relation ist erst ein subjektives Erzeugnis, eine Zutat aus uns, von uns in die Wirklichkeit hineinverlegt oder eingefühlt; die objektive Wirklichkeit aber ist relationslos, atomistisch, enthält nur die Fundamente für unser Relationsbewußtsein; erst der Geist umspinnt sie mit dem Relationsgewebe."


13. Das latente Wissen von nicht
gegenwärtigen Inhalten und seine
Bedeutung für das Relationsbewußtsein.

Ich fand im Vorigen, daß eine Relationswahrnehmung bereits eintreten kann, wenn nur das eine Fundament der Relation dem Bewußtsein wirklich gegenwärtig ist, während vom anderen zwar noch ein Wissen besteht, aber keine Vergegenwärtigung; nur eine bewußte "Richtung" zielt dann auf jenes andere Glied hin.

Zur weiteren Klärung unserer Theorie des Relationsbewußtseins bedürfen diese hier angedeuteten Phänomene "des Wissens von einem nicht gegenwärtigen Inhalt", bzw. der "Richtung" auf einen solchen einer eingehenderen Untersuchung.

1. Es gibt ein aktuelles Bewußtsein von einem früher wahrgenommenen, vergangenen Inhalt, das sich nicht als ein Haben, Vorfinden von Erinnerungsbildern fassen oder darauf reduzieren läßt.

Die Assoziationspsychologie konnte von ihren Prinzipien aus ein Bewußtsein von einem nicht Gegenwärtigen immer nur als Vorfinden gegenwärtiger Abbilder verstehen. Das führte zur Lehre vom Gedächtnisbild und seiner Rolle im Vergleich.

Neuerdings dagegen ist die Erkenntnis immer allgemeiner geworden, daß es ein lebendiges Wissen, auch von anschaulichen Inhalten, gibt, ohne daß eine Repräsentation der nicht mehr gegenwärtigen Inhalte durch gegenwärtige Vorstellungsbilder notwendig oder wesentlich wäre; daß ferner das Haben von Gedächtnisbildern allein völlig ungenügend ist, das Bewußtsein des Vergangenen verständlich zu machen.

Auch von experimenteller Seite wird jetzt auf die Existenz solcher "unanschaulicher Bewußtheiten" hingewiesen (z. B. von ACH).

Ich hörte etwa eben einen Akkord anschlagen und weiß jetzt noch, wie er klang; ich habe noch ein lebendiges Bewußtsein von ihm.

Damit bezeichnet man einen Zustand, der nicht notwendig eine sinnliche Vergegenwärtigung des verklungenen Akkords mit einschließt, der nicht im Verharren eines Erinnerungsbildes im Bewußtsein besteht. Vielleicht bin ich zu einer eigentlichen Vergegenwärtigung meines nicht auditiven Typus wegen gar nicht imstande. Gleichwohl weiß ich noch aktuell von jenem Klang und bin mir dieses Wissens bewußt: und zwar nicht etwa bloß eines Wissens von gewissen am Klang aufgefaßten abstrakten Merkmalen, sondern seiner selbst als anschaulicher Einheit. Diese Bewußtheit erlebe und erfasse ich als einen aktuellen Zustand meiner selbst, natürlich hat er nichts zu tun mit Spannungsempfindungen oder mit Vorstellungsbildern (eventuell von Worten), die nur auf gegenständliche Inhalte aufmerksame Beobachter statt seiner angeben.

Ein solcher aktueller Zustand, dessen Vorhandensein ich unmittelbar erfassen kann, ist ferner selbstverständlich auch keine bloße, unbewußte Disposition, auf die ich ja nur indirekt schließen könnte.

In so einem lebendigen Wissen von einem vergangenen Inhalt kann ich auch ein gegenwärtiges sinnliches Abbild als richtig oder als falsch erkennen; ich kann mir nach diesem Wissen innerlich ein richtiges herstellen; sofern ein solches Bewußtsein noch vorhanden ist, brauchen die Mängel der Vergegenwärtigung des Vergangenen durch das Abbild mein Urteil nicht zu schädigen. Gedächtnisbilder erscheinen diesem Wissen gegenüber völlig sekundär. Daß kein Gedächtnisbild des ersten von zwei Vergleichsobjekten am Urteil mitbeteiligt ist, heißt noch lange nicht, daß kein Wissen um jenes Anteil daran hat.

Von diesem Wissen oder Bewußtsein um ein anschauliches Ganzes unterscheiden wir, wie angedeutet, das Wissen von den einzelnen daran geistig aufgefaßten abstrakten Merkmalen. Auch dieses Wissen kann aktuell lebendig sein; das ist es z. B., wenn ich jetzt gerade daran denke, daß der vorher gehörte Klang unrein tönt, oder daß ein vorher gehobenes Gewicht mir auffallend leicht erschienen ist.

Auch solche aktuelle Gedanken oder Erinnerungsakte bestehen natürlich nicht in den Vorstellungen der Worte, die ihnen Ausdruck verleihen.

Daß bei sukzessiver Auffassung zweier Inhalte beim letzten auch noch ein aktuelles Bewußtsein vom ersten vorhanden sein kann, zeigen die Urteile, die sich spontan auf diesen ersten beziehen. Wenn ich z. B. nach dem Heben zweier Gewichte urteile: "Das erste ist schwerer", so verweilte bei Eintritt der Relationswahrnehmung die geistige Aufmerksamkeit offenbar bei diesem ersten vergangenen Inhalt, der dadurch statt des letzten zum Hauptglied der Relation wurde. - Auch die feste Überzeugung, daß man einen eben wahrgenommenen Inhalt sicher wiedererkennen würde, stützt sich oft auf das bewußte aktuelle Wissen von ihm.

2. Vom Vorhandensein eines "Wissens" sprechen wir nun aber auch dann, wenn es sich im Zustand der "Latenz" befindet.

Ich weiß latent noch von sehr vielem, von dem ich doch keinerlei aktuelles Wissen habe; wenn ich aktuell mir von einem vorher wahrgenommenen Objekt nur noch einer bestimmten, daran bemerkten Einzelheit bewußt bin, kann ich doch eventuell von ihm latent noch ein volles Wissen haben. MIt dem aktuelle Wissen ist nicht mein Wissen überhaupt erschöpft; auch nicht mit dem momentan aktualisierbaren latenten. So weiß ich vielleicht momentan von einem vorher gehobenen Gewicht nur mehr zu sagen, daß es zur Kategorie der "schweren" gehört, ohne daß ich jedoch von seiner besonderen Schwere noch ein lebendiges Bewußtsein hätte. Erst durch einen äußeren Anstoß kehrt mir vielleicht auch dieses letztere Wissen zurück.

DIeses unbewußte latente Wissen pflegt man nun teils rein physiologisch zu deuten, teils als psychische Disposition zum aktuellen zu verstehen. Ohne auf diese Fragen näher einzugehen, müssen wir doch hier schon auf eine Tatsache hinweisen, die eine Auffassung des potentiellen Wissens als bloße Disposition und besonders als physiologische, ungenügend erscheinen läßt.

Es gibt nämlich ein gewisses Bewußtsein vom Umfang des eigenen latenten Wissens, im Voraus, während es latent ist. Wir sagen nämlich, auch ohne aktuell uns eines Inhalts noch bewußt zu sein, oft: "Ich werde ihn noch sicher wiedererkennen und von ähnlichen unterscheiden können"; und dergleichen Angaben bestätigen sich nicht nur zufällig. Diese Überzeugung erscheint aber keineswegs immer als indirekter Schluß, sondern oft als gestützt auf ein unmittelbares Bewußtsein vom Dasein und vom Umfang des latenten Wissens.

Von einer bloßen, womöglich physiologischen, Disposition läßt sich aber doch kein unmittelbares Bewußtsein annehmen.

Das Ungenügende einer rein dispositionellen Auffassung wird übrigens durch bald zu besprechende andere Tatsachen noch klarer werden.

Da wir die aktuelle Bewußtheit von einem Inhalt vom Haben eines Gedächtnisbildes unterscheiden und als geistigen Akt betrachten, so ist auch das Schwinden einer solchen aktuellen Bewußtheit nicht als Verblassen und Entschwinden eines innerlichen Bildes zu verstehen, und ebensowenig darf das Wiederaktuellwerden eines latenten Wissens als Reproduktion von Vorstellungsbildern seines Objekts mißverstanden werden.

3. Wir haben nun ein eigentümliches Phänomen zu besprechen, nämlich die "Richtung" auf ein nicht gegenwärtiges Objekt, von dem wir latent noch wissen, und das Erlebnis, daß dabei das Wissen von jenem Objekt, obwohl latent bleibend, doch unser gegenwärtiges Bewußtseinsleben bewußt beeinflußt.

Wir werden das Wesen dieser Phänomene vielleicht am besten an einem sehr bekannten Erlebnis fassen, dessen phänomenologische Bedeutung jedoch meist nicht genügend ausgeschöpft wird, nämlich am Besinnen auf einen uns entfallenen Namen.

Ich weiß in diesem Zustand noch "latent" von dem gesuchten Namen und richte mich jetzt bewußt meinend auf ihn.

Daß ich latent von jenem Namen noch weiß, obschon ich ihn gegenwärtig nicht nennen kann, dessen bin ich mir ganz sicher bewußt, und eben darum besinne ich mich auf ihn. Ferner richte ich mich innerlich meinend auf diesen von mir latent gewußten Namen selbst direkt, obwohl ich ihn vorläufig nach außen hin nur indirekt kennzeichnen kann. Es liegt also eine bewußte Meinensrichtung auf diesen mir nicht gegenwärtigen Namen vor, nicht etwa bloß eine unbewußte Reproduktionstendenz, die auf ihn abzielt. Die mag ja auch vorliegen, aber man darf über diesen, zur Erklärung angenommenen unbewußten Erregungen nicht die eigenartigen Bewußtseinsphänomene übersehen.

Bewußt aufgrund dieses meines mir noch nicht gegenwärtigen Wissens von diesem so gemeinten Namen fälle ich nun im Fortgang des Besinnens mir subjektiv völlig evidente Urteile über Beziehungen gegenwärtiger Inhalte zum gesuchten Namen.

Zunächst bin ich mir dessen sicher, daß ich den Namen, wenn man ihn mir jetzt nennen würde, sofort als den gesuchten wiedererkennen und falsche, mir für ihn untergeschobene Namen abweisen würde. Und zwar ist hier wieder ein Bewußtsein vom Umfang des eigenen latenten Wissens entscheidend, und es gibt ein solches unmittelbares Bewußtsein, ohne daß das Wissen aus seiner Latenz herauszutreten bräuchte. - Ferner habe ich im Verlauf des Besinnens oft den sicheren Eindruck, jetzt dem gesuchten Namen näher, jetzt wieder ferner zu kommen; und solche Eindrücke erscheinen nicht als subjektiv grundlose Gefühle, sondern als bewußt begründet aus dem latenten Wissen um jenen Namen.

Vor allem aber erkenne ich, gestützt auf mein latentes Wissen, das Verhältnis von mir gegenwärtigen Namen und Namenfragmenten zu dem gesuchten oft mit voller subjektiver Sicherheit und objektiver Richtigkeit. Es handelt sich hier nur um die prinzipielle Möglichkeit solcher - nicht bloß zufällig - richtiger Fälle; die Täuschungen zu erklären, muß hier wie überall eine spätere Sorge sein.

Ich weiß z. B., daß der gesuchte Name einen bestimmten Umlaut enthält, und zwar erkenne ich das natürlich nicht durch einen Vergleich des gegenwärtigen Fragments zum gesuchten Namen, indem ich mich meinend auf diesen nur latent gewußten Namen richte und beziehe. Mein latentes Wissen von diesem Namen begründet mir dann, obwohl latent bleibend, doch bewußt mein Urteil "Dieses Fragment gehört zu ihm".

Wenn man latentes Wissen als Gehirndisposition faßt, erscheint diese Tatsache freilich unverständlich; wie könnte eine solche mir bewußt mein gegenwärtiges Urteil begründen? Es wäre unbillig, auch das noch von dem schon so viel beanspruchten Großhirn zu verlangen!

Vielmehr scheint doch auch dies mein "verborgenes" Wissen in gewisser Weise noch für mich da zu sein, wenn es jetzt bewußt mein Urteil beeinflußt. -

Fallen mir nun beim Besinnen andere Namen ein, oder werden sie mir von außen genannt, so vermag ich sowohl die Verschiedenheit wie die Ähnlichkeit zwischen einem gegenwärtigen und dem gesuchten Namen mit Sicherheit zu beurteilen.

Ich fasse z. B. den einen Namen ins Auge und sage: Er ist ganz verschieden vom gesuchten, gemeinten; betrachte einen andern und urteile: Er ist nicht der gesuchte, aber ist ihm ähnlich. Und zwar kennzeichnen sich diese Urteile als Ausdruck von Erkenntnissen, sie gründen auf dem direkten Erfassen der Beziehung des gegenwärtigen Inhalts zu dem nur latent gewußten, gemeinten. Es gibt also hier ein solches unmittelbares Wahrnehmen der Verschiedenheit, der Nicht-Identität, der Ähnlichkeit zwischen einem gegenwärtigen und einem nicht gegenwärtigen Objekt. Im alleinigen Anblick des gegenwärtigen Namens K konstituiert sich die geistige Wahrnehmung seines "Nicht N Seins" bzw. seines "N ähnlich Seins" als "eingliedrige" Relationswahrnehmung, in der auf den latent gewußten Namen N nur eine Richtung bewußt hinzielt. Die Eingliedrigkeit der Relationswahrnehmung liegt hier umso klarer zutage, als ja das latente Wissen vom gesuchten Namen einstweilig gar nicht aktualisiert werden kann und somit das eine Glied der Relation sicher bei ihrer Erkenntnis nicht dem Bewußtsein aktuell gegenwärtig oder vergegenwärtigt ist. Es genügt also, daß es latent gewußt und aktuell gemeint ist, womit unsere Theorie der Relationserkenntnis eine weitere wertvolle Bestätigung erhält.

Fällt mir nun schließlich beim Besinnen der gesuchte Name ein oder wird er mir genannt, dann erkenne ich ihn, wie ich davon schon vorher überzeugt war, normalerweise sicher wieder als den richtigen, vorher gemeinten und gesuchten. Ich erfasse also die Identität eines gegenwärtigen Anschauungsinhalts mit dem Ziel einer vorhergehenden Meinensintention bzw. mit dem Objekt eines latenten Wissens. Ich erkenne diese Identität nicht etwa direkt, z. B. am Gefühl der Befriedigung, sondern umgekehrt, weil ich seine Identität mit dem gesuchten direkt erfasse, fühle ich mich befriedigt durch sein Finden.

Und nur, weil ich auch vorher von dem doch gesuchten Namen schon heimlich "latent" wußte, habe ich jetzt dem richtigen gegenüber das Erfüllungserlebnis des "Findens".

Gewiß ist dieses bewußte Hineinragen des latenten Wissens in die aktuelle Sphäre eine in vieler Hinsicht geheimnisvolle Tatsache, aber eben doch eine Tatsache, die man nicht im Erklärungseifer übersehen darf, sondern zunächst mal anerkennen muß. Die antike Philosophie hatte dieses Problem übrigens sehr wohl erfaßt und auch den intentionalen Charakter solcher "Erfüllungserlebnisse" wie des "Findens" eines vorher gemeinten nicht verkannt. Man lese nur einmal in AUGUSTINUS' "Bekenntnissen", Buch X", Kap. 18 und 19.

Wie in dieser, so ist vielleicht noch in manch anderer Hinsicht das wirkliche seelische Leben weit reicher, wunderbarer - und darum schöner! -, als sich die Assoziationspsychologie träumen ließ, die mit ihren Erklärungen schon zur Hand war, bevor sie überhaupt den feineren Bau der Phänomene erblickt hatte.

4. Die obige Analyse der Erscheinungen beim Suchen nach einem Namen zeigte uns zunächst isoliert das Phänomen der bewußten "Richtung" auf ein nur latent gewußtes und sodann seine Rolle bei der Erkenntnis der Relation zwischen einem gegenwärtigen und einem nur latent gewußten Inhalt. An einem analysierten besonderen Fall tritt aber gerade das allgemeine Wesen der auf nur ein gegenwärtiges Glied gestützten Relationserkenntnis besonders klar zutage.

Notwendiges Bestandsstück aller Relationswahrnehmung, die sich auf die Anschauung nur eines Gliedes der Relation aufbaut, ist nur eine bewußte aktuelle Richtung auf das andere Glied; nicht aber, daß dieses selbst dem Bewußtsein aktuell gegenwärtig ist.

Und genetische Voraussetzung der Möglichkeit solcher Relationswahrnehmungen ist nur, daß noch ein latentes Wissen von jenem anderen Objekt in uns vorhanden ist.

So erfasse ich die Gleichheit eines jetzt erklingenden Tons mit einem vor einiger Zeit gehörten am jetzigen Ton selbst direkt, ohne daß ich mir notwendig erst wieder den ersten Ton vorstellen und mit dem jetzigen vergleichen müßte. Nur im Gleichheitsbewußtsein selbst ist dann jene "Richtung" auf den ersten Ton immer lebendig, welche mir die Gleichheit eben unmittelbar als Gleichheit mit diesem ersten Ton charakterisiert. Mein Urteil über das Verhältnis beider Töne weiß ich aber gleichwohl als mitbedingt durch mein latent gebliebenes Wissen um den ersten, als mitgestützt auf diesen. Mittels jener "Richtung" auf ihn fungierte der erste Ton wie ein selbst gegenwärtiger.

Ähnlich merke ich, daß die Luft heute wärmer ist als gestern, indem mir dabei nur eine Richtung auf die gestrige Wärme aktuell wird, nicht aber notwendig diese selbst mir voll bewußt wird.

Freilich, nur wenn ich irgendwie von einem A noch weiß, kann ich das Verhältnis eines gegenwärtigen B zu A erkennen und beurteilen, aber es genügt ein latentes Wissen, zu dem nur eine Richtung die Beziehung vermittelt.

Die These von der Bewußtseinsimultaneität der Glieder einer erkannten Relation behauptete also fälschlich, daß beide Glieder als aktuelle Bewußtseinsinhalte uns gleichmäßig im Zustand der Relationswahrnehmung gegenwärtig sein müßten, und die Lehre vom Gedächtnisbild vergröberte diese These zur Forderung eines Nebeneinander von Vergleichsobjekt und Erinnerungsbild des ersten.

Beides wird dem wirklichen Sachverhalt bei dem so häufig sich angesichts nur des einen Gliedes einstellenden unmittelbaren Relationsbewußtsein nicht gerecht; ebensowenig freilich die Ansicht, welche hier das Relationsurteil sich nur auf das letzte Glied und die physiologische Nachwirkung des ersten stützen läßt.

Vielmehr ist auch das erste Glied, ohne selbst gegenwärtig zu werden, als latent gewußtes und aktuell gemeintes am Urteil mitbeteiligt; die Relationswahrnehmung kann sich aufbauen auf die Wahrnehmung des einen Gliedes und die bloße Richtung auf das andere.

Der richtige Sinn, den man der Simultaneitätsthese geben muß, ist also der: Die Relationswahrnehmung schließt ein eine gleichzeitige Beziehung und irgendein gleichzeitiges Wissen um beide Relationsglieder, wobei unter "Wissen" das latente mitbegriffen ist. Nur ein Glied muß notwendig selbst wahrgenommen sein, damit auch das Relationsbewußtsein sich als Wahrnehmung darstellt.

Das - eventuell latente - Wissen um das andere Glied ist ferner zu verstehen als die oben charakterisierte Bewußtheit von ihm als anschaulichem Ganzen und nicht als das abstrakte Wissen von dessen aufgefaßter Beschaffenheit. Wenn ich nur gestützt auf das letztere Wissen Relationen erkenne, so habe ich nicht den Eindruck einer Relationswahrnehmung, die immer eine Beziehung zu den Gliedern als anschaulichen Inhalten einschließt. Wenn ich z. B. noch weiß, daß eine vorher gesehene Linie 8 cm lang war, so erkenne ich zwar sicher, daß eine jetzt gesehene 5 cm lange kürzer ist als jene; aber ich habe dann noch nicht den Eindruck, ihr Kürzersein wahrzunehmen. Den habe ich nur zugleich mit einer Richtung auf jene erste Linie als unmittelbar anschaulichen Inhalt!

Die Bewußtheit von anschaulichen Inhalten ist nun unmittelbar nach der Wahrnehmung noch eine lebendige, um dann in den Zustand der Latenz zu treten, aber einer zunächst noch leicht aktualisierbaren. Dementsprechend sind Relationen zu unmittelbar vorher wahrgenommenen Inhalten - ceteris paribus [unter vergleichbaren Umständen - wp] - die auffälligsten. Man spricht dann wohl davon, daß die Vorstellung des ersten Inhalts bei Eintritt des zweiten noch im "Hintergrund des Bewußtseins" verweilte.

Ein unbedingt wesentliches Erfordernis ist aber nur das Dasein eines latenten Wissens überhaupt, wie viele Fälle einer spontanen Relationswahrnehmung mit einem vor langer Zeit wahrgenommenen ersten Glied beweisen. Natürlich bedarf der tatsächliche Eintritt einer solchen möglichen Relationswahrnehmung immer noch spezieller Ursachen.

Theoretisch scheint ferner klar, daß bestimmte Relationsarten einen ganz bestimmten Umfang des noch erhaltenen Wissens vom ersten Glied der Relation voraussetzen. Für den Eindruck der Gleichheit dieses Klanges mit einem früheren scheint ein bestimmteres, umfangreicheres, nämlich volles latentes Wissen von jenem früheren erfordert, als für den einer unbestimmten Ähnlichkeit; und Verschiedenheit kann ich schon dann behaupten, wenn ich vom ersten Klang nur gerade das noch weiß, was ihn vom zweiten unterscheidet. Wir werden sagen dürfen, daß der tatsächliche Eintritt eines Relationsbewußtseins Aufschluß über den Umfang des latenten Wissens von dem früher wahrgenommenen Objekt gibt, zu dem ein gegenwärtiges bewußt in Relation steht.

5. Machen wir uns schließlich noch den Hergang des Eintretens einer Relationswahrnehmung angesichts eines Objekts klar, und zwar besonders den Fall des spontanen Eintretens.

Unter sonst noch günstigen Umständen kann schon die bloße Tatsache, daß zwischen einem gegenwärtigen und einem früher wahrgenommenen Inhalt eine bestimmte Relation besteht, bedingen, daß sich in seinem Anschauen das Bewußtsein seines Verhältnisses zu jenem früheren einstellt, ohne daß erst eine Richtung auf jenen früheren Inhalt vorangehen müßte.

Eine solche besteht bei absichtlichen Vergleichen allerdings schon vorher; B wird bereits mit beziehender Rücksicht auf A vorsatzgemäß aufgefaßt. Zeigte man mir ferner etwa vor einiger Zeit zwei verschieden große Objekte, und fragt man mich dann jetzt: "Ist das jetzt gezeigte das kleinere oder das größere von den beiden vorher gesehenen?" so gebe ich mir jetzt absichtlich eine innerliche Richtung abwechseln auf das eine und das andere der noch latent gewußten Objekte und erlebe dann eventuell (ohne eigentliche innerliche Vergegenwärtigung) das gegenwärtige als "Erfüllung" der auf das kleinere gerichteten Intention und urteile dementsprechend. In diesen Fällen geht also eine aktuelle Richtung auf das andere Beziehungsglied der Beziehungswahrnehmung voraus.

Aber keineswegs immer und notwendig.

Vielmehr ist häufig das Bewußtsein der Relation eines gegenwärtigen Inhalts zu einem früheren das erste, und erst mit ihm zugleich entsteht eine Richtung auf dieses frühere. Das Ganze unseres latenten Wissens bedingt bereits, daß ein neuer Inhalt sich vom ersten Moment an bloß als Glied einer eigentlich zunächst wahrgenommenen Beziehung darstellt, und zwar einer Beziehung zu einem bestimmten anderen Inhalt aus unserer Vergangenheit. Und erst wenn wir der in dieser Beziehungswahrnehmung gegebenen Richtung auf dieses frühere Glied nachgehen, kommt es zu einer selbständigen Erinnerung an diesen Inhalt.

Der wirkliche Hergang ist dann also gerade der entgegengesetzt zu dem, den die Assoziationspsychologie hier anzunehmen geneigt ist. Nicht reproduziert ein gegenwärtiges B erst aufgrund von Assoziationen ein früheres A und tritt dann im Zusammen beider ein Relationsbewußtsein ein, sondern dieses Relationsbewußtsein kommt zuerst; schon B wird gleich als Glied einer Beziehung apperzipiert; die objektive Beziehung des B zu dem meiner Vergangenheit angehörigen Inhalt A genügt schon zum Eintritt des Bewußtseins dieser Beziehung, ohne daß A vorher aus dem einheitlichen Ganzen meiner Erinnerungswelt, von der ich stets latent weiß, herausgelöst zu werden bräuchte.

HENRI BERGSON hat neuerdings in "Materie und Gedächtnis" diese der Assoziationspsychologie gegenüber tiefere Ansicht verfochten.

Ein schon früher erwähntes Beispiel soll das Gesagte noch verdeutlichen: Ich sehe eine Person und habe sofort das Bewußtsein einer frappanten Ähnlichkeit mit - ja, mit wem noch gleich?

Der Eindruck der Ähnlichkeit war das allererste, und der im Ähnlichkeitserlebnis gespürte innere Ruck macht mich vielleicht erst auf diesen einen unter vielen anderen sonst gleichgültigen Menschen aufmerksam. Die Beziehungswahrnehmung ging also in gewisser Weise sogar der selbständigen Apperzeption des gegenwärtigen Beziehungsgliedes voraus; das andere aber, mit dem ich hier eine Ähnlichkeit erfasse, ist mir überhaupt noch nicht gegenwärtig; jene andere Person ist mir noch ein X, bestimmt nur als das andere Glied dieser Ähnlichkeitsrelation, und nur eine aktuelle Richtung zielt in mir auf dieses X, vielleicht zugleich damit auf ein ganz eigenartig gefärbtes Stück meiner Vergangenheit, deren Gefühlston allein mir gegenwärtig ist. Wohl weiß ich, daß ich latent von jenem X noch weiß, aber aktuell weiß ich von ihm vorerst nicht.

Hier liegt also eine offenbar eingliedrige Relationswahrnehmung vor, die eine Richtung auf das eine Bezugsglied als erst mit ihr zugleich entstandene enthält.

Das Bewußtsein der Ähnlichkeit ist hier keineswegs identisch mit dem Bewußtsein, daß das gesehene Gesicht mir eine Erinnerung an ein anderes früher gesehenes auszulösen im Begriff ist. Das könnte es ja auch aufgrund einer Kontiguitätsbeziehung. Aber ich erfasse hier bewußt die Ähnlichkeit und erkenne, daß sie es ist, aufgrund deren ich mich erinnert fühle!

Im Fortgang des Prozesses mögen dann zunächst andere Personen mir aus der Erinnerung auftauchen, die vielleicht auch der jetzt gesehenen ähnlich sind, die ich abder doch, wieder gestützt auf jenes latente Wissen vom richtigen Beziehungsglied der hier erfaßten Ähnlichkeit, abweise, bis mir endlich die richtige Person ins Bewußtsein kommt zugleich mit dem sicheren Wissen: Das ist die, zu der ich vorher jene eigenartige Ähnlichkeit empfand und an die ich mich erinnert fühlte.

Dieses Beispiel zeigt also, daß die Wirksamkeit des latenten Wissens der Beziehungswahrnehmung bereits vorausgeht und ihren spontanen Eintritt bei der Perzeption eines zu einem vergangenen Inhalt tatsächlich in jener Beziehung stehenden gegenwärtigen Objekts bedingt; es zeigt ferner, daß im Beziehungsbewußtsein nicht notwendig beide Glieder uns als selbst gegenwärtige gegeben zu sein brauchen, sondern daß es zuweilen genügt, wenn darin ein nicht gegenwärtiges Glied nur "gemeint" ist als das latent gewußte.

Ich hoffe, daß die in diesem Kapitel versuchte Analyse der Meinensrichtung auf nicht gegenwärtige Inhalte und des bewußten Einflusses unbewußten Wissens die Dunkelheiten, die der früher gewonnenen Theorie eines "eingliedrigen" Relationsbewußtseins noch anhafteten, geklärt haben.

Ich ging da von dem speziellen Problem des Sukzessivvergleichs aus und fragte: "Wie ist es möglich, angesichts nur des einen Objekts über sein Verhältnis zu einem anderen früher wahrgenommenen, jetzt aber entschwundenen, zu urteilen, ohne es sich vorher anschaulich zu vergegenwärtigen?"

Ich antworte jetzt: "In einem einheitlichen urteilenden Subjekt sind sowohl das latente Wissen vom früher wahrgenommenen Objekt wie auch die jetzige Wahrnehmung gleichzeitig vereinigt; es überbrückt die getrennten Wahrnehmungszeiten. Insofern es eben doch mein Wissen ist, begründet mir auch das latente Wissen meine eigenen Urteile und ihre subjektive Evidenz mit; und sofern sie noch Objekte eines latenten Wissens sind, können auch früher wahrgenommene Inhalte zusammen mit gegenwärtigen die Fundamente einer jetzt wahrgenommenen Relation bilden.

Nur dann also, wenn man unter "Bewußtsein" auch das latente mitversteht, sind stets und notwendig beide Fundamente einer wahrgenommenen Vergleichsrelation dem Bewußtsein gegenwärtig, nur dann fundiert das Relationsbewußtsein auf dem Bewußtsein der Glieder. In jener heimlichen Weise ist aber eben auch das Vergangene ständig dem Bewußtsein "gegenwärtig" und zugleich mit dem aktuell bewußten von der Einheit des Ich umspannt. Dieses einheitliche Ich aber ist es, das urteilt.

Das, was dem Vergleichsurteil in letzter Linie seine subjektive Sicherheit begründet, ist also keineswegs mit dem erschöpft, was dem aktuellen Bewußtseinstatbestand angehört; die Wurzeln seiner Gewißheit tauchen tiefer; und das wird wohl auch für die meisten anderen Urteile gelten.


A N H A N G
47. Ausblick auf die Ontologie
der Relationen

Meine ganze bisherige Untersuchung beschäftigte sich mit den Relationen nur, insofern sie Phänomene, Gegebenheiten fürs Bewußtsein sind, stellte aber gar nicht die Frage, ob den Relationen neben dieser phänomenalen Existenz auch ein reales Sein in der unabhängig vom erkennenden Geist bestehenden objektiven Wirklichkeit zukommt. Meine Zurückhaltung war die notwendige Konsequenz unserer phänomenologischen Betrachtungsrichtung, die scharf und reinlich von der ontologischen Betrachtung des unabhängigen Seins zu sondern ist.

Gleichwohl würde unserer Untersuchung ein Abschluß fehlen, wenn wir nicht jetzt zumindest in Kürze noch einen Blick auf die Relationen werfen würden, insofern sie etwa unabhängig von den Relationserlebnissen bestehende objektive Realitäten sind. Erst dadurch würde auch die Frage, ob den Relationserlebnissen eine eigentümliche Erkenntnisfunktion zukommt, geklärt werden.

Ein näheres Eingehen auf die ontologische Betrachtung der Relationen würde nun freilich ein eigenes Werk erfordern; ich muß mich deshalb im Wesentlichen auf eine Hauptfrage beschränken, und kann auch da meinen Standpunkt mehr andeuten als begründen.

Diese Hauptfrage ist: Haben denn überhaupt Relationen ein objektives Dasein unabhängig von unserem subjektiven Erfassen?

Bekanntlich gilt es einem großen Teil der neueren Philosophie und Psychologie als ausgemacht, daß alle Relationen nur Produkt der beziehehnden Tätigkeit des Geistes sind, vor dieser und ansich aber kein Dasein haben. Eine Hauptstütze dieser Ansicht bildet die verbreitete sensualistische Denkgewöhnung. Eine Relation, etwa die Beziehung der Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen, ist doch nicht etwas, das wie ein drittes Ding sinnlich zwischen ihnen liegt, oder ihnen anhängt; ist nicht etwas, das anzupacken und auf den Tisch zu legen ist; - also existiert sie überhaupt nicht objektiv, nur das Ähnlichkeitserlebnis existiert in uns; die scheinbar zwischen den Dingen bestehende Relation ist erst ein subjektives Erzeugnis, eine Zutat aus uns, von uns in die Wirklichkeit hineinverlegt oder eingefühlt; die objektive Wirklichkeit aber ist relationslos, atomistisch, enthält nur die Fundamente für unser Relationsbewußtsein; erst der Geist umspinnt sie mit dem Relationsgewebe.

Eine weitere Stütze dieser Ansiht von der ausschließlichen Subjektivität der Relationen bietet die ansich richtige Erkenntnis, daß das bewußte Erfassen von Beziehungen nicht ein schlichter (z. B. Seh-)Akt ist, sondern ein auf schlichte Akte erst fundiertes Erlebnis ist, das vielfach - wenn schon, wie wir sahen, lange nicht immer - auch noch eine vorausgehende subjektive Tätigkeit des Vergleichens, der beziehenden Rücktsichtnahme etc. erfordert und voraussetzt. Was aber nicht gleich schlicht wahrgenommen wird, sondern erst in einem komplizierten Erlebnis, nach einer vorbereitenden und vermittelnden Tätigkeit, das, meint man, werde auch nicht selbst als objektiv Vorhandenes wahrgenommen, das sei nicht vorher dagewesen, sondern erst durch diese subjektive Tätigkeit entstanden, in einer Denkhandlung erzeugt, als subjektive Zutat zur Wirklichkeit.

Ich vertrete dem gegenüber den Standpunkt: Es gibt Relationen, denen ein bestimmtes, eigenartiges, reales Sein als Relationen in der unabhängig von unserem Erkennen bestehenden Wirklichkeit zuerkannt werden muß, und die meisten Vergleichsrelationen sind solche Realrelationen. Den Relationserlebnissen kommt also wirklich die Funktion des Erkennens eines schon vorher in der Realität Vorhandenen zu, keineswegs erzeugen sie bloß einen nur in ihnen wirklichen Inhalt.

Den Hauptbeweisgrund meiner Ansicht entnehme ich den Relationserlebnissen selbst: Es gibt Erlebnisse, in denen Relationen mit vollster Evidenz als objektiv vorhanden selbst unmittelbar erfaßt werden.

Daß die Erlebnisse, in denen Relationen erfaßt werden, fundierte sind, daß sie vielfach erst nach vorangehenden subjektiven Tätigkeiten eintreten, beweist nicht im Geringsten, daß dasjenige, was schließlich in ihnen erfaßt wird, erst durch sie erzeugt wird und subjektiv ist, wie das zweite der beiden obigen Gegenargumente.

Die erste und sicherste Gewißheit, daß in gewissen Erlebnissen Relationen als real vorhandene selbst erfaßt werden, kann durch eine nachträgliche Erkenntnis, daß jenen Erlebnissen allerhand subjektive Vermittlungen vorhergehen, nicht wieder zweifelhaft gemacht werden. Es gibt eben komplizierte Vorbereitungen zur Vermittlung des Kontaktes mit einer Wirklichkeit, die dann, nach Herstellung dieses Kontaktes, doch unmittelbar selbst ergriffen wird. Die beziehende Tätigkeit macht nicht die Relationen, sondern macht nur, daß wir die vorhandenen erkennen.

Bei dieser Anerkennung eines objektiven Bestehens von Relationen wird es nun aber den sensualistisch verdorbenen Denken unheimlich zumute. Was sollen denn das für Realitäten sein, die nicht sinnlich zu schauen und zu ergreifen sind? Objektiv vorhandene Relationen machen ihm einen gespenstartigen Eindruck.

Allein, die Schwierigkeiten, die das sensualistische Denken empfindet, dürfen uns nicht abhalten, der Wirklichkeit als einer beziehungsvollen ihr Recht zu lassen, und was das sensualistische Mißverständnis aus dieser Idee macht, fällt nicht ihr zur Last. Ideen von Nicht-Sinnlichem müssen so erfaßt werden, wie sie gemeint sind, und nicht mit den sinnlichen Vorstellungsbildern verwechselt werden, deren unser Geist sich notgedrungen als Hilfsmittel ihres Denkens und Nennens bedient.

Obgleich ich behaupte, daß Relationen ein objektives Dasein haben, so behaupte ich das doch weder von allen urteilend ausgesagten Relationen, noch meine ich, daß sie dieselbe Art des Daseins haben wir andere Realitäten.

Was das erste betrifft, so ist z. B. unter den Vergleichsrelationen in der alten Ontologie stets die Relation der Identität als eine Relation aufgefaßt worden, die ihr ganzes Dasein erst der beziehenden Tätigkeit unseres Denkens verdankt, objektiv also keinerlei Realität hat. Das Ding in seinem Sein ansich ist nur eines, erst indem unser Geist es sich denkend gegenüberstellt, das Ding zu ihm, dem Ding selbst in Beziehung setzt, entspringt die Identität.

Von diesem Zugeständnis, daß gewisse Relationen eine wirklich bloß intentionale Existenz haben, hebt sich die Betonung der Realität der anderen Relationen nur umso mehr ab.

Aber wie ist nun diese Realität der Relationen zu denken? Hier ist auf das Schärfste zu betonen, daß diese Daseinsweise der Relationen eine einzigartige, nur ihnen eigene und aus ihnen zu begreifende ist. Man gerät sofort in die größten Schwierigkeiten, wenn man das verkennt und ihr Dasein nach Art eines andern zu fassen sucht. Ich erinnere hier an die tiefe Lehre, daß das Sein selbst, als ein nicht univoker [eindeutiger - wp], sondern analoger Begriff, nach Art und Grad verschieden ist. LOTZE meinte dasselbe, wenn er den Relationen nicht das Sein des "Existierens", sondern das Sein des "Bestehens" zuweist. Aber auch dieser wahrhaft philosophische Denker gleitet von dieser Lehre um der ihn bedrängenden Schwierigkeiten willen immer wieder ab zu der Ansicht, daß Relationen doch nur ein subjektives Produkt des Denkens sind (vgl. die Logik von LOTZE). Nur dann kann die Behauptung eines objektiven Daseins der Relationen aufrecht erhalten werden, wenn man dieses ihr Sein als ein ihnen ganz eigentümliches faßt. Weder haben sie ein selbständiges Dasein wie Dinge - sie setzen, ebenso wie Eigenschaften, selbständige Dinge bereits voraus -, noch auch das immer noch absolute Dasein der "Eigenschaft an einem Ding". Mißversteht man ihr Dasein so, dann tauchen wieder die Probleme griechischer Dialektiker auf, wie ein und dasselbe Ding zugleich größer und kleiner, gleich und verschieden (auf Verschiedenes bezogen nämlich) sein kann. Relationen haben eben das Dasein des Relativen, es ist ihr Wesensgesetz, zwei Fundamente vorauszusetzen, "zwischen" zwei Dingen zu bestehen. Erfassen wir aber dieses ihr Dasein richtig in seiner Eigenart, so werden, meine ich, auch die Schwierigkeiten, die der Lehre vom objektiven Dasein der Relationen, wie ich nicht verkenne, entgegenstehen, verschwinden und somit die Relationserlebnisse, deren Phänomenologie ich zu geben versuchte, mit vollem Recht als "Erkenntnisse" anerkannt werden können.

LITERATUR: Alfred Brunswig, Das Vergleichen und die Relationserkenntnis, Leipzig und Berlin 1910